Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 19

Sechzehntes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Als Jan in Larina ankam, wurde er von seinem Vater erwartet.

»Du wolltest doch heute nicht nach Saorda fahren, Jan. Ich habe auf dich gewartet.«

»Verzeih, lieber Vater, ich traf Harry, und er bat mich, mitzukommen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen, zumal ich annehmen durfte, dass Nachricht von Hamburg eingetroffen sein könnte. Und ich hatte mich nicht getäuscht.«

Hendrik Werkmeester sah lebhaft auf.

»Ist das Telegramm gekommen?«

Jan hatte sich die beiden Depeschen von Waltraut ausgebeten und legte sie dem Vater vor.

»Es sind zwei, Vater. Hier eines von Waltrauts Pflegebruder mit dem Wort ›Geduld‹. Was das heißen soll, weißt du. Das andere aber hat schlimmeren Inhalt. – Waltraut wird von ihrem Vater sofort nach Hause gerufen. Sie reist am 12. Februar von Colombo ab.«

Der alte Herr sah auf die beiden Schriftstücke hinab, dann strich er sich das dichte, aufbäumende Blondhaar aus der Stirn und sagte ruhig und bestimmt:

»Nicht ohne uns.«

Jan fasste seine Hand.

»Ich hatte das nicht anders erwartet, Vater, nach unserem Gespräch von neulich, und habe es Waltraut auch schon in Aussicht gestellt. Sie ist sehr froh darüber und Frau Dora ebenfalls, die ihre Freundin nicht gern allein reisen lassen wollte.«

Hendrik Werkmeester sah eine Weile sinnend vor sich hin. Ein tiefer Atemzug hob dann seine Brust, und er sagte heiser:

»Setze dich zu mir, mein Sohn, nun, da es fest beschlossen ist, dass wir nach Deutschland reisen, musst du meine Beichte hören, schon damit du verstehst, warum ich so zuversichtlich glaube, dass Georg Roland dir seine Tochter zur Frau gibt, da er damit sein Gelübde, seine Tochter dem Sohne seines Freundes zu vermählen, nicht zu brechen braucht.«

Jan setzte sich dem Vater gegenüber und sah ihn fragend an. Der alte Herr stützte den Kopf in die Hand und beschattete sein Gesicht.

»Wenn ich eine Schuld auf mich geladen habe, mein Sohn, ist es für mich Strafe genug, dass ich sie dir beichten muss. Zuerst höre also, dass ich nicht, wie du glaubst, von Geburt Holländer bin, ich bin ein Deutscher. Erst auf Sumatra erwarb ich das holländische Bürgerrecht, kurz bevor ich deine Mutter heiratete.«

Erstaunt sah Jan ihn an.

»Vater? Du bist ein Deutscher?«

Dieser nickte.

»Ja, Jan, ich war ein Deutscher und hieß Heinrich Werkmeister. Ich habe meinen Namen in das Holländische übersetzt in Hendrik Werkmeester. Und ich will dir nun auch sagen, dass ich vor deiner Mutter in Deutschland schon eine andere Frau hatte, sie ist gestorben, ehe ich Deutschland für immer verließ, einige Monate nachdem sie mir einen Sohn geschenkt hatte. Sie starb an den Folgen dieser Geburt. Mein Sohn aus erster Ehe ist aber noch am Leben, du hast einen Bruder, Jan – und dieser Bruder ist –, Rudolf Werkmeister, Waltrauts Pflegebruder.«

Jan war zusammengezuckt und starrte seinen Vater an, als zweifle er an dessen Verstand.

»Vater! Das kann doch nicht sein, bist du auch klar bei Sinnen?«

Ein mattes Lächeln flog über das Gesicht des alten Herrn, ein Lächeln voll Schmerz und Leid.

»Ich bin ganz klar bei Sinnen, Jan, und was ich sage, ist Wahrheit. Da drüben in meinem Schreibtisch liegt mein Tagebuch, das ich mit großer Gewissenhaftigkeit geführt habe, seit ich Deutschland verließ. Du kannst später nachlesen und nachprüfen, falls ich mich irgendwie nicht mehr genau an Kleinigkeiten erinnern kann. Etwas von Wichtigkeit habe ich bestimmt nicht vergessen. Es sind dreiunddreißig Jahre vergangen, seit ich meine alte Heimat verließ, als ein Betrüger.«

Jan schrak zusammen.

»Nein – nein –, das ist nicht wahr! Du bist kein Betrüger, Vater!«

»Doch, mein Sohn, auf die Gefahr hin, deine Liebe zu verlieren – ich bin ein Betrüger.«

Jan fasste erregt seine Hand mit einem krampfhaften Druck.

»Vater, meine Liebe wird dir immer gehören, und was du auch getan haben magst, ein gemeiner Verbrecher warst du nie, das weiß ich. Es soll dich nichts in meinen Augen herabsetzen. Aber nun musst du mir alles sagen, jetzt kann ich von dir nur noch hören, was dich entschuldigen kann.«

»So höre weiter, Jan. Ich war ein armer Schlucker, mein Vater hatte gerade nur lange genug gelebt, um mir mit großen Opfern den Besuch der Handelsschule zu ermöglichen. Schon auf dem Realgymnasium wurde ich mit Georg Roland bekannt, wir wurden Freunde, treue Freunde, obwohl Georg der Sohn eines reichen Handelsherrn war. Wir besuchten auch gemeinsam die Handelsschule, und Georgs Vater sah unsere Freundschaft gern, weil ich, wie er sagte, Georg positiv beeinflusste. Ich bekam nach Absolvierung der Handelsschule zum Glück gleich eine gute Stellung, in der ich mich emporarbeiten konnte und die Zufriedenheit meiner Chefs erwarb. So ging alles gut, mein Gehalt reichte für meine Bedürfnisse aus, und ich hoffte, weiter voranzukommen. Nach und nach hatte ich eine Vertrauensstellung in dem Geschäft bekommen, in dem ich angestellt war, und ich meinte, mir stehe die ganze Welt offen. Jedes Jahr konnte ich es mir leisten, einige Wochen in die Berge zu gehen – der Bergsport war meine Leidenschaft.«

»Vater, ich denke, du bist nie auf einem Berge gewesen«, sagte Jan noch ganz benommen.

»Ich sagte es dir, um dir nicht erklären zu müssen, warum ich nie mehr in die Berge ging. Höre weiter. Eines Tages lernte ich meine erste Frau kennen, ich habe sie namenlos geliebt, Jan. Sie war arm, ärmer noch als ich, und sehr zart, aber ich liebte sie und wollte sie heiraten. Georg riet mir ab, hielt mir vor, dass ich die besten Partien machen, diese Heirat aber mich ins Verderben stürzen könne. Ich lachte ihn aus, ich fühlte mich so stark, dass ich das Schicksal zu meistern hoffte – und heiratete.

Wie sehr Georg recht behalten sollte, ahnte ich nicht. Damals lachte ich noch über allerlei Sorgen, die ich auf mich nehmen musste, denn ich tat es für die Frau meiner Liebe. Ich schaffte unsern Hausrat auf Abzahlung an, in meinem Liebesglück gar nicht daran denkend, was ich mir damit für einen Klotz ans Bein band. War ich doch bisher mit meinem Gehalt gut ausgekommen; es konnte daher nicht schwer für mich sein, mich etwas einzuschränken. Und ein hübsches Heim wollte ich meiner jungen Frau auch schaffen, so nahm ich denn eine schwere Sorgenlast lachend und unbekümmert auf meine Schultern.

Und ein kurzes Jahr waren wir unsagbar glücklich, obwohl wir uns mehr einschränken mussten, als ich es für möglich gehalten hatte.

Dann fühlte sich meine Frau Mutter und begann schon damals zu kränkeln, sie war eben zu zart. In jener Zeit ging Georg Roland auf eine Weltreise. Unsere Freundschaft war, trotz meiner Heirat, die gleiche geblieben. Als er sah, dass ich mir nicht abraten ließ, kam kein weiteres Wort über meine Ehe über seine Lippen. Wir verabschiedeten uns sehr herzlich und hofften auf ein frohes Wiedersehen. Georg reiste von Ort zu Ort, von Land zu Land. Ich erhielt wohl zuweilen eine Karte von ihm, doch wusste ich nie, wo ihn meine Nachrichten treffen konnten.

Als er fort war, kamen die Sorgen über mich hereingestürzt, dass ich kaum aus und ein wusste. Meine Frau wurde immer leidender und brauchte sorgsame Pflege. Ich konnte sie nicht leiden sehen, ohne alles zu versuchen, ihr diese Leiden erträglich zu machen. Die besten Ärzte schaffte ich ihr herbei, ganz gleich, was für Honorare sie forderten. Ich blieb mit den Abzahlungen für die Möbel im Rückstand. Man drohte mir, die Möbel fortzuholen. Die Ärzte mussten bezahlt werden, eine Pflegerin musste ich für meine Frau engagieren, und schließlich wurde es nötig, sie in ein teures Sanatorium zu schicken. Das alles kostete viel mehr Geld, als ich verdienen konnte, und eine namenlose Angst überfiel mich. Als ich meine Frau in das Sanatorium bringen musste, wusste ich nicht, woher ich das Geld nehmen sollte. Und damals, damals mein Sohn, vergriff ich mich an fremdem Gelde. Es lief mir so viel durch die Finger – sollte ich meine Frau hinsiechen lassen? Sollte ich uns die Möbel fortnehmen lassen? Kurzum, ich unterschlug eine Summe und fälschte die mir anvertrauten Bücher.«

Hendrik Werkmeester beschattete wieder sein Gesicht mit den Händen. Jan aber legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Armer Vater! Du tatest es nicht für dich, nicht aus Leichtsinn, sondern um ein geliebtes Leben zu retten.«

Der alte Herr ließ seine Hand sinken und sah den Sohn mit einem schmerzlichen Ausdruck an.

»Ich danke dir, mein Sohn, du sprichst wie deine gute Mutter, als ich ihr beichtete. Auch sie hat mir verziehen und legte trotzdem ihr Schicksal in meine Hände. Ich muss dir auch sagen, heute noch einmal vor dieselbe Wahl gestellt, würde ich wieder dasselbe tun. Ich war so zermürbt von Angst und Sorge um meine Frau, dass ich nicht lange fragen konnte, ob ich recht oder unrecht tat, als ich mich an fremdem Gelde vergriff, um ihr zu helfen. Es blieb nicht bei dem einen Mal, wieder und wieder nahm ich, was ich für sie brauchte. Ich musste die Fehleintragungen in meinen Büchern vertuschen, und ein Unrecht zog das andere nach sich. Wäre Georg Roland zu Hause gewesen, so hätte er mir helfen können und es wäre nicht zum Schlimmsten gekommen, aber nun, da ich einmal die Bücher gefälscht hatte, wäre auch das ausgeschlossen gewesen.

In jener qualvollen Zeit wurde mir ein Sohn geboren, ich aber konnte mich nicht darüber freuen, denn eine neue Sorge kam zu den alten. Rudolf war ein starkes, kräftiges Kind, er kostete seiner Mutter die letzte Kraft. Sie musste in dem teuren Sanatorium bleiben, ich musste für meinen Sohn eine Pflegerin haben. Die Möbel wurden mir nun doch genommen, und, der Verzweiflung nahe, entwendete ich wieder und wieder eine Summe. Ich wollte die Möbel zurückhaben, meine Frau durfte nicht ahnen, wie es um uns stand. Wenn sie wiederkam, mussten die Möbel wieder in der Wohnung stehen.

Da unterschlug ich eine größere Summe, um endlich alles ordnen zu können. Wie ich das auf die Dauer vertuschen sollte, daran konnte ich damals gar nicht denken – kurzum, ich hatte erst siebentausend Mark so nach und nach unterschlagen, nun unterschlug ich mit einem Mal noch dreizehntausend Mark, sodass ich im Ganzen meiner Firma zwanzigtausend Mark entwendet hatte. Ehe ich noch Schritte tun konnte, um meine Möbel wieder zurückzukaufen, wurde ich ins Sanatorium gerufen – meine Frau lag im Sterben. Eine Operation, die nötig gewesen, war ungünstig verlaufen. Sie starb in meinen Armen, ahnungslos, dass sie sterben musste. Als ich sie zur Ruhe bestattet hatte und herumlief wie vor den Kopf geschlagen, keines klaren Gedankens fähig, kam Georg Roland von seiner Reise zurück. Er erschrak über mein Aussehen, fragte mich sogleich, ob und wie er mir helfen könne – ich schüttelte den Kopf. Helfen konnte mir kein Mensch, sobald eine Revision meiner Bücher stattfinden würde, war ich entlarvt. Nur dass man mir so viel Vertrauen schenkte, hatte das bisher verhütet. Und momentan hatte ich noch reichlich zehntausend Mark von der letzten Unterschlagung, denn die Möbel hatte ich noch nicht zurückbringen lassen, ich wohnte in einer Angestelltenwohnung und mein Sohn war bei einer Pflegerin untergebracht.

Der Gedanke, als Betrüger entlarvt zu werden, marterte mich nun erst, da nicht alle meine Gedanken mehr in Sorge um meine Frau kreisten. Fast betrachtete ich es als ein Glück für sie, dass sie gestorben war, denn was für ein Leben hätte sie erwartet an der Seite eines Betrügers. Ich wusste, über kurz oder lang würde man meinen Betrug entdecken, und ich würde ins Gefängnis wandern. Der Gedanke daran machte mich ganz elend.

Georg Roland merkte mir an, wie zermürbt ich war, er schob es auf die Trauer um meine Frau und machte mir den Vorschlag, auf vierzehn Tage mit ihm in die Berge zu gehen, damit ich mich ablenken und erholen könne, er lud mich ein, sein Gast zu sein. Ich bat mir bis zum nächsten Tag Bedenkzeit aus.

Und in der folgenden Nacht grübelte ich darüber nach, wie ich den Tod suchen oder mich vor dem Gefängnis retten könne! Und da kam mir ein erleuchtender Gedanke, ich musste in den Bergen verunglücken, ich durfte nicht wiederkommen. Aber die Lebensgier war noch immer groß genug in mir, und auch die Einsicht, dass ich nur sühnen konnte, wenn ich am Leben bliebe, aber für tot galt. Ich dachte mir einen Plan aus mit allen Einzelheiten.

Am nächsten Tage sagte ich Georg Roland, dass ich seine Einladung annehmen würde. Ich nahm Urlaub im Geschäft, der mir bereitwillig gegeben wurde. Dass ich nie wiederkehren würde, ahnte niemand. Ich wollte versuchen, ins Ausland zu entkommen, und war froh, dass ich noch die zehntausend Mark besaß. Damit hoffte ich, mir eine neue Existenz gründen und eines Tages das veruntreute Geld zurückzahlen zu können. So hoffte ich besser zu sühnen, als wenn ich mich hätte ins Gefängnis stecken lassen.

Ich war ein sehr geübter Bergsteiger und hatte schon die schwierigsten Touren gemacht, ehe ich heiratete. Einen Reisepass hatte ich mir verschafft, mit dem ich mich hinwenden konnte, wohin ich wollte. Wir reisten, auf meinen Rat, in das Engadin. Dort kannte ich sozusagen Weg und Steg genau, war auf allen Gipfeln gewesen und kannte jeden Abgrund. Ehe ich abreiste, nahm ich heimlich Abschied von meinem Sohn, den ich ja nicht wiedersehen sollte. Obwohl ich damals meinem Sohne grollte, weil er die Mutter das Leben gekostet hatte, riss es doch an meinem Herzen, als ich ihn zum letzten Mal in meinen Armen hielt. Nur die Gewissheit, dass Georg Roland sich seiner annehmen und ihm ein besseres Los bereiten würde, als ich es gekonnt hätte, wenn ich blieb, half mir über diesen Abschied hinweg. Ich hinterließ der Pflegerin Kostgeld für ein halbes Jahr für meinen Sohn und riss mich los. Mein Plan konnte mir auch den Tod bringen, das wusste ich, es war ein kühnes Wagnis. Aber ich sagte mir, gelänge es mir, dann würde es mir auch gelingen, später meine Schuld zu sühnen.

Ich hatte Georg eine Tour vorgeschlagen, die ich genau kannte, er aber nicht. Und so stiegen wir eines Tages zur Höhe hinauf. Ich hatte, wie schon oft, jeden Führer abgelehnt, und Georg wusste, dass ich dann auch keinen Führer brauchen würde. Übrigens hatten wir schon schwierigere Touren gemacht als diese, auch ohne Führer.

Es kam mir zunutze, dass ich gelernt hatte, soweit das möglich ist, das Wetter vorauszuberechnen, und ich wusste schon beim Verlassen der Schutzhütte, in der wir die Nacht verbracht hatten, dass wir in spätestens einer Stunde ein heftiges Schneetreiben haben würden. Das begünstigte meinen Plan sehr.

Es kam alles, wie ich mir ausgerechnet hatte. Nachdem wir uns am Morgen etwa eine Stunde weit von der Hütte entfernt hatten, setzte plötzlich ein so starker Schneesturm mit heftigem Schneegestöber ein, wie ich es selbst nicht erwartet hatte. Man sah kaum die Hand vor den Augen. Mir war das gerade recht. Absichtlich führte ich meinen Freund im Kreise herum, ohne dass er es ahnte, bis ich mit ihm an der Stelle anlangte, zu der ich gelangen wollte. Es war dicht am Rand eines schaurigen Abgrundes. Ich hatte schon eine Weile vorher Georg gestanden, dass wir uns verirrt hätten, und hatte große Müdigkeit vorgetäuscht, obwohl all meine Nerven angespannt waren in der Energie der Verzweiflung. Und nun, am Rande des Abgrundes, überfiel mich scheinbar die Bergkrankheit. Ich ließ mich wie willenlos am Rande des Abgrundes nieder und erklärte, nicht mehr weiterzukönnen. Ich redete Georg zu, mich zu verlassen und sich allein zu retten und empfahl ihm, sich immer rechts zu halten, weil ich wusste, dass er so in einer halben Stunde sicher zur Schutzhütte zurückkommen musste. Dass mich Georg nicht verlassen würde, wusste ich ganz genau, nur wollte ich ihm auf unverfängliche Art verraten, welchen Weg er einzuschlagen habe, wenn er nachher doch allein zurückgehen musste. Ich brauchte ihn noch als Zeugen, dass ich in den Abgrund gestürzt sei, auf dessen Grunde einer jener wilden Wasserfälle brodelte, die in jahrtausendelanger Arbeit das Gestein ausgehöhlt haben und unbedingt alles vernichten, was hier hinunterstürzt. Die Leiche eines Menschen, der hier abstürzen würde, konnte kaum jemals wieder zum Vorschein kommen. Darauf baute ich meinen Plan. Jeder Mensch in jener Gegend wusste, dass der Wasserkessel, in den der Wasserfall hinabstürzte, nichts wieder herausgab.

Ich spielte Georg nun so überzeugend die Bergkrankheit vor, dass er schließlich zu einem Gewaltmittel griff, in seiner Sorge, mich aufzustacheln. Erst versuchte er es noch einmal mit eindringlichem Zureden. Ich reagierte nicht darauf und nahm ihm das Versprechen ab, für meinen Sohn zu sorgen, falls ich nicht aus dieser Gefahr errettet würde. Wusste ich doch wirklich nicht, ob mein Wagnis gelingen würde. Georg gab mir das Versprechen, und ich wusste, er würde es mit allen Konsequenzen halten. Und nun griff er zu dem Gewaltmittel, er schalt mich scheinbar verächtlich einen Feigling.

Ich sprang plötzlich auf und wollte mich, wie ich geplant hatte, dabei scheinbar ausrutschend, in den Abgrund gleiten lassen. Aber Georg hatte mich nicht aus den Augen gelassen und fasste zu, um mich zu halten. Da markierte ich Zorn und stürzte mich auf ihn, sodass er glauben musste, es geschähe, weil er mich einen Feigling genannt hatte, und nun begannen wir am Rande des furchtbaren Abgrundes zu ringen, wobei ich jedoch, der ich über die größeren Kräfte verfügte, so geschickt manövrierte, dass ich an die Seite kam, wo der Abgrund gähnte, der freilich im Schneegestöber kaum zu sehen war. Schließlich stieß ich Georg mit Aufbietung all meiner Kraft so weit wie möglich von dem Abgrund zurück, sodass er in den weichen Schnee fiel und in Sicherheit war, während ich, scheinbar ausgleitend, über den Rand des Abgrunds – in die grausige Tiefe glitt.

Ich höre heute noch den furchtbaren Schrei, den Georg ausstieß, als er mich verschwinden sah, hörte seine qualvollen Rufe um Hilfe, denn ich war nicht weit gestürzt. Wusste ich doch, dass etwa drei bis vier Meter unter dem Rand des Abgrundes ein schmaler Vorsprung war, auf dem ich Halt zu finden hoffte. Ich hatte dies Kunststück einmal infolge einer Wette vollbracht in Gegenwart zweier Führer und mehrerer Touristen. Damals war ich freilich angeseilt, was diesmal nicht der Fall war. Das Kunststück gelang mir aber auch diesmal, als es um mein Leben ging. Es war wirklich ein Spiel um Leben und Tod. Aber ich fand im Abgleiten Halt auf dem schmalen Vorsprung, wo ich kaum stehen konnte. Hart an die etwas schräg nach hinten abfallende Felswand gelehnt, hörte in Georg rufen und schreien, merkte, wie er sich weit über den Rand des Abgrunds beugte und jammervoll meinen Namen rief. Das Schneetreiben verbarg mich vor seinen Augen noch besser. Ich stand nur wenige Meter unter ihm und hörte sein qualvolles Stöhnen. Und dann raffte er sich auf und lief davon, wahrscheinlich, um Hilfe zu holen. Ich hörte seine Hilferufe ferner und ferner klingen und merkte befriedigt aus der Richtung, dass er den Weg eingeschlagen hatte, der ihn zu der Hütte bringen musste.

Über sein Schicksal beruhigt, wartete ich nun auf meinem gefährlichen Platz noch einige Minuten, dann begann ich langsam in der schräg emporsteigenden Felsschrunde wieder hinaufzuklettern. Es war ein schweres Stück Arbeit, denn die Felsschrunde war kaum einen Fuß breit, und minutenlang schwebte ich noch in Lebensgefahr. Von unten hörte ich das Tosen des Wasserfalls, wie er sich hinab in den Wasserkessel stürzte, und hinterher wurde mir etwas flau bei dem Gedanken, dass ich da unten liegen könnte. Ich kam aber in Sicherheit und lief wie ein gehetztes Wild davon, in die entgegengesetzte Seite, der italienischen Grenze zu. Meine Fußspuren im Schnee waren durch den Schneesturm binnen weniger Minuten völlig verweht. Das hat mir geholfen. Meinen Rucksack, das Seil und den Eispickel hatte ich an der Stelle zurückgelassen, wo ich scheinbar abgestürzt war. Ich hatte sorgsam schon vorher alles zu mir gesteckt, was ich zu meiner Flucht brauchte. Nach einer Stunde hörte das Schneetreiben ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte, es war, als habe es der Himmel extra gesandt, um mir zu helfen. Ungehindert kam ich über die italienische Grenze. Dass Georg die Hütte erreicht und dort einen Führer mit zwei englischen Touristen gefunden hatte, beruhigte mich über sein Schicksal. Ich las es nach einigen Tagen in einer deutschen Zeitung, wie man versucht hatte, mich zu retten, und dass es ergebnislos gewesen sei. Meine Leiche habe man leider nicht einmal bergen können. Ich wurde überall als tot gemeldet, die Rettungsaktion, die mein Freund veranstaltet hatte, war ergebnislos verlaufen. Heinrich Werkmeister war tot, war dem Gefängnis entgangen. Sein Vergehen musste als gesühnt angesehen werden.

Ich bin fest überzeugt, dass Georg Roland, sobald er von meiner Firma das durch mich verursachte Defizit erfahren hatte, diese Schuld gedeckt hat; denn so eifrig ich auch alle Zeitungen las, nie wurde etwas von meinen Verfehlungen erwähnt, immer sprach man von mir wie von einem untadeligen Ehrenmann. Und so erfuhr ich auch, dass Georg meinen Sohn an Kindes statt angenommen hatte, und war somit über dessen Schicksal beruhigt. Dass Georg bei seinem Reichtum sich damit keine schwere Sorge aufgeladen hatte, wusste ich, trotzdem habe ich mich immer als sein Schuldner gefühlt.

In Italien hatte ich mir die nötigen Kleider und einen Koffer gekauft, ich war nach Genua gefahren, um hier auf irgendeinem Dampfer in die weite Welt zu fahren. Zufällig lag ein Dampfer bereit, der nach Sumatra und Java fuhr. Das betrachtete ich als einen Wink des Schicksals. Und es hat mich auch gut geführt. Ich bekam im Hause deines Großvaters, der Gefallen an mir fand, eine gute Stellung. Das Übrige weißt du. Nur das weißt du nicht, was ich gelitten habe in dem Bewusstsein meiner Schuld und unter der Sehnsucht nach meinem Sohn. Als ich ganz in Sicherheit war, überfiel sie mich wie ein wildes Tier. Ich hatte nicht geglaubt, dass meine Liebe zu Rudolf so groß war. Mein vereinsamtes Herz klammerte sich an deine Mutter, die mir vom ersten Tag an ihre Liebe geschenkt hatte. Auch ich gewann sie lieb, der Schmerz um meine verstorbene Frau verblasste. Ich wagte nicht, um deine Mutter anzuhalten, als ich aber merkte, dass sie unter meiner Zurückhaltung litt, habe ich ihr eines Tages eine umfassende Beichte abgelegt und sie gefragt, ob sie trotzdem meine Frau werden wollte. Sie verzieh großherzig und schenkte mir mit ihrer Liebe ihr Vertrauen. Nie hat sie es zu bereuen brauchen. Ab und zu konnte ich auf Umwegen Kunde aus der Heimat erhalten und hörte auch, dass mein Sohn im Hause Georg Rolands aufwuchs. Dieser hatte sich verheiratet.

Das Geld, das ich mit mir genommen hatte, legte ich in einer Plantage an, die ich günstig wieder verkaufte. Wie ich dann weiter zu Geld kam und mir, unabhängig von deiner Mutter, ein hübsches Vermögen erwarb, weißt du. Aber die ersten zwanzigtausend Mark, die ich zusammenhatte, legte ich fest auf eine Bank und ließ Zins und Zinseszins anwachsen, Jahr um Jahr. Dieses Geld habe ich testamentarisch Georg Roland vermacht, um meine Schuld zu tilgen. Das übrige von mir erworbene Kapital, mein lieber Jan, habe ich testamentarisch meinem Sohn aus erster Ehe vermacht, der erst nach meinem Tode erfahren sollte, dass sein Vater noch so lange gelebt hat. Im Vorwort zu meinem Tagebuch habe ich die Bitte an dich gerichtet, dieses Buch auch Georg Roland und meinem Sohne Rudolf zur Kenntnisnahme zu übergeben.

Nun hat es sich aber so gefügt, dass ich sozusagen wieder von den Toten auferstehen muss, wenn ich dir, mein Jan, und deinem Bruder Rudolf zu eurem Glück verhelfen will. Und es ist vielleicht gut so. Gesetzlich ist meine Schuld von damals verjährt, und ich will versuchen, auch dafür Vergebung zu erlangen bei den wenigen Menschen, die darum wissen müssen. Seit mir Waltraut erzählt hat, welches Gelübde ihr Vater abgelegt hat, ist mir erst so recht zum Bewusstsein gekommen, dass Georg Roland sich wohl eine Art Schuld an meinem Tode zugemessen hat, denn ein Mann wie er legt ein solches Gelübde nur in schwerer Gewissensnot ab. Und auch deshalb ist es gut, wenn ich wieder auftauche. Georg Roland soll wissen, wie vollkommen schuldlos er daran ist, dass ich scheinbar abstürzte. Und wenn er alles weiß, wird er sich gern damit von seinem Gelübde, seine Tochter meinem andern Sohne zur Frau zu geben, entbinden lassen. So hoffe ich, durch mein Auftauchen und durch meine Beichte bei Lebzeiten alle Konflikte zu lösen. Dass mir dadurch auch noch die unverdiente Gnade zuteilwird, meinen Sohn Rudolf vor meinem Tode wiederzusehen, habe ich nicht mehr gehofft. Das Schicksal geht gnädiger mit mir um, als ich es verdiente. Du aber, mein lieber Jan, wirst mir nicht zürnen, dass ich Rudolf vererbe, was ich mir erworben habe. Du bist reich durch dein mütterliches Erbe und das deines Großvaters. Und nach meinem Tode fallen dir ja auch die Zinsen wieder zu, die deine Mutter mir testamentarisch auf Lebenszeit aussetzte. Ich habe wenig davon verbraucht, und was ich davon ersparte, habe ich dir testamentarisch vermacht, da es von deiner Mutter stammt. Nicht wahr, du zürnst mir nicht und zweifelst nicht an meiner Liebe?«

Jan hatte mit atemloser Aufmerksamkeit zugehört. Nun erhob er sich und schloss den Vater in die Arme.

»Armer Vater, lieber Vater, wie hast du leiden müssen. Ich zürne dir gewiss nicht. Du bist mir immer ein liebevoller Vater gewesen, hast für mich gearbeitet von früh bis spät und hast somit meinen Besitz vermehrt. Damit hast du mich reichlich abgefunden. Ich gönne meinem Bruder neidlos, was du ihm vererben willst und was vielleicht sein Glück begründen wird. Wie freue ich mich zu wissen, dass mein Bruder ein guter, edler Mensch ist. Ich hoffe, dass wir einander lieben können. Aber nun gehst du zu Bett, du wirst nach dieser Aufregung der Ruhe bedürfen. Alles andere besprechen wir morgen. Auch ich muss erst in mir ausklingen lassen, was ich von dir hörte, und mir klar darüber werden, was nun geschehen muss. Gott mag geben, dass deine Beichte nicht umsonst war. Ich kann sehr wohl ermessen, was sie dich gekostet hat. Aber sei versichert, du bist mir dadurch, wenn es möglich wäre, nur noch lieber geworden.«

Hendrik Werkmeester lehnte seinen Kopf aufatmend an die Schulter seines Sohnes.

»Gott lohne es dir, dass du mir deine Liebe nicht entziehst und dass du mir so verständnisvoll zugehört hast. Und nun nimm mein Tagebuch mit dir, du sollst es lesen, damit du weißt, was ich gelitten habe. Wir wollen es mit nach Deutschland nehmen, Georg Roland und Rudolf sollen es ebenfalls lesen, dann brauche ich nichts zu erklären. Das macht es mir leichter. Und nun gute Nacht, mein Sohn!«

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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