Читать книгу Genderlinguistik - Helga Kotthoff - Страница 28
Оглавление2.4 Sozial-konstruktivistische und radikalkonstruktivistische Ansätze
Wir haben uns oben in der rekonstruktiven Sozial- und Kommunikationsforschung verortet. Diese arbeitet empirisch mit bestimmten Aufzeichnungsmethoden von Diskursen. Goffman hat die Institutionalisierung von Gender beispielsweise in der Werbung und in der Geschlechteretikette aufgezeigt. Wir haben oben viele Studien rekapituliert, die in dieser Tradition kontextuelle Arrangements der Geschlechter weiter ausgeleuchtet haben. Immer stehen in sozio- und diskurslinguistischen Studien überindividuelle Verankerungsprozesse genderisierter Zuschreibungen und Handlungsmöglichkeiten im Zentrum der Analyse.
Im universitären Fach der Gender Studies werden demgegenüber oft aus der Philosophie kommende Reflexionen zu Gender fokussiert.
2.4.1 Judith Butlers Diskursidealismus
Da die Schriften der Philosophin Judith Butler sehr einflussreich sind, seien sie hier kurz gestreift. Butler hatte zunächst mit dem „Unbehagen der Geschlechter“ (1991) eine Theorie entwickelt, nach der die Geschlechter sich hauptsächlich durch den Diskurs erst konstituieren. Auch der Körper ist in ihrer Theorie wesentlich ein Konstrukt, das über „Sprechakte“ hergestellt wird. Sie greift auf John L. Austins Theorie der performativen Sprechakte und Jacques Derridas Konzepte der Iterierbarkeit von „différance“ zurück, um behaupten zu können, auch das biologische Geschlecht sei „herstellt“. Völlig unklar bleibt in ihrem Werk, wie metaphorisch dieses „Herstellen“ eigentlich gemeint ist. Zunächst einmal ist der Körper mit all seinen Prozessen des Wachsens, Alterns usw. gegeben, die selbstverständlich kulturell mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen werden. Aber wie weit geht dieses Aufladen in den Körper hinein? Wie und warum stellen Menschen körperliche Differenzen aus, die in der heutigen Mode ähnlich zelebriert werden wie vor 50 Jahren? Da finden wir keine Beschreibungssprache, die wir für die Rekonstruktion von Geschlechterverhältnissen nutzen können.
Auch in „Körper von Gewicht“ (1995) betreibt Butler eine Art von Diskursidealismus, dem wir uns nicht anschließen. Da auch die deutschen Gender Studies von der Butler-Rezeption sehr stark geprägt werden, kommen wir um eine Stellungnahme dazu nicht herum. Sie beschreibt sich selbst generierende Normen, die Gender prägen und auch tief in den biologischen Bereich eingreifen. Für die Auseinandersetzung damit, wie genau kulturelle Normen, die sich nach Butler als „Sprechakte“ im Sinne Austins äußern, auf Körperlichkeit einwirken, tritt sie nicht in den notwendigen Austausch mit Medizin und Biologie, sondern setzt sich mit der griechischen Mythologie auseinander und verbleibt somit in der Textwelt (dazu kritisch z.B. Meyer 2015; Vukadinovič 2017). Platon entwickle im „Timaios“ die Vorstellung des „Aufnehmenden“ (S. 82), das als „Chora“ beschrieben wird. Indem dieses aufnehmende Prinzip als „Amme“, die alle Körper aufnimmt, weiblich verfasst sei, komme ihm der Status von etwas Ausgeschlossenem, Verworfenem zu. So lässt sich allerdings kein Bezug zur realen Leiblichkeit herstellen. Des Weiteren besteht das Buch sehr stark aus einer Auseinandersetzung mit den Schriften des Psychoanalytikers Jacques Lacan, für den der Phallus eine alles signifizierende Kraft besitzt. So bleiben die verschiedenen Darlegungen im Buch sehr empiriefern. Nirgends ist die Rede von Kindergärten oder Sportclubs, in denen reale Körper aufeinander treffen und ein Mit- oder Gegeneinander sprachlich und multimodal aushandeln. Gegen die Macht der „iterativ“ hergestellten Normalität stellt Butler die Subversion von „queerness“ und Transvestitenbällen. Radikal ist dieser KonstruktivismusKonstruktivismus nur innerhalb von Traditionen philosophischen Denkens (Hall 2003), aber er tritt mit keiner Empirie in Kontakt, sei diese ökonomisch, sozial, sprachlich oder sonstwie kulturell.
Butler gilt als wichtigste Theoretikerin des diskursanalytischen Dekonstruktivismus. Dieser beschäftigt sich theorieimmanent mit Identitäten oder Identifizierungen und Machtverhältnissen. Herrschafts- und Machtverhältnisse, die „Zwangsheterosexualität“ und Formen der Kleinfamilie werden in psychoanalytischen Theorien und literarischen Werken „dekonstruiert“. Die Entselbstverständlichung von Körper, Zweigeschlechtlichkeit und Heterosexualität als Naturtatsachen geschieht in einer philosophischen Auseinandersetzung.
Entsprechend versuchen heute die von Butlers Schriften sehr stark geprägten „queer studies“ große Theorieentwürfe, deren empirische Anbindung aber fast immer schwach ausfällt (dazu kritisch auch Degele 2008). Unser Buch steht hingegen in der sozialwissenschaftlichen Tradition von gegenstandsorientierter Theoriebildung (Strauss/Corbin 1996/1999). Theorieentwicklung bleibt an die empirische Forschung rückgebunden. Die linguistische Genderforschung rekonstruiert zuerst einen Phänomenbereich, sei es derjenige der Jugendkommunikation, der Personenreferenz oder der Namen. Von empirischen Befunden ausgehend rekonstruiert sie, welche sozialstrukturellen Kategorien in dem Bereich für Differenzen verantwortlich sein könnten. Die Theoriediskussion erfolgt möglichst auf der Basis empirischen Materials.
Auch in „Hass spricht“ finden wir bei Butler (2001) keine Korpora, in denen beispielsweise Kontexte und Wirkungen von Hassäußerungen rekonstruiert würden. Sie greift erneut prominent auf die von John L. Austin ausgearbeitete Theorie der Sprechakte (1972) zurück, auch auf seine Unterscheidung zwischen konstativen und performativen Sprechakten.
Konstative Äußerungen sind Behauptungen und Aussagen, die als wahr oder falsch bewertet werden können, denen also Wahrheitswerte zugeordnet werden können. Demgegenüber beschreibt Austin Sprechakte als performativ, wenn mit ihnen Handlungen vollzogen werden (z.B. Austin 1972, 27). Ein Beispiel zur Illustration ist der Akt der Eröffnung der Olympischen Spiele: Eine dazu befugte Person einer spezifischen Institution (beispielsweise des gastgebenden Staates) vollzieht mit bestimmten Worten – „Hiermit erkläre ich die Olympischen Spiele in … für eröffnet.“ – eine Handlung, die den Status der Situation verändert. Die Wirkung des performativen Sprechaktes ist bei diesem Beispiel besonders deutlich, da die Olympischen Spiele genau an dem Moment, in dem diese Worte ausgesprochen werden, beginnen (Müller 2011). Zu beachten ist, dass hier die Befugnis der beteiligten Personen, der institutionelle Rahmen sowie Konventionen eine entscheidende Rolle spielen: Zwar kann jede/r eine solche Aussage vollziehen, aber die spezifische Performativität tritt nur in bestimmten Konstellationen und Kontexten auf, ansonsten misslingt der Sprechakt (Bourdieu 1979). So lässt sich festhalten: Konstative Sprechakte können wahr oder falsch sein, performative Sprechakte gelingen oder misslingen, und wenn sie gelingen, werden mit ihnen sozial bedeutsame Handlungen vollzogen.
Butler schreibt den konstativen und performativen Sprechakten große Macht zu, sowohl zur Bestätigung gesellschaftlicher Ordnungen als auch zu ihrer Unterlaufung. Beschimpfungen könnten Subjekte entwerten. Subjekte könnten die derogativen Ausdrücke aber auch umdrehen und sie sich unter umgekehrtem Vorzeichen neu aneignen (wie es etwa geschieht, wenn sich mehrsprachige Jugendliche im deutschen Sprachraum Kanacken nennen). Wir stimmen dem zu, sind allerdings bei der Zuschreibung revolutionärer Potentiale an dergleichen kommunikative PraktikenKommunikative Praktik weniger enthusiastisch (Kotthoff et al. 2014, 94f.). Wieder bleibt Butlers Auseinandersetzung mit der Macht isolierter Sprechakte theorieimmanent. Diese Macht scheint tatsächlich einerseits umfassend gedacht zu sein: Sprache macht das Subjekt, macht Gesellschaft. Andrerseits gerät die Materialisierung von Macht kaum in den Blick.
Interaktionslinguist(inn)en legen ihren Studien selten Austins Werk zugrunde, weil es im Unterschied zu demjenigen von Goffman und Garfinkel und vor allem deren Weiterentwicklungen in Linguistik und Soziologie bei ihm nur um isolierte Äußerungen geht, um einzelne Sprechakte. In Wirklichkeit finden Sprechakte aber Eingang in Dialoge, in denen auf sie reagiert wird. Die linguistische Geschlechterforschung tut gut daran, sich in dialogische Traditionen einzureihen, weil hier auch die überzeugenderen Zugänge zur Empirie von Diskursen und Interaktionen zu finden sind (Linell 1998). In Kap. 13 werden wir sehen, dass Reaktionen Sprechhandlungen mitunter überhaupt erst konstituieren. Auch vermag Sprache nicht das Subjekt herzustellen, steht sie doch vom ersten Tag an auch im Kontext außersprachlicher Handlungen und Gegebenheiten. Ob ein Kind beispielsweise in Armut oder Reichtum aufwächst, hängt mit außersprachlichen Gegebenheiten zusammen und lässt sich sprachlich-diskursiv kaum umkonditionieren.
2.4.2 Sind sexuelle Präferenzen für Identitäten immer zentral?
Different fällt auch aus, wie die Butler’schen „queer studies“ und die sozialkonstruktivistische Genderforschung Identität konzipieren. Butler und Lacan setzen die geschlechtliche Identität des Menschen als zentral an. Innerhalb der GeschlechtsidentitätGeschlechtsidentität ist wiederum die Dimension der sexuellen Präferenz kontextübergreifend ausschlaggebend. Selten geht es darum, wie sich beispielsweise Berufe oder Tätigkeitsfelder in Identitäten einschreiben (ein nicht zu unterschätzender Faktor). Immer liefert das Homo- oder Heterosexuellsein scheinbar den entscheidenden Hebel zum Handeln in der Welt.
Soziale Identität wird von den meisten Sozialwissenschaftler/innen als der Teil des Selbst gesehen, der innerhalb einer soziokulturellen Lebenswelt ausgearbeitet werden kann. Persönliche Identität bezieht sich im Unterschied dazu auf die Einzigartigkeit des Individuums innerhalb einer individuellen Lebensgeschichte und ist somit so etwas wie die Kontinuität des Ich. Krappmann (1978, 39) fasst diesen Unterschied so zusammen:
Obviously, identity is both simultaneously: the anticipated expectations of the other and the individual’s own answers. G.H. Mead took this dual aspect of identity into account in his concept of the self, which contains a “me” that is the adopted attitudes of the other, and an “I”, the individual’s answer to the expectations of the others.
Obwohl viele AutorInnen, so auch Butler, von „Identität“ im Singular sprechen, hat sich in der Soziolinguistik längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Menschen in der Regel unterschiedliche Identitäten aufführen und ihre Einzigartigartigkeit eher im speziellen Verschnitt dieser Aufführungen liegt.
Wir alle leben im Alltag mehrere Rollen (als Tochter, Mitglied eines Sportclubs etc.) und sind mit unterschiedlichen sozialen Gruppen verbunden. Individuen konstruieren ihre sozialen Identitäten auf der Basis verschiedener Parameter, darunter Nationalität, Geschlecht, Alter, Hobby, Beruf etc. (Duszak 2002, 2). Das Konzept der sozialen Identität muss deshalb als vielschichtig und sehr dynamisch angesehen werden. Mehrfachmitgliedschaften sind der Normalfall.