Читать книгу Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III) - Hedwig Courths-Mahler - Страница 12

Neuntes Kapitel

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Inhaltsverzeichnis

Jan Werkmeester war in einem sehr flotten Tempo nach Saorda gefahren und kam dort gerade an, als Schlüters mit ihren Gästen auf der Veranda den Tee einnahmen. Er wurde von Harry und Dora mit übermütigen Neckereien empfangen, die er in gleicher Weise erwiderte. Aber seine Augen flogen dabei heiß und brennend zu Waltraut hinüber, die in einem zarten weißen Spitzenkleid und mit dem goldenen Haar wie eine Märchenprinzessin aussah.

Er war aus dem Auto gesprungen und ins Haus hineingeeilt, um sich zu erfrischen und umzuziehen. Dann erst trat er zu den anderen hinaus und begrüßte sie herzlich.

»Kann ich noch Tee haben, Frau Dora? Mich dürstet.«

»So viel Sie wollen, Jan. Setzen Sie sich, nein, nicht zwischen meinen Vater und mich, den will ich jetzt an meiner Seite haben. Rücken Sie etwas weiter!«

Wie gerne Jan gehorsam war. Er stellte sich einen Sessel zwischen den Justizrat und Waltraut, während Harry zwischen Waltraut und seiner Frau saß.

»Zuerst das Wichtigste, Fräulein Roland – wie gefällt Ihnen Saorda?«, eröffnete er die Unterhaltung mit Waltraut, während seine Blicke ihr Gesicht liebkosten.

Da sie sich mit ihrer Teetasse beschäftigte, sah sie diese Blicke nicht.

»Es ist ganz märchenhaft schön hier, mir ist zumute, als lebte ich im Paradiese«, erwiderte sie ehrlich entzückt. »Das macht mich froh. Nicht wahr, ich habe Ihnen nicht zu viel versprochen?«

»Nein, im Gegenteil, meine Erwartungen sind noch weit übertroffen. Die Sprache ist viel zu arm, um diese paradiesische Schönheit zu schildern.«

»Und wie finden Sie sich mit der Tropenhitze ab?«

»Davon habe ich noch nicht viel gemerkt. Hier oben geht immer ein kühlender Luftzug, und ich finde es hier nicht viel heißer, als es bei uns an heißen Sommertagen ist.«

»Das muss ich ebenfalls sagen«, warf der Justizrat ein, »ich hatte mir die Hitze viel belastender vorgestellt. Und dabei war ich mit meinem Schwiegersohn heute Vormittag unten im Tal auf den Plantagen und habe sogar das Eingeborenendorf besucht.«

»Du vergisst, lieber Vater, dass wir im Auto mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit fuhren. Da ist der Luftzug so stark, dass man immer einige Kühlung hat. Auch in dieser Beziehung ist das Auto ein Segen für die Tropen.«

»Stimmt! Daran hatte ich nicht gedacht. Aber hier oben ist es wirklich ganz erträglich, wenn man im Schatten sitzt. Jedenfalls bin ich nun viel beruhigter über das Schicksal meiner Tochter und werde auch ihre Mutter beruhigen können.«

»Nicht wahr, Herr Justizrat, es ist gewiss kein verbrecherisches Unterfangen, wenn ein Mann eine Europäerin in dies Klima verpflanzt, zumal wenn er ihr alle vier Jahre eine Erholungsreise nach Europa garantieren kann. Das können Sie doch jedem Menschen bezeugen, der Sie danach fragen sollte?«

Diese etwas rätselhaften Worte Jans fielen niemandem auf. Nur Frau Dora spitzte heimlich ein wenig die Ohren. Der Justizrat aber erwiderte unbefangen:

»Ganz gewiss kann ich das bezeugen, und ich bitte in dieser Beziehung meinem Schwiegersohn viel ab. Das Leben hier hat manche Annehmlichkeit, die wir zu Hause nicht kennen, wenn man nicht über ein fürstliches Vermögen verfügen kann. Die Lebensführung hat hier etwas Großartiges. Ihr lebt doch hier wie die kleinen Fürsten! Ach, was rede ich, mancher von unseren Fürsten wäre heutzutage froh, wenn er so leben könnte, wie ihr es tut. Freilich, für euch Männer gibt es hier in den Plantagen harte Arbeit, es fehlt nicht an großem und kleinem Ärger, denn so viel habe ich nun schon herausgefunden, so freundlich und gutartig hier die Arbeiter sind, sehr fleißig sind sie nicht.«

»Man kann es ihnen nicht verargen, Vater, das Klima macht träge und müde«, sagte Harry einsichtsvoll. »In Europa ärgert man sich gleichfalls mit den Leuten, wenn auch wieder auf andere Weise. Und wenn man hier die Arbeiter gut behandelt und sie zu nehmen weiß, ist gut mit ihnen auszukommen. Sie werden zudem so gering bezahlt, dass man mehr Arbeit von ihnen gerechterweise nicht verlangen darf.«

»Wie haben Sie Ihren Herrn Vater angetroffen, Mijnheer Werkmeester?«, fragte Waltraut.

Jan sah sie mit so zärtlich leuchtenden Augen an, dass ihr das Herz bis zum Halse hinauf schlug.

»Er war in der Wiedersehensfreude etwas lebhafter als sonst, wurde aber dann zeitig müde und zog sich leider viel früher zurück, als mir lieb war, weil ich ihm noch allerlei zu sagen gehabt hätte. Aber, hören und staunen Sie, Frau Dora, Vater sagt sich für morgen als Mittagsgast bei Ihnen an.«

»Wirklich? Das ist allerdings ein Ereignis. Sonst muss man ihn doch lange bitten, ehe er einmal herüberkommt.«

Jan sah von der Seite in Waltrauts Gesicht.

»Ich habe ihm so viel von Ihren Gästen erzählt, dass er sie kennenlernen möchte. Wir kommen Ihnen doch nicht ungelegen, Frau Dora, denn selbstverständlich lade ich mich auch mit ein.«

Dora lachte.

»Darauf gebe ich gar keine Antwort. Ungelegen? Seit wann machen Sie so viele Umstände, Jan?«

Er machte ein drolliges Gesicht, wie ein artiger Schuljunge.

»Ich muss doch einen guten, gesitteten Eindruck auf Ihre Gäste machen. Die schaudern sonst doch, wenn ich mich in meiner sonstigen formlosen Art einlade.«

»Fandest du es besonders formell, wie du dich heute eingeladen hast, Jan?«, neckte der Hausherr.

»Warte noch einen Moment, mein Lieber, ich bin noch nicht fertig. Also liebe, hochverehrte Frau Dora, da Sie mir, gastlicher als Ihr Herr Gemahl, so liebenswürdig Ihre Aufnahme für morgen zugesagt haben, erlaube ich mir, Sie zugleich im Namen meines Vaters für den nächsten Sonntag mit Ihren Gästen nach Larina einzuladen, wenn es sein muss, können Sie auch Ihren Herrn Gemahl mitbringen.«

Alle lachten hell auf. Harry gab sich aber nicht geschlagen.

»Ich weiß gar nicht, ob ich so großmütig sein werde, dir unsere Gäste für einen Sonntag abzutreten.«

»Es sind, soviel ich weiß, in der Hauptsache die Gäste deiner Frau, mein Lieber.«

»Hm! Aber ich möchte wissen, was sie in Larina sollen?«

»Sie müssen doch auch unsere Behausung kennenlernen.«

»Finde ich durchaus nicht nötig, Larina unterscheidet sich von Saorda in keiner Weise.«

Jan sah Harry strafend an. Dabei krempelte er die Ärmel seines Blusenhemdes langsam und bedächtig auf.

»Frau Dora – bitte, stellen Sie Ihren Gatten in eine geschützte Ecke, ich möchte hier kein Blutbad anrichten.«

»Aber Jan«, sagte Dora lachend, »mein Mann hat doch nur die Wahrheit gesagt.«

Mit milder Trauer sah Jan Frau Dora an.

»Auch du, Brutus? Soll das vielleicht heißen, dass Sie mit diesem Ungeheuer, das sich Ihr Gatte nennt, gemeinsame Sache machen und uns Ihre Gäste vorenthalten wollen?«

»Nein, mein Lieber, das soll selbstverständlich heißen, dass wir sehr gern mit unseren Gästen kommen werden«, erklärte Harry vergnügt.

»So? Nun, sehr klar hast du dich da nicht ausgedrückt, deine verehrte Frau Gemahlin auch nicht.«

»Was mich aber nicht abhalten wird, Jan, nächsten Sonntag mit Vergnügen mit nach Larina zu kommen, wenn Sie mir versprechen, dass wir, meine Freundin und ich, ein Bad und ein Ankleidezimmer vorfinden werden, damit wir uns nach der staubigen Fahrt erfrischen können.«

»Steht selbstverständlich zur Verfügung, Frau Dora.«

»Lieber Himmel«, sagte der Justizrat lachend, »ein Glück, dass unsere Gäste in Hamburg nicht auch solche Anforderungen an uns stellen, wenn sie uns auf einen Sonntag besuchen.«

Das löste wieder ein lustiges Lachen aus.

»Du musst bedenken, lieber Vater, mit welcher Staubkruste du heute von der Plantagenfahrt heimkamst. Ich habe Jan nur ein wenig geneckt, denn es ist hier selbstverständlich, dass man für seine Gäste immer ein Bad bereithält. Du hast doch vorhin gesehen, Jan verschwand auch zuerst im Badezimmer, und einen Anzug zum Wechseln hält er sich immer hier vorrätig.«

»Nun ja, ländlich – sittlich«, erwiderte der Justizrat neckend. Jan wandte sich aber wieder zu Waltraut, die lachend Zeugin der kleinen, übermütigen Plänkelei gewesen war.

»Lassen Sie sich ja nicht Bange machen vor der Fahrt nach Larina, Fräulein Roland, sonst kommen Sie am Ende nicht mit.«

»Oh, sie kommt schon mit, denn sie ist schon sehr neugierig auf Larina. Sie hat heute Morgen schon per Fernglas einen Besuch drüben abgestattet«, sagte Dora.

Jan wandte sich Waltraut rasch wieder zu und sah sie sehr beglückt an.

»Wirklich? So viel Interesse haben Sie an Larina?«

Waltraut war sehr rot geworden, erwiderte aber scherzend:

»Sie wissen, dass Neugier das Privileg der Frauen ist.«

»Also nur Neugier?«, fragte er leise, nur ihr verständlich, mit dem betrübten Blick, der sie immer ganz hilflos ihm gegenüber machte.

»Es war auch ein wenig Interesse dabei, wie und wo Sie wohnen«, sagte sie leise.

Aber mit großer Unruhe fragte sie sich, wohin das führen sollte, wenn Jan Werkmeester immer mehr Einfluss auf sie gewann. Teils war sie befangen, teils beglückt, wenn sie sich dieses Einflusses bewusst wurde. Dora beobachtete die Freundin und Jan heimlich sehr scharf, ohne es sich anmerken zu lassen, und sie wusste es dann so einzurichten, dass die beiden eine Weile allein blieben. Sie behauptete, ihrem Gatten und ihrem Vater im Zimmer etwas zeigen zu müssen. Waltraut machte instinktiv eine Bewegung, als wolle sie ihr folgen, aber Jan sah sie bittend an, und da sank sie willenlos wieder in ihren Sessel zurück.

»Sie ahnen nicht, wie sehr ich Ihre Gesellschaft vermisst habe, Fräulein Roland. So lange ist es her, dass wir uns nicht allein und ungestört unterhalten konnten.«

Sie zwang sich zu einem schelmischen Lächeln.

»Lassen Sie mich einmal rechnen! Eins, zwei, drei – vier Tage sind es her, seit wir zuletzt an Bord, während der Herr Justizrat sein Mittagsschläfchen hielt, miteinander geplaudert haben.«

»Ganz recht, vier endlos lange Tage. Ihnen scheint das eine sehr kurze Zeit zu sein.«

»Gewiss!«

»Aber mir nicht! Ich habe Ihnen immer so viel zu sagen, was ich Ihnen nur sagen kann, wenn wir allein sind.«

Sie wurde glühend rot.

»Aber bitte, was wir sprechen, kann doch jeder hören.«

»Ja, aber ich kann nicht so, wie ich gern möchte, mit Ihnen reden, wenn andere Leute zuhören. Man muss dann immer gleich einen konventionellen Ton anschlagen, und das ist für mich wie eine Disharmonie. Wenn ich mit Ihnen rede, will ich keinerlei Phrasen machen. Begreifen Sie das nicht?«

»Ja doch, ich begreife es«, sagte sie leise, weil sie unter seinem zwingenden Blick einfach nicht anders konnte.

Schnell fasste er ihre Hand und presste sie an seine Lippen.

»Wenn Sie wüssten, wie glücklich ich bin, dass es Ihnen hier gefällt.«

Sie zwang sich zur Ruhe.

»Aber Sie sind doch nicht verantwortlich dafür.«

»Nein, aber es hätte mich sehr traurig gemacht, wenn es Ihnen nicht gefallen hätte, weil ich sehr gern einmal dafür verantwortlich sein möchte«, sagte er ein wenig unklar.

Aber sie verstand ihn doch, fühlte, was er damit sagen wollte, und gab sich krampfhaft Mühe, ihn nicht zu verstehen.

»Nun, jedenfalls gefällt es mir sehr gut hier«, sagte sie, sich zur Unbefangenheit zwingend.

»Das freut mich sehr. Ich habe meinem Vater viel von Ihnen erzählt.«

»Was gibt es von mir zu erzählen, das Ihren Herrn Vater interessieren könnte?«

»Viel, sehr viel. Zum Beispiel, dass Sie sehr anmutig sind, dass Sie wundervolles Haar haben und Augen so blau wie der Enzian. Und dass Sie sehr stolz sind und sehr unnahbar, trotz aller Freundlichkeit.«

Sie wagte ihn nicht anzusehen.

»Ich meine, Sie könnten sich nicht beklagen über meine Unnahbarkeit.«

»Ich beklage mich auch nicht. Es gefällt mir ja gerade über alles, dass Sie so stolz und zurückhaltend sind. Mein Vater sagte: Die Stolzen und die Unnahbaren, das sind die besten Frauen, sie sind treu und zuverlässig. Das ist auch meine Ansicht. Aber gar zu stolz und unnahbar dürfen Sie nicht sein – mir gegenüber nicht.«

Sie zwang ihre Verlegenheit tapfer nieder.

»Weil wir gut Freund geworden sind, meinen Sie?«, fragte sie scheinbar harmlos.

»Nun ja, auch deswegen.«

»Aber nun wollen wir doch nicht mehr von mir sprechen.«

»Darf ich das nicht?«

»Nein, ich bin mir zu uninteressant.«

»Oh, für mich nicht – im Gegenteil. Aber wovon darf ich jetzt sprechen? Vielleicht von mir?«

Schelmisch sah sie ihn an.

»Wollen Sie damit sagen, dass Sie ein interessanteres Thema sind als ich?«, fragte sie neckend.

Es blitzte in seinen Augen auf.

»Ich wünsche mir brennend, dass ich wenigstens für Sie ein wenig interessant wäre. Ob ich andere Leute interessiere, ist mir gleichgültig. Sagen Sie mir, Fräulein Roland, bin ich für Sie ein ganz klein wenig interessant?«

Dabei sah er sie halb lächelnd, halb ernst mit einem flehenden Blick an. Sie sah hilflos befangen zu der Tür. Er sah diesen hilflosen Blick und gab sich einen Ruck.

»Nein, nein – bitte –, antworten sie mir nicht. Verzeihen Sie mir, dass ich diese Frage stellte, sie war ungeschickt und brachte Sie in eine peinliche Situation. Das sollte ein Mann nie tun einer Frau gegenüber. Bitte, bitte, sehen Sie nicht zu der Tür, als müssten Sie Hilfe herbeirufen. Verzeihen Sie mir.«

Sie hörten die anderen zurückkommen, und Waltraut fand noch immer keine Antwort.

»Sagen Sie mir doch, dass Sie mir verziehen haben«, bettelte er ganz zerknirscht.

»Ja, ja, ich verzeihe Ihnen, Sie haben es doch nicht böse gemeint.«

»O nein, nein, ganz gewiss nicht. Ich danke Ihnen.«

Und er presste seine Lippen auf ihre Hand.

Dann kamen die anderen wieder heraus, aber Frau Dora sah noch den zärtlichen Handkuss.

Die Unterhaltung wurde nun wieder allgemein. Es kam nicht noch einmal zu einem Alleinsein zwischen Jan und Waltraut. Man war sehr lustig und heiter, auch Waltraut stimmte in den übermütigen Neckton mit ein, um ihre Unruhe zu verbergen.

Bis nach dem Abendessen blieb Jan, dann brach er auf. Bald darauf ging man auch in Saorda zu Bett, denn man stand morgens sehr zeitig auf, um die Stunden auszunützen, in denen es noch nicht zu heiß und doch schon hell war.

Waltraut fand aber noch lange keinen Schlaf. Jedes Wort, jeder Blick von Jan Werkmeester zitterte noch in ihrer Seele nach. Ihr Herz pochte laut und schwer, und sie hatte ein Gefühl, als habe sie ein ganz schlechtes Gewissen. Schließlich barg sie das Gesicht in ihrem Arm und horchte auf die Stimme in ihrem Innern: Du liebst ihn, ja, du liebst Jan Werkmeester, liebst ihn so ganz anders, als du je einen Menschen geliebt hast, ganz anders, als du Rudolf liebst. –

Es war, als wolle vor Schreck über diese Erkenntnis ihr Herzschlag aussetzen. Und doch wurde diese Stimme in ihrem Innern immer lauter und dringender. Ja, ja, sie liebte ihn, und diese Liebe hätte sie so unsagbar glücklich machen können, da sie fühlte, dass sie erwidert wurde, wenn sie nicht Rudolfs Braut gewesen wäre.

Wie hatte man sie nur zu dieser Verlobung bereden und wie hatte sie zustimmen können. Das begriff sie jetzt selbst nicht mehr. Und einen festen Entschluss fasste sie in dieser Stunde – sie musste diese Verlobung lösen um jeden Preis, musste sich frei machen von dem Band, das man ihr übergestreift hatte, ohne ihr zu Bewusstsein kommen zu lassen, was man ihr damit aufgebürdet hatte. Zur unerträglichen Fessel musste diese Verbindung für sie werden, wenn sie sich nicht lösen konnte. Sie musste sich lösen, konnte sich nicht opfern, damit der Vater sein Gelübde halten konnte.

Sie richtete sich auf im Bett und starrte im Dunkeln vor sich hin. Was konnte sie tun, um frei zu werden, frei für Jan, frei für das Glück? Wenn sie sich nicht frei machte, das fühlte sie, war es nicht nur um ihr Glück geschehen, sondern auch um das Jans. Und das Letzte war am ausschlaggebendsten für sie.

Und so kam sie zu einem Entschluss – sie wollte an Rudolf schreiben. War sie doch auch sonst in allen großen und kleinen Nöten ihres Lebens vertrauensvoll zu ihm geflüchtet. Immer hatte sie Verständnis bei ihm gefunden, sie würde es auch diesmal finden. Rudolf musste ihr helfen, würde ihr helfen, wenn er sah, dass ihr Glück in Gefahr war. Bald, sehr bald wollte sie an Rudolf schreiben, sobald sie Ruhe und Sammlung dazu fand.

Nun sie diesen Entschluss gefasst hatte, wurde sie etwas ruhiger und schlief endlich ein.

Am nächsten Vormittag musste Waltraut zunächst dem Justizrat Gesellschaft leisten, während Dora Anordnungen zur Bewirtung ihrer Gäste traf und Harry einige wichtige geschäftliche Briefe schreiben musste. Dann trafen die beiden Werkmeesters ein. Waltraut war ein wenig beklommen, als sie Jans Vater entgegentrat, aber irgendetwas in seinem Gesicht fesselte sie sogleich und flößte ihr ein Gefühl des Mitleids ein. Diese Züge sprachen von Leiden und Kämpfen. Dora hatte recht, dieser Mann machte den Eindruck, als schleppe er etwas Schweres mit sich herum.

Sie musste an ihren Vater denken, der auch zuweilen diesen düsteren leidvollen Blick hatte, wenn auch nicht so ausgeprägt, wie es bei Jans Vater der Fall war. Von einem warmen Impuls getrieben, reichte sie ihm mit einem lieben Lächeln die Hand.

»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Mijnheer Werkmeester, Ihr Herr Sohn hat mir so viel Liebes und Gutes von Ihnen erzählt.«

Die grauen Augen Hendrik Werkmeesters schienen sich festzusaugen an Waltrauts Gesicht.

»Die Freude ist gegenseitig, Fräulein Roland, auch mir hat mein Sohn viel Liebes und Schönes von Ihnen berichtet, sodass ich die Zeit nicht erwarten konnte, Sie kennenzulernen.«

Jan sah den Vater an, als wollte er fragen: Habe ich zu viel versprochen?

Aber seines Vaters Augen blieben ernst und düster. Es war jedoch seltsam, im Laufe des Tages suchte Hendrik Werkmeester immer wieder in Waltrauts Nähe zu kommen und sie zu isolieren. Sobald ihm das wieder einmal gelungen war, versuchte er die Rede auf die Heimat der jungen Dame zu bringen.

Nach Tisch, als der Justizrat sich zu seiner üblichen Siesta zurückgezogen hatte, Harry und Jan im Zimmer des Hausherrn eine Zigarre rauchten und Dora ihren Hausfrauenpflichten nachging, saß Hendrik Werkmeester ungestört mit Waltraut allein. Und wieder kam er auf Waltrauts deutsche Heimat zu sprechen. Schließlich fragte er: »Sie haben keine Mutter mehr, wie mir mein Sohn erzählte?«

»Nein, Mijnheer Werkmeester, Mutter starb vor zwei Jahren.«

»Dann haben Sie sich sicher noch mehr an Ihren Vater angeschlossen?«

»So viel es ging. Vater ist sehr von Geschäften in Anspruch genommen.«

»Trotzdem wird es für ihn hart gewesen sein, Sie für einen so langen Urlaub fortzugeben.«

»Ich hoffe, dass er nicht allzu schwer darunter zu leiden hat.«

»Wenn man alt wird, kann man das Alleinsein fast schwerer ertragen als in der Jugend.«

»Oh, Vater ist gottlob nicht allein geblieben.«

»Sie haben noch Geschwister?«

»Rechte Geschwister nicht, aber einen Pflegebruder, den mein Vater, schon lange, ehe ich zur Welt kam, an Kindes statt angenommen hatte. Und Vater hat ihn lieb wie sein eigenes Kind, wie er auch mir lieb wie ein echter Bruder ist.«

»Soso! Sie verstehen sich gut mit ihm und Ihr Vater auch?«

»Oh, mit Rudolf kann man sich nicht anders als gut stellen. Er ist so ein guter und zuverlässiger Mensch. Wenn ich ihn nicht gehabt hätte, wäre ich kaum über den Verlust meiner Mutter hinweggekommen. Er hat meine Mutter auch sehr geliebt und verehrt, weil sie ihn wie eine echte Mutter an ihr Herz genommen hatte. Und da er sie so sehr schmerzlich vermisste, konnte er auch meinen Schmerz verstehen und mir darüber hinweghelfen. Übrigens, da fällt mir ein, er trägt denselben Namen, den auch Sie tragen, nur natürlich ins Deutsche übersetzt. Er heißt Rudolf Werkmeister.«

Der alte Herr hatte seinen Kopf so gestützt, dass sein Gesicht im Schatten war.

»Rudolf – Rudolf Werkmeister?«, fragte er heiser.

Sie sah ihn lächelnd an.

»Ich glaube, Mijnheer Werkmeester, dass Sie sich auch nach einer Ruhestunde sehnen. Bitte, nehmen Sie auf mich keine Rücksicht, ich bleibe allein hier sitzen, bis die anderen Herrschaften zurückkommen. Ziehen Sie sich ruhig zu einem Schläfchen zurück.«

Er ließ die Hand sinken, und sie sah, dass sein Gesicht schlaff und fahl war.

»Nein, nein, lassen Sie uns ruhig noch ein wenig plaudern. Ihre liebe, weiche Stimme tut mir so wohl. Bitte, erzählen Sie noch ein wenig von daheim, wir hören hier doch alle so gern von Europa erzählen.«

Sie sah ihn besorgt an.

»Mir scheint, Sie sehen sehr müde aus.«

»Ich bin es bestimmt nicht. Lassen Sie sich nicht lange bitten. Also Ihr Pflegebruder lebt noch im Hause Ihres Vaters?«

»Gewiss, ich könnte mir auch gar nicht denken, dass er es je verlassen könnte. Vater hängt sehr an ihm. Und er ist auch im Geschäft seine Stütze, er hat Prokura bekommen, und er ist ein sehr tüchtiger Mensch. Mein Vater ist sonst ein sehr ernster, fast harter Mann, am härtesten ist er freilich gegen sich selbst. Er hat ein sehr gutes Herz, aber leider ist er oft sehr düster. Ich glaube, das ist so seit einem sehr tragischen Erlebnis aus seiner Jugendzeit, als er noch nicht verheiratet war.«

Wieder verbarg Hendrik Werkmeester sein Gesicht in der Hand, auf die er es stützte.

»Er hat etwas Tragisches erlebt?«

»Ja, er hatte einen Freund, den er sehr liebte. Das war Rudolfs Vater. Dieser Freund verunglückte bei einer Bergpartie, die er mit meinem Vater zusammen machte. Es war ihm unmöglich, den Freund zu retten, und es gelang ihm nicht einmal, seine Leiche zu bergen. Das bedrückt sein Gemüt noch heute. Mit mir selbst hat er nie darüber gesprochen, aber Mutter und Rudolf haben es mir erzählt, um mir Vaters bedrücktes Wesen zu erklären. Und von dieser Zeit an verstand ich Vater auch viel besser. Es muss sehr quälend sein, wenn man einen lieben Menschen vor seinen Augen in einen Abgrund stürzen sieht, ohne ihn halten zu können. Vater hat dann Rudolf als eigenen Sohn angenommen, denn seine Mutter war schon vorher gestorben, bald nach seiner Geburt. Vater hatte es seinem Freunde versprochen, dass er sich seines Sohnes nach seinem Tode annehmen würde.«

Der alte Herr stieß einen leisen Seufzer aus. Aber er fragte scheinbar ruhig:

»Wie kam es denn, dass Ihr Vater ein solches Versprechen gab? Wusste denn sein Freund, dass er vor ihm sterben würde?«

»Es ist wohl so etwas wie eine Todesahnung gewesen. Vaters Freund erlitt, ehe er abstürzte, einen totalen Nervenzusammenbruch. Er hatte vorher viel Schweres durchgemacht, hatte seine geliebte Frau verloren und mit schweren Sorgen zu kämpfen. Und als sie sich bei jener Bergtour im Schneetreiben verirrt hatten, bekam er einen Anfall von Bergkrankheit. Wissen Sie, was das für eine Krankheit ist?«

»Nur vom Hörensagen, ich war nie auf einem Berg. Aber ich hörte, dass diese Krankheit in einem völligen Versagen der Nerven besteht, die jede Willensregung ausschließt.«

»So ist es, es muss eine furchtbare Krankheit sein. Also Vaters Freund verfiel in diese Krankheit, gerade als sie beide im dichtesten Schneegestöber an einem furchtbaren Abgrund angelangt waren. Der Unglückliche bat meinen Vater, er möge ihn allein lassen und wenigstens sich selbst zu retten suchen, er wolle zurückbleiben und sterben. Und er bat meinen Vater, sich seines Sohnes anzunehmen. Vater redete ihm nun energisch zu, sich aufzuraffen, und da erhob sich schließlich sein Freund, taumelte aber und stürzte in den Abgrund, ehe ihn mein Vater nur halten konnte. Das hat mein armer Vater nie vergessen können, es liegt noch heute wie ein Schatten auf seinem Leben, zumal die Leiche seines Freundes nicht geborgen werden konnte, weil ein schrecklich brodelnder Wasserkessel auf dem Grunde des Abgrunds toste, der alles mit sich fortriss.«

Eine Weile blieb es still. Dann rang sich eine Frage schwer über die Lippen des alten Herrn.

»War denn der Freund Ihres Vaters wert, dass er sich so um ihn grämte? Ich meine, war er denn ein untadeliger Ehrenmann?«

Erstaunt sah Waltraut ihn an.

»Gewiss, sonst hätte ihn mein Vater doch nicht Freund genannt.«

Hendrik Werkmeester ließ jetzt die Hand vom Gesicht sinken, und Waltraut sah erschrocken, wie blass und verfallen er aussah.

»Oh, ich habe Sie mit meiner grauenvollen Erzählung sicher aufgeregt. Sie sehen so bleich und müde aus.«

Er zwang sich zu einem Lächeln.

»Nein, nein, daran liegt es nicht. Aber so ist es, wenn alte Leute es noch mit den Jungen aufnehmen wollen – die Müdigkeit überfällt mich nun mit Gewalt. Bitte, seien Sie mir nicht böse, wenn ich mich auf ein halbes Stündchen zurückziehe. Sie werden ja nicht lange allein bleiben.«

Waltraut sprang auf und stützte ihn, denn sie sah, dass er ein wenig taumelte.

»Ich muss mit Ihnen schelten! Aus Rücksicht für mich haben Sie sich über Gebühr angestrengt. Sie müssen mir nun wenigstens gestatten, Sie auf die andere Schattenseite der Veranda zu einem der Liegestühle zu führen, damit Sie sich erholen können. Ich mache mir Vorwürfe, Sie mit meiner traurigen Geschichte auch noch gequält zu haben.«

»Das dürfen Sie nicht. Es war alles sehr interessant, was Sie mir erzählten, und wenn ich ein halbes Stündchen ruhen kann, bin ich wieder frisch und munter.«

Sie geleitete ihn zu einem Liegestuhl, half ihm sich niederlegen und schob ihm ein Kissen unter den Kopf. Er fasste ihre Hand.

»Liebes, gutes Kind, Sie haben mir wohlgetan. Bitte, verraten Sie meinem Jan nicht, dass ich ein wenig schwach war, er macht sich sonst unnütze Sorge. Alte Leute sollen eben nicht gegen ein Mittagsschläfchen revoltieren wollen.«

Sie nickte ihm lächelnd zu.

»Ich verrate nichts. Aber Sie müssen auch schön schlafen.«

Er schloss gehorsam die Augen, sah ihr aber dann nach, ehe sie um das Haus herum verschwand. Dann schloss er die Augen wieder, aber er schlief nicht. Die Gedanken jagten hinter seiner Stirn wie aufgescheuchte Vögel. Und zuweilen stieß er einen tiefen Seufzer aus, der mehr einem Stöhnen glich.

Waltraud ließ sich wieder in ihrem Sessel nieder, und gleich darauf kamen Jan und Harry heraus und dann auch Dora.

»Sie sind allein, Fräulein Roland? Ich glaubte, mein Vater leiste Ihnen Gesellschaft«, sagte Jan.

»Das hat er auch bis vor einigen Minuten getan, aber dann übermannte ihn die Müdigkeit, und nun hält er drüben auf der anderen Seite der Veranda eine Siesta.«

»Oh, das ist gut, da hält er länger aus, und wir müssen nicht so zeitig aufbrechen. Ich möchte nicht so bald heim.«

Sie plauderten vergnügt zusammen, aber wenn die anderen einmal zu laut wurden, legte Waltraut den Finger an den Mund.

»Ruhe! Der alte Herr wird sonst gestört.«

Jan fasste ihre Hand und küsste sie.

»Wie sorgsam Sie sind! Sie verwöhnen Ihren Herrn Vater gewiss recht sehr.«

»Er lässt sich das leider nicht gefallen.«

Jan lachte.

»Das haben Väter so an sich. Am liebsten wollen sie alles allein tun.«

»Ihr Herr Vater hat auch erst heldenhaft gegen seine Müdigkeit gekämpft, er wollte mich absolut nicht allein lassen.«

Mit einem seltsamen Blick sah Jan sie an.

»Das kann ich ihm nicht verdenken.«

Sie wich errötend seinem Blick aus und dachte wieder: Ich muss an Rudolf schreiben.

Etwa eine Stunde war Hendrik Werkmeester nicht in Erscheinung getreten, als er dann wieder zu den anderen trat, fast zu gleicher Zeit mit dem Justizrat, der ausgeschlafen und vergnügt aussah und das Muster eines Kissens auf der Wange hatte, wurde der Tee serviert. Hendrik Werkmeester schien wieder ruhig und frisch zu sein, aber seine Augen ruhten immer wieder wie sinnend auf Waltraut. Er blieb auch noch auf Doras dringende Einladung zum Abendessen, aber gleich danach verabschiedete er sich von Schlüters und ihren Gästen und lud sie nochmals dringend ein, nächsten Sonntag in Larina zu verbringen.

Jan aber meinte lachend:

»Ich warte aber nicht bis Sonntag mit einem Wiedersehen, ich komme viel früher wieder.«

»Das ist doch selbstverständlich, Jan! Ich habe neue Platten für das Grammophon, wir wollen tanzen, wenn Sie wiederkommen«, sagte Dora bestimmt.

»Famos! Ich halte mit. Also auf Wiedersehen, spätestens übermorgen.«

Dabei sah er aber nur Waltraut an.

Als er mit seinem Vater davonfuhr, blieb es lange Zeit still zwischen den beiden Herren. Endlich sagte Jan:

»Nun, Vater, wie gefällt dir Waltraut Roland?«

Der Vater fasste seine Hand mit einem fast krampfhaften Druck.

»Die halte dir fest, mein Junge, und wenn es eine Welt voll Hindernissen zwischen euch geben sollte. Die halte dir fest!«

Jan gab den Händedruck zurück. Seine Augen leuchteten.

»Ja, Vater, mit aller Kraft meines Herzens, wenn sie sich halten lassen will. Sie gefällt dir also?«

»Gefallen? Was ist das für ein armes Wort. Sie hat mein Herz gelabt, hat mir wohlgetan. Aber lass dir Zeit, überstürze nichts, solche Mädchen vergeben sich nicht leicht, auch nicht, wenn sie lieben. Und ich möchte, na einerlei, lass ihr Zeit und mir auch.«

Und er drückte seinem Sohne wieder die Hand wie im Krampf.

Dieser war kleine Wunderlichkeiten bei seinem Vater gewöhnt und fand nichts Auffallendes in seinen Worten. Aber er freute sich innig, dass sein Vater Waltraut Roland so hoch einschätzte. Das war ihm lieb, wenn er sich auch durch das Gegenteil nicht hätte abhalten lassen, Waltraut zu lieben.

Ja, er liebte sie, liebte sie mit der ganzen Kraft seiner Jugend, mit der ganzen Innigkeit seines Herzens. Er wusste, dass das Schicksal ihn aufgespart hatte für dieses Mädchen, für diese eine Einzige, die ihm Ergänzung seines Ichs sein konnte. Und er war gar nicht verzagt, dass Waltraut ihn vielleicht nicht wiederlieben könne. Seine Liebe war so stark, dass er glaubte, Berge damit versetzen zu können. Er musste Waltraut damit an seine Seite zwingen, das war für ihn Gewissheit. Nur dass ihm der Vater zuredete zu warten, das lag ihm nicht, Geduld war seine Stärke nicht.

Herz-Sammelband: Hedwig Courths-Mahler Liebesromane (Teil III)

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