Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 22
Neunzehntes Kapitel
ОглавлениеGeorg Roland stand, als Jan eintrat, an seinem Schreibtisch – eine imponierende Erscheinung.
Als Jan sich verneigte, nickte er ihm sehr kurz und unfreundlich zu. Das verriet Jan, dass der alte Herr schon wusste, dass er der Mann sei, dem Waltrauts Liebe gehörte. Er blieb aber ganz ruhig und gelassen.
»Verzeihen Sie, Herr Roland, wenn ich Sie in einer privaten Angelegenheit in Ihrem Kontor aufsuche. Ich denke, wir sind hier am ungestörtesten.«
»Ich wüsste nicht, dass ich mit Ihnen etwas zu besprechen hätte, was keine Störung verträgt«, erwiderte der alte Herr kurz und schroff.
Jan sah ihn mit großen, ernsten Augen an, die Georg Roland aus irgendeinem Grunde etwas beunruhigten.
»Darf ich fragen, Herr Roland, ob Sie ahnen, weshalb ich Sie aufgesucht habe?«
»Ich nehme an, dass sie von Ceylon kommen und dass meine Tochter mit Ihnen in Saorda verkehrt hat. Und da Sie seltsamerweise fast zu gleicher Zeit mit dieser hier eingetroffen zu sein scheinen, gehört für mich nicht viel Scharfsinn dazu zu erraten, was Sie zu mir führt. Aber ich kann Ihnen gleich im Voraus sagen, dass Sie sich umsonst bemüht haben.«
»Vielleicht doch nicht, Herr Roland. Haben Sie die Güte, mir nicht zu zürnen, wenn ich Ihre Zeit etwas länger in Anspruch nehmen muss, als Ihnen jetzt angenehm erscheint, aber ich habe Ihnen viel zu sagen.«
»Wenn das, was Sie mir zu sagen haben, mit meiner Tochter zusammenhängt, können Sie sich und mir Zeit sparen, da es absolut keinen Zweck hat.«
Trotz der fast unhöflichen Kälte und Schroffheit des alten Herrn blieb Jan ruhig und beherrscht, wenn ihm auch die Röte ins Gesicht stieg. Er sagte sich, dass er um jeden Preis ruhig bleiben müsse, um zu seinem Ziele zu gelangen.
»Vorläufig habe ich Ihnen etwas zu sagen, was nicht direkt mit Ihrem Fräulein Tochter zusammenhängt, sondern mit Ihrem ehemaligen Jugendfreund Heinrich Werkmeister.«
Georg Roland zuckte betroffen zusammen.
»Was sagen Sie da? Welchen Namen nennen Sie?«
»Den Namen Heinrich Werkmeister.«
Der alte Herr starrte ihn an, dann sagte er, sich mühsam fassend:
»Sie nennen einen Namen, der mir einst sehr teuer war. Ah, und jetzt verstehe ich. Meine Tochter nannte Ihnen diesen Namen, weil Sie denselben Namen, wenn auch in holländischer Übertragung, führen. Sie glauben, dass Sie mich damit weichmachen können. Aber Sie irren, es wird mich nur härter und unbeugsamer machen. Es war nicht klug von Ihnen, mir diesen Namen, den eines mir teuren Toten, zu nennen.«
Fast mitleidig sah Jan den erregten Mann an.
»Es tut mir leid, dass ich Ihnen einige Aufregung verursachen muss. Ich habe durchaus nicht die Absicht, diesen Namen zu missbrauchen, da er auch mir teuer ist. Dringend bitte ich Sie, sich zu fassen und sich nicht mehr als nötig aufzuregen, denn ich weiß, dass ich Ihnen eine Aufregung bringe. Darf ich weitersprechen?«
Mit einem unsicheren Griff strich sich Georg Roland über die Augen. Er rang nach Fassung und sah Jan forschend und fragend ins Gesicht, in dieses sympathische, jugendliche Gesicht mit den von dunklen Brauen und Wimpern umrahmten grauen Augen – Augen, wie sie Rudolf hat und wie sie auch Heinrich Werkmeister gehabt hatte. Es kam ihm die Einsicht, dass er kein Recht habe, diesen jungen Mann so kurz und unhöflich abzutun.
»Verzeihen Sie, dass ich Ihnen noch keinen Platz anbot, ich bin der begleitenden Umstände halber über Ihren Besuch naturgemäß sehr erregt. Bitte, nehmen Sie Platz.«
Jan setzte sich in den Sessel am Schreibtisch. Einen Moment zögerte er noch. Dann sagte er, so ruhig er konnte:
»Ich bitte nochmals, sich nicht aufzuregen und auf eine große Überraschung gefasst zu sein. Sie müssen an Ihre Gesundheit denken, denn ich muss Ihnen etwas sagen, was Sie sehr erschüttern wird. Ich, ich bin jetzt hier bei Ihnen – im Auftrag von Heinrich Werkmeister –, er ist nicht tot – er lebt.«
Mit einem jähen Ruck, als sei der Blitz vor ihm eingeschlagen, fuhr Georg Roland wieder aus seinem Sessel empor, in den er sich hatte sinken lassen. Aber er fiel gleich wieder, wie aller Kraft beraubt, zurück.
»Das ist nicht wahr! Das kann nicht sein!«, stieß er mit versagender Stimme hervor.
»Doch, Herr Roland, es ist so. Heinrich Werkmeister ist mein Vater.«
Beide Arme auf den Schreibtisch werfend, beugte sich Georg Roland weit vor und starrte Jan ganz verstört ins Gesicht.
»Treiben Sie keinen Scherz mit mir, junger Mann!«, keuchte der alte Herr.
Jan schüttelte den Kopf.
»Mir ist nicht nach Scherzen zumute. Ich bin, obwohl ich mich so leicht nicht vor etwas fürchte, mit einigem Bangen hierhergekommen, um Ihnen diese Eröffnung zu machen, aber es musste sein. Mein Vater hat sich vor dreiunddreißig Jahren, an jenem Tag im Engadin, nicht, wie Sie glauben, zu Tode gestürzt, sondern er hat sich retten können und verließ die Heimat, weil ihn Verfehlungen, die er in bitterster Not und aus Angst um ein geliebtes Leben beging, nur die Wahl ließen, zu sterben oder fern von der Heimat seine Schuld zu sühnen. Denn ins Gefängnis wollte er nicht gehen, lieber wäre er gestorben. Er ging heimlich nach Sumatra, wo er später zum zweiten Male heiratete, meine Mutter. Er wurde holländischer Staatsangehöriger und nannte sich Hendrik Werkmeester. Nach dem Tode meiner Mutter ging er mit mir nach Ceylon, wo wir ebenfalls eine große Besitzung hatten. Schlüters wurden unsere Nachbarn. Und ein Zufall, nein, eine Himmelsfügung, führte uns mit Ihrer Tochter Waltraut zusammen. Von meiner Liebe zu Ihrer Tochter und deren Liebe zu mir will ich jetzt nicht sprechen, nur so viel: Mein Vater sah mein und meines Bruders Rudolf Glück bedroht, weil Sie ein Gelübde abgelegt haben, dass Ihre Tochter nur den Sohn Ihres Freundes Werkmeister heiraten solle. Und da blieb ihm nichts weiter übrig, als von den Toten aufzuerstehen.«
Er hatte so ernst und überzeugend gesprochen, dass Georg Roland ihm glauben musste. Er barg das Gesicht in den Händen, und ein Stöhnen brach aus seiner Brust.
»Und ich quälte mich ein halbes Menschenleben mit dem Bewusstsein, unschuldig schuld an seinem Tode geworden zu sein«, stieß er heiser hervor.
Jetzt wurde Jan sehr blass. Er konnte Georg Rolands Qual nachempfinden.
»Dass Sie sich eine Schuld beimaßen, hat mein Vater erst zu ahnen begonnen, als er von Ihrem Gelübde hörte. Er sagte sich, ein Mann wie Sie könnte ein solches Gelübde nur in einer eingebildeten Gewissensnot abgelegt haben. Ich will jetzt nichts zu meines Vaters Entschuldigung sagen, aber ich will Ihnen sein Tagebuch vorlegen mit der Bitte, es durchzulesen. Er wird dadurch selber zu Ihnen sprechen und kein wirksamerer Verteidiger kann ihn freisprechen als seine Leiden und Schmerzen. Sie werden alles in diesem Buche finden, was Sie wissen müssen und was ich selbst auch erst seit einigen Wochen weiß. Bitte, lesen Sie das Buch durch, und wenn Sie es gelesen haben, geben Sie es meinem Bruder Rudolf, nachdem Sie ihn vorbereitet haben, dass sein Vater noch lebt. Wir alle sollten von seiner Beichte erst nach seinem Tode in Kenntnis gesetzt werden, aber die Liebe zu meinem Bruder und mir, die Sorge um unser Glück, ließ ihn den Mut finden, alles zu bekennen und wieder zu den Lebenden zurückzukehren. Meine Sache will ich heute nicht führen, aber ich bitte Sie, wenn Sie das Buch gelesen und Ihre Fassung wiedererlangt haben, mir Nachricht in die ›Vier Jahreszeiten‹ zu geben, dort wohne ich mit meinem Vater, der nicht, ohne dass Sie vorbereitet wären, vor Sie treten wollte. Alles Weitere besprechen wir, wenn Sie ruhiger geworden sind. Ich bitte Sie nur, meinem Bruder Rudolf, wenn Sie ihm alles mitgeteilt haben, einen brüderlichen Gruß von mir zu bestellen.«
Damit erhob sich Jan, legte das Buch vor Georg Roland hin und verbeugte sich abschiednehmend. Georg Roland machte eine matte Bewegung, als wolle er ihn halten, aber er ließ die Hand sinken und verbarg sein Gesicht wieder in den Händen.
Leise ging Jan hinaus.
Georg Roland saß, von stummem, trockenem Schluchzen erschüttert, da und rang mühsam nach Fassung. Es dauerte lange, bis er sich ermannen, sich aufrichten konnte. Er griff nach dem Tagebuch, öffnete es und las es ohne Unterbrechung bis zu Ende durch. Und je weiter er las, desto ruhiger und friedlicher wurden seine Züge. Er konnte, nachdem er alles gelesen hatte, was die ihm wohlbekannte Handschrift des Freundes aufgezeichnet hatte, diesem nicht zürnen, musste ihm, um seiner Schmerzen und Leiden willen, verzeihen, wie die anderen, die um seine Schuld wussten. Und von seiner Seele löste sich eine schwere Last, die jahrelang darauf geruht hatte. Befreit atmete er auf und gehoben durch das Bewusstsein, nicht schuld zu sein an des Freundes Tode. Und langsam stieg dann eine heiße Freude in ihm auf, dass der Freund noch lebte und in Hamburg weilte, dass er ihn wiedersehen konnte, sobald er wollte. Auch aller Groll auf Jan verflog, auf den Mann, der seiner Tochter Herz gewonnen und den er mit harten, kalten Worten hatte abweisen wollen. Jan war Heinrichs Sohn und Heinrich lebte, das gab allem ein ganz anderes Gesicht.
Den Kopf in die Hand gestützt, saß er noch eine Weile das überdenkend, was der Freund in das Tagebuch geschrieben hatte. Aber dann dachte er an Rudolf und richtete sich schnell auf. Rudolf musste sofort alles wissen, er durfte ihm das nicht eine Minute länger vorenthalten. Durch das Haustelefon rief er Rudolf herbei. Dieser hatte voll Unruhe auf den Ruf gewartet, wusste er doch nicht, wie die Unterredung des Vaters mit Jan Werkmeester abgelaufen war. Schnell eilte er zu dem Vater hinüber und trat erwartungsvoll bei ihm ein, nachdem er Lore nur liebevoll zugenickt hatte.
Der Vater kam ihm entgegen. Er fasste seine Hände mit krampfhaftem Druck.
»Du siehst mich in einer Verfassung, die dir verraten wird, wie erregt ich bin, obwohl ich das Schlimmste schon überstanden habe.«
Betreten sah ihn Rudolf an.
»Ich habe mich gesorgt um dich, Vater. Darf ich wissen, was du mit Jan Werkmeester verhandelt hast?«
Mit großen Augen sah der alte Herr ihn an.
»Etwas, mein Sohn, was auch dich bis in die Tiefen deines Seins erregen wird. Setze dich zu mir und versuche, ruhig zu bleiben, denn ich habe dir etwas zu sagen, was dich maßlos erschüttern wird.«
Rudolf ließ sich nieder und sah den alten Herrn unruhig an.
»Sprich, Vater, wenn du es ertragen hast, werde ich es auch nicht zu schwer empfinden.«
Georg Roland fasste wieder seine Hand.
»Rudolf, ohne alle Umschweife, dein Vater lebt!«
Nun zuckte Rudolf doch zusammen. Er sah den Pflegevater fassungslos an. Dieser berichtete nun, was er wusste, und drückte dann Hendrik Werkmeesters Tagebuch in seine Hände.
»Lies das, mein Junge, und alle ungelösten Fragen, alle Bitterkeit, die vielleicht in dir aufsteigen will, dass dein Vater lebte und sich nicht um dich kümmerte, wird schwinden. Lass dir nur noch sagen, die Verfehlung, die deinen Vater aus der Heimat trieb und ihn bestimmte, sich selbst zu den Toten zu rechnen, kannte ich längst. Ich tilgte seine Schuld und hielt seinen Namen deinetwegen rein. Und nun geh, mein Junge, du musst allein sein, wenn du dies Bekenntnis deines Vaters liest. Und wenn du fertig bist, dann komme zu mir, dann wollen wir weiterreden.«
Rudolf ließ sich das Buch in die Hand drücken, ließ sich von dem Vater willenlos hinausschieben und ging durch das Vorzimmer wie im Traum, blickte nicht einmal zu Lore hinüber, die erschrocken hinter ihm hersah. Sie sah, dass er wie ein Blinder nach der Klinke tastete und aus dem Zimmer ging. Eine heiße Angst stieg in ihr auf. Was war geschehen? Warum hatte Rudolf so verändert, so verstört ausgesehen, ohne ihr auch nur einen Blick zu gönnen? Sie sah schon ihr Glück in Gefahr und presste die Hände wie im Gebet zusammen. Auch dass sie der Chef noch nicht zu sich gerufen hatte, beunruhigte sie. Instinktiv fühlte sie, dass etwas Bedeutungsvolles geschehen war, seit Jan Werkmeester bei dem Chef gewesen war.
In großer Unruhe saß sie und wartete auf irgendetwas Schlimmes, das kommen musste. Ganz mechanisch verrichtete sie ihre Arbeit. Im Zimmer des Chefs rührte sich nichts. Ihre Tischzeit kam, aber sie war nicht imstande, ihren Platz zu verlassen, ihr war, als dürfe das nicht geschehen. Sie wusste auch, dass sie in dieser Angst und Sorge keinen Bissen essen könnte.
Endlich wurde das Vorzimmer wieder geöffnet, und Rudolf trat ein. Er hatte das kleine Buch wieder in den Händen, das er mit sich genommen hatte, und war sehr blass. Seine Augen sahen aus, als habe er brennende Tränen unterdrücken müssen. Er trat zu Lore heran. Angstvoll sah sie zu ihm auf, sie sah, dass seine Augen feucht waren. Liebevoll strich er über ihr Haar.
»Ich habe dich wohl erschreckt, Lore, als ich vorhin so kopflos hier durch das Zimmer ging. Aber ich habe etwas sehr Aufregendes erlebt. Nein, erschrick nicht, es betrifft nicht unsere Liebe, oder doch nur so weit, dass es unsere Sache günstig beeinflussen wird. Ich glaube, Lore, jetzt wird alles gut werden. Habe noch ein Weilchen Geduld, ich kann dir jetzt nichts weiter sagen. Morgen, Lore, morgen spätestens sollst du alles wissen. Bis dahin sei ganz unverzagt.«
Sie nahm seine Hand und legte ihre Wange einen Moment hinein. Dann nickte sie ihm tapfer zu. Er beugte sich schnell herab und küsste sie auf den Mund. Das hatte er noch nie getan. Sie erschrak und sah sich angstvoll um, als könne es einen Zeugen gegeben haben. Schnell ging er dann wieder zu seinem Vater hinein. Dieser hatte in Gedanken versunken an seinem Schreibtisch gesessen. Er erhob sich und sah Rudolf entgegen. Der warf sich in seine Arme.
»Vater, lieber Vater!«
Erschüttert strich der alte Herr über seinen Kopf.
»Ruhe, mein Junge! Und Kopf hoch! Ich danke dir, dass du mich auch jetzt noch Vater nennst.«
»Nie wirst du mir etwas anderes sein, obwohl jetzt mein leiblicher Vater aus dem Reiche der Toten zurückgekehrt ist. Ich habe seine Beichte mit tiefster Erschütterung gelesen und kann ihn nicht verurteilen. Er hat so viel gelitten.«
»Ja, mein Junge, und was er gelitten hat, das soll in unseren Herzen auslöschen, was auch wir gelitten haben. Nun kann ich es dir ja gestehen, Rudolf, ich fühlte mich schuldig an seinem Tode. Du hast ja in seinem Tagebuch gelesen, wie sich die Szene an dem Abgrunde in Wahrheit abgespielt hat. Ich glaubte, dass ich bei unserem Ringen schuld an seinem Absturz gehabt haben könne. Bei meinem Charakter musste ich mir schwere Vorwürfe machen, obwohl ich nur das Beste gewollt hatte. Gott sei Dank, dass dein Vater lebt und dass ich nun weiß, dass ich ganz unschuldig war. In meiner Gewissensnot legte ich das Gelübde ab, dass meine Tochter den Sohn meines Freundes heiraten solle, denn mir war, als hätte ich an dir vieles gutzumachen.«
»Das hast du auch ohnedies hundertfach getan. Und dass du so schwer gelitten hast, tut mir sehr leid. Aber nun das alles von deinem Herzen herunter ist, Vater, nun darf doch Waltraut glücklich werden, sie kann nun, da in dem Falle einen Sohn deines Freundes heiraten, wenn auch ich es nicht bin.«
Forschend sah der alte Herr ihn an.
»Aber du, Rudolf? Du tratest doch nur von der Verlobung zurück, weil Waltraut es wünschte?«
»Nein, Vater, du ließest mich ja nicht weiter zu Worte kommen, sonst hätte ich dir gleich gesagt, dass auch ich inzwischen mein Herz verloren und die Überzeugung gewonnen hatte, dass wir beide, Waltraut und ich, in einer Ehe unglücklich werden müssten.«
Georg Roland sank in einen Sessel.
»Mein Gott, was wäre das für ein Unglück geworden. Und nun löst das Schicksal alles ohne mein Dazutun. Aber jetzt wollen wir deinen Vater nicht länger warten lassen, wir wollen zu ihm gehen.«
Erstaunt sah ihn Rudolf an.
»Du willst eine so weite Reise machen, um ihn zu sehen?«
»Ach, das weißt du ja noch nicht. Er ist hier, in Hamburg, mit deinem Bruder Jan zusammen. Er bat mich, ihm Nachricht in die ›Vier Jahreszeiten‹ zukommen zu lassen.«
Das erschütterte Rudolf von Neuem.
»Mein Vater ist hier? Und einen Bruder habe ich nun auch?«
»Ja, ja, und nun lass uns zu ihnen gehen und sie erlösen aus qualvoller Unruhe.«
Sie machten sich schnell fertig. Georg Roland sagte Lore, dass er heute ihrer Dienste nicht mehr bedürfe, sie möge alte Sachen aufarbeiten. Rudolf konnte Lore nur noch einmal verstohlen zunicken. Dann gingen die beiden Herren davon.
Jan saß unruhig und erregt im Vestibül des Hotels in der Nähe des Telefons, Stunde um Stunde, und wartete auf Nachricht von Georg Roland. Wohl hatte er sich gesagt, dass es lange dauern würde, bis er Nachricht bekäme, denn erst musste Georg Roland das Tagebuch seines Vaters lesen und dann sein Bruder Rudolf. Fast zwei Stunden musste die Lektüre für jeden in Anspruch nehmen; also vor zwei Uhr würde er keinen Bescheid bekommen. Sein Vater befand sich oben in seinem Zimmer in einer unbeschreiblichen Aufregung und wartete ebenfalls. Die Minuten dehnten sich wie Ewigkeiten, auch für ihn.
Endlich aber sah Jan ein Auto vorfahren, und diesem Auto sah er Georg Roland mit einem anderen, jüngeren Herrn entsteigen. Er wusste sogleich, dass es sein Bruder war, hatte er ihn doch schon gestern auf dem Bahnhof gesehen. Seine Brust hob ein tiefer Atemzug. Schnell ging er den beiden Herren entgegen.
»Gottlob, dass Sie kommen! Mein Vater ist schon ganz zermürbt vor Unruhe. Sagen Sie mir, dass Sie ihm Erlösung bringen werden und Ruhe und Frieden?«
»Ja, ja, wir hoffen, ihm das zu bringen«, sagte der alte Herr bewegt.
Jan reichte Rudolf die Hand und sah ihn mit strahlenden Augen an. Mit krampfhaftem Druck umschloss Rudolf die Hand des Bruders, und seine Augen senkten sich in die seinen. Dann sagte Jan zu Georg Roland:
»Ich bitte Sie, gehen sie zuerst allein zu meinem Vater hinauf, Rudolf leistet mir inzwischen Gesellschaft; denn ich denke, wir haben uns auch allerlei zu sagen. Sobald Sie mit meinem Vater sich ausgesprochen haben, lassen Sie uns bitte rufen, ich komme dann mit Rudolf hinauf.«
Er rief den Liftboy herbei und gab ihm Weisung, den Herrn zu dem Zimmer seines Vaters zu führen.
Jan und Rudolf zogen sich in ein stilles Eckchen zurück. Dort saßen sie sich eine Weile schweigend gegenüber und sahen sich in die Augen. Dann reichte Jan dem Bruder die Hand über den Tisch hinweg, der zwischen ihnen stand. Mit einem warmen, ehrlichen Blick sagte er bewegt:
»Wir wollen in Zukunft einander lieben, wie es Brüder tun sollen, Rudolf, ja?«
Dieser ergriff seine Hand mit warmem Druck.
»Es ist mein ehrliches Bestreben, Jan. Wir müssen uns freilich erst zueinanderfinden, aber dass ich dich werde lieben können, erscheint mir sicher, da Waltraut dich liebt.«
Jans Blick leuchtete auf.
»Und ich musste dich schon lieben, als mir Waltraut von dir erzählte. Aber ehe wir weiter miteinander Fühlung nehmen, habe ich eine große Bitte an dich.«
»Ich hoffe, dass ich die erste Bitte meines Bruders erfüllen kann.«
»Du sollst nur mit Waltraut telefonieren und ihr sagen, dass alles gut steht. Sie sorgt sich sicher sehr. Sage ihr, sie möge sich noch ein Weilchen gedulden. Wann geht ihr sonst zu Tisch?«
»Um zwei Uhr.«
»So weit ist es fast jetzt schon, und es dürfte heute erheblich später werden. Sage ihr das und bestelle ihr einen herzlichen Gruß.«
Rudolf lächelte.
»Ich denke, sie wird das lieber von dir selber hören.«
»Geht das? Kann ich mit ihr sprechen?«
»Damit ich deine erste Bitte nicht unerfüllt lasse, werde ich die Verbindung zwischen euch herstellen, dann kannst du ihr alles selber sagen.«
Sie begaben sich in die Telefonzelle. Rudolf läutete Waltraut an. Sie musste erst an den Apparat gerufen werden.
»Hier ist Rudolf, Waltraut!«
»Ach, gottlob, dass ich etwas höre. Sag mir doch, hat Vater Besuch gehabt heute Vormittag?«
»Ja, Waltraut, und dieser Besuch steht hier neben mir und will dich selbst sprechen.«
Er reichte Jan den Hörer.
»Liebling!«
»Ach, Jan, lieber Jan, ich bin fast umgekommen vor Unruhe. Wie steht es?«
»Gut, sehr gut. Ich konnte dir leider nicht früher Bescheid geben, eben erst ist dein Vater mit Rudolf ins Hotel gekommen. Unsere beiden Väter sind oben auf Vaters Zimmer und sprechen sich aus. Rudolf und ich haben gerade erst die ersten Fühler ausgestreckt, um uns recht lieb gewinnen zu können, wie sich das für Brüder gehört.«
»Gott sei Dank, o Gott sei Dank! Ist Vater sehr erregt gewesen?«
»Du kannst dir schon denken, dass es ohne Erregung nicht abgegangen ist, aber ich hoffe, dass alles zu einem versöhnlichen Ende kommt. Sei unbesorgt, es wird alles gut. Das wollte ich dir nur schnell sagen. Und dass du dich nicht sorgen sollst, wenn dein Vater und Rudolf nicht pünktlich zu Tisch kommen. Das werden sie keinesfalls, aber vielleicht triffst du Anordnungen, dass noch ein paar Gäste mitessen können. Ich werde es jedenfalls deinem Vater sehr nahelegen, dass er mich zu Tisch in seinem Hause einlädt.«
»Ach, Jan, so zuversichtlich bist du?«
»Ja, so zuversichtlich bin ich. Natürlich muss ich das deinem Vater begreiflich machen, falls er nicht von selbst daraufkommt, uns einzuladen. Du weißt doch von Saorda aus, was für eine Routine ich habe, mich selbst einzuladen, wenn eine gewisse junge Dame anzutreffen ist. Also Kopf hoch, Liebling, und ein wenig Geduld, es wird alles gut werden.«
»Wie froh bin ich, dass du so zuversichtlich bist, nun will auch ich ganz tapfer und geduldig sein.«
»Brav! Auf Wiedersehen, Liebling!«
»Auf Wiedersehen, Jan!«
Mit einem glücklichen Gesicht wandte sich Jan dem Bruder wieder zu.
»So, Rudolf, nun bin ich neu gestärkt, nun kann meinetwegen der Kampf noch ein Weilchen weitertoben.«
»Ich glaube, dass du das nicht zu fürchten brauchst, Jan.«
Dieser schob seinen Arm unter den des Bruders und führte ihn wieder in die stille Ecke. Hier sprachen sie sich nun vom Herzen, was sie einander zu sagen hatten. Rudolf erzählte dann auch von seiner Liebe zu Lore Lenz und von seinem Plan, für sie und sich ein bescheidenes Heim zu gründen. Da lachte Jan glücklich auf.
»Gar so bescheiden braucht es nicht zu sein, Rudolf, dafür lass Vater sorgen, er brennt darauf, dir etwas Gutes tun zu dürfen.«
Rudolfs Lippen zuckten.
»An den Gedanken, dass ich einen richtigen Vater besitze, werde ich mich erst gewöhnen müssen. Alles kam mir bisher von meinem Pflegevater, und ihn werde ich immer als einen rechten Vater lieben.«
»Das sollst du auch, etwas anderes wäre undankbar. Aber du wirst ihn nicht ärmer machen, wenn du auch deinem Vater ein wenig Liebe schenkst. Ich nehme als selbstverständlich an, dass mein Bruder Gefühlsreichtum genug besitzt, um zwei Väter damit beglücken zu können«, sagte Jan dringlich.
Da lächelte Rudolf, ein gutes, warmes Lächeln.
»Ich habe immer einen Überschuss an Liebe gehabt.«
»Nun also, den kannst du herrlich für Vater verwenden, und wenn dabei auch für mich noch ein gut Teil abfällt, bin ich nicht böse.«
Rudolf drückte ihm die Hand. Und Jan erzählte nun so viel Liebes und Gutes von seinem Vater und suchte ihn Rudolf immer näherzubringen, dass diesem das Herz warm wurde und er eine große Sehnsucht nach seinem Vater in sich aufsteigen fühlte. So tasteten sich die beiden Brüder immer näher zueinander hin und verstanden sich von Minute zu Minute besser. Blut ist dicker als Wasser, und sie fühlten doch, dass dasselbe Blut in ihren Adern floss.