Читать книгу Genderlinguistik - Helga Kotthoff - Страница 32
3.1.1 Die StimmgrundfrequenzStimmgrundfrequenz
ОглавлениеUm SkeptikerInnen gleich entgegenzutreten: Natürlich(erweise) haben Männer – kehlkopf- und stimmbandlängenbedingt – im Schnitt eine etwas tiefere sog. Stimmgrundfrequenz, d.h. ihr Spektrum oszilliert um ca. 100 Hz, das der Frauen um ca. 170 Hz (das heißt, die Glottis oder Stimmritze öffnet und schließt sich ca. 100- bzw. 170-mal pro Sekunde; zu Details der StimmeStimme s. Titze 1989; Moosmüller 2002). Diese Spektren variieren jedoch individuell stark, was zu Tonhöhenüberschneidungen zwischen den Geschlechtern führt: Es gibt viele Männer, deren Stimme natürlicherweise im unteren ‚weiblichen‘ Spektrum liegt bzw. umgekehrt sprechen viele Frauen im oberen ‚männlichen‘ Spektrum (ein oft vermuteter Bezug zwischen Stimme und Körpergröße besteht nicht). Außerdem praktiziert jede Person variierende Höhenspektren, womit auch gespielt werden kann (Bitten bringt man z.B. durch höhere Stimmen vor). So lösen allein schon verschiedene Gegenüber höhere (gegenüber Kindern, Tieren) oder tiefere Stimmlagen aus. Wie stark der natürliche geschlechtliche Überschneidungsbereich ist (nämlich ca. die Hälfte des weiblichen und männlichen Stimmspektrums), zeigen präzise Graddol/Swann (1989, 21). Diese Überlappung ist mit der Körpergröße vergleichbar: Auch wenn (in Deutschland) Männer im Schnitt ca. 12 cm größer sind als Frauen, gibt es viele Männer, die kleiner sind als Frauen bzw. umgekehrt. Dass jedoch in die allermeisten (Hetero-)Paare eine persistente einseitige Größen- und auch Altersdifferenz eingebaut ist, hat ausschließlich mit Gender zu tun (Hirschauer 1994; 2014). Würden Körpergröße und Altersabstand nicht zur Herstellung der Geschlechterdifferenz genutzt, gäbe es viel mehr Paare, bei denen die Frau größer und/oder älter ist als der Mann.
Eine potentielle stimmliche Verwechselbarkeit wird jedoch gebannt, indem an die StimmeStimme weitere, kulturell induzierte Marker geheftet werden: Frauen sprechen sehr häufig höher als natürlicherweise und Männer tiefer. Leider gibt es nicht viele Untersuchungen dazu, wie stark Männer ihre StimmeStimme gestalten: Sprechen sie ebenso viel tiefer wie Frauen höher? Slembek (1995) bemerkt zumindest für die Stimmen in den Medien, dass Männer (und besonders Nachrichtensprecher) ihren natürlichen Tenor absenken: „Der Tenor reicht mit seinem Sprechstimmumfang weit in die Stimmregister von Frauen, dieser Stimmtyp ist in den Medien kaum zu hören“ (111). Auch Graddol/Swann (1989) weisen darauf hin:
[M]en seem to be under some kind of social or psychological pressure to make their voices sound as different as possible from women (and, perhaps, vice versa). In fact it is not immediately obvious whether one sex plays a greater role than the other (22).
In unserer Gesellschaft werden Männer mit ‚weiblichen‘ Merkmalen stärker stigmatisiert als Frauen mit ‚männlichen‘ (man nehme für diese Asymmetrie nur das Beispiel von Rock und Hose). Dies liegt daran, dass beide Geschlechter sich primär und vorrangig (negativ) definieren dadurch, nicht das andere Geschlecht zu sein. Dies gilt noch mehr für Männer als Inhaber des privilegierten Geschlechts. Deshalb dürften sie ein vitaleres Interesse daran haben, ihre StimmenStimme vor potentieller Verwechslung zu schützen. Hinzu kommt, dass Frauen, die ernst genommen werden möchten, ihre Stimmen absenken. Interessant wäre zu wissen, ob hohe Männerstimmen (per se – denn es gibt auch Männer ohne Stimmbruch) stigmatisierender sind (oder gar pathologisiert werden) als tiefe Frauenstimmen – oder ob eine Gesellschaft dem gar keine oder immer weniger Bedeutung beimisst. Frauenstimmen werden in aller Regel vergeschlechtlicht (gynisiert), indem sie verkindlichtVerkindlichung werden (Goffman 1979, 1981; Kotthoff 2001). Das geht über die bloße Tonhöhe weit hinaus.
Untersuchungen aus den 1990er Jahren haben erwiesen, dass Japanerinnen eine StimmgrundfrequenzStimmgrundfrequenz von 225 Hz, Spanierinnen von 217 Hz und Amerikanerinnen von 214 Hz pflegen. Unter 200 Hz kamen nur Schwedinnen (196 Hz) und Niederländerinnen (191 Hz). Moosmüller (2002) betont den Konstruktionscharakter der StimmeStimme:
Diese kulturspezifischen Unterschiede hängen u.a. auch mit dem Frauen- und Männerbild der jeweiligen Kultur zusammen (Ohara 1999) – eine hohe StimmgrundfrequenzStimmgrundfrequenz bei Frauen wirkt in Japan attraktiv und wird als ‚süß, angenehm, sanft, nett, höflich, ruhig, jung und hübsch‘ eingeschätzt, während Frauen mit einer tiefen Stimmgrundfrequenz als ‚eigensinnig, selbstsüchtig, direkt, aufrichtig und stark‘ wahrgenommen werden. (125).
2017 war der Berliner Zeitung (24.02.2017) in einem Artikel über ein Leipziger Symposium zur StimmeStimme zu entnehmen, dass Männerstimmen heute im Durchschnitt bei 110 Hz liegen und Frauenstimmen bei 168 Hz, während letztere vor 20 Jahren noch bei ca. 220 Hz lagen. Michael Fuchs von der Universität Leipzig hatte eine Messung bei fast 2.500 LeipzigerInnen zwischen 40 und 80 Jahren durchgeführt. Lag die Frauenstimme also früher eine Oktave höher, so ist es heute nur noch eine Quinte, die sie von der durchschnittlichen Männerstimme unterscheidet. Die Männerstimme ist dagegen gleich geblieben.
Es scheint also in der Tat mit dem veränderten Rollenbild der Frau zu tun zu haben […] Früher waren hohe Frauenstimmen schick – denken Sie etwa an Doris Day. Es gab viele piepsige, mädchenhafte, süße Stimmen, die nach Schutzbedürfnis klangen. Die heutige Frau steht voll im Leben. Sie muss nicht mehr beschützt werden. Deshalb klingt sie auch anders. (Fuchs 2017)1
Michael Fuchs stellt in einem Interview2 außerdem fest, dass sich die weibliche StimmeStimme auch biografisch senkt, was nicht biologisch, sondern sozial motiviert sei. Mädchen nach der Pubertät starten noch mit (den alten) 220 Hz, um sie zwischen 20 und 40 Jahren, wenn sie mehr und verantwortungsvollere Rollen einnehmen, um ca. 50 Hz zu senken.
Historische Stimmveränderungen: Männer verlieren sozial mit einer hohen StimmeStimme. Frauen haben dies früher sowohl mit einer hohen als auch mit einer tiefen Stimme getan. Lange hat man sie vom Verlesen von Nachrichten abgehalten, da man die Glaubwürdigkeit derselben bedroht sah (zum Autoritätsdefizit weiblicher StimmenStimme, auch zur Absenkung von Margaret Thatchers Stimme s. Graddol/Swann 1989, 35–39). Dabei hat sich seit den 1960er Jahren zuerst in den USA, dann auch in Europa einiges geändert: Tiefe Stimmen werden heute auch bei Frauen als sachlich, vertrauenswürdig und kompetent wahrgenommen. StimmbildnerInnen arbeiten auf tiefere Frauenstimmen hin. Slembek (1995) stellt fest, dass die deutschen Synchronstimmen US-amerikanischer TV-Serien Ende der 1950er Jahre deutlich über den weiblichen Originalstimmen lagen und „extrem melodiös“ (109) waren, also modulierten: „[D]ie Stimme gelangt in solche Höhen, dass sie gelegentlich wegbricht“ und „kaum je ihren Normalsprechtonbereich“ erreicht (ebd.).
Für die meisten Trans-PersonenTrans-Personen (TransidentenTransidente) stellt die Bearbeitung ihrer StimmeStimme ein großes Thema dar. Sie arbeiten intensiv daran, ihre Stimmen den Erwartungen an die jeweilige Geschlechtsklasse anzupassen. TransmännernTransmänner kommt entgegen, dass Testosteroneinnahmen auch (lange) nach der Pubertät einen Stimmbruch verursachen, während TransfrauenTransfrauen vor der ungleich höheren Herausforderung stehen, ihre tiefe Stimme mit logopädischer Begleitung, durch intensives Stimmtraining und nicht selten durch eine Kehlkopf- bzw. Stimmbandoperation anzuheben: „Der […] ungleiche Erfolg der Hormonbehandlung transsexueller Männer und Frauen lässt für letztere eine ‚Behandlungslücke‘ offen, an der Stimmpädagogik und Kosmetik arbeiten“ (Hirschauer 1993a, 233). Außerdem ist die Stimme mit optischen Markern wie Kleidung, Frisur und Bewegungen (und – vor allem – dem neuen Namen, Kap. 9.4) in Kongruenz zu bringen, um ein ‚Missgendern‘ zu verhindern. Auch dieses Markerzusammenspiel gestaltet sich für TransmännerTransmänner einfacher als für TransfrauenTransfrauen. Transfrauen haben einen längeren Weg zurückzulegen, den sie übrigens mit ziemlich vielen gebürtigen Frauen teilen, indem sie sich einem anstrengenden Schönheitsdiktat unterwerfen (Hirschauer 1993a, 233–241; Lindemann 2011; Schmidt-Jüngst 2018b). Dass es bei der Stimme jedoch weniger um Stimmhöhe als um erworbene Gendermerkmale geht, belegen die Äußerungen einer Stimmbildnerin, die Hirschauer (1993a) zitiert:
Die Verweiblichung der Stimme bestehe nicht so sehr in einer Frequenzerhöhung, sondern darin, dass ‚schlanker und schmaler, irgendwie weicher und mehr vorne‘ artikuliert wird und die Klientinnen mehr Mut zum Spielen mit ihrer Stimme bekommen (236).
Damit ist genau das angesprochen, was die folgenden Abschnitte zeigen: Die weibliche StimmeStimme soll
mehr modulieren,
variabler werden („Spielen“),
ihr Timbre verändern („weicher“), und womöglich sollen
die Wörter überpalatalisiert werden („mehr vorne“), was kindliches Sprechen imitiert.
Auch Forschungen zum Englischen unterstreichen die Tatsache, dass neben der Tonhöhe weitere (kulturspezifische) Gendermerkmale über den Transitionserfolg entscheiden (s. Thornton 2008; McNeill 2006).