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3.1.4 Die Singstimme und ihre Genderisierung
ОглавлениеLehrbücher zur Gesangspädagogik, so Grotjahn (2011), unterteilen die Singstimme zuerst nach Geschlecht. Ginge es nur um Tonhöhe, so könnte man auch ältere und jüngere Stimmen differenzieren. Da jedoch nichts für so natürlich gehalten wird wie ein stimmlicher Geschlechtsunterschied, muss der natürliche und beträchtliche Überschneidungsbereich zwischen Frauen- und Männerstimmen gebannt und die Stimmbinarität vergrößert (polarisiert) werden (boundary makingboundary making). Auch unterschiedliche Gesangstechniken tragen zur Konstruktion des Stimmgeschlechts bei und wurden naturalisiert.
Bis ca. 1800 sangen Männerstimmen in Alt- oder gar Sopranlage, entweder mit Kopfstimme (Falsett) oder als Kastraten, da es Frauen in der Kirchenmusik und teilweise auch im Theater verboten war, aufzutreten. Außerdem gab es in der Barockoper, so Grotjahn (2011), keinen Unterschied zwischen Stimmhöhe und Geschlecht, denn die hohe StimmeStimme stand weniger für Weiblichkeit als „für Göttlichkeit, StatusStatus (sozialer) und Jugend“ (ebd., 148). Damit war sie für männliche Sänger statthaft. Die hohe StimmeStimme vertrat männliche wie weibliche Götter, Liebhaber, Helden. Wenn aber Ammen als fraglos weibliche, doch statusniedrige Personen vertont wurden, dann als Tenorpartien, die von Männern gesungen wurden. „Niedrige“ StimmenStimme (Tenor, Bass) ikonisierten „niedrigen“ Stand und höheres Alter. Die Stimme war also weniger genderisiert als stratifiziert und Index für Altersklassen.
Das änderte sich im 19. und 20. Jh. gründlich. Vor allem zwischen 1830 und 1930 wurde die StimmeStimme genderisiert – und damit galt es zuvörderst, den jetzt irritierenden Überschneidungsbereich zwischen Alt und Tenor zu trennen. Der Belcanto als besonders hoher Tenor wirkte nun unmännlich und wurde durch ein anderes, tieferes und mit Bruststimme realisiertes Tenorideal ersetzt. Im Gegenzug wurde die tiefe weibliche StimmeStimme, die (‚kräftige‘) Bruststimme geächtet (sie kommt heute nur im Pop- und Musicalgesang vor), indem sie als zu männlich und auch als Gefahr für die weibliche StimmeStimme erklärt wurde.
Um die Trennlinie zwischen Tenor und Alt noch stärker zu profilieren, kamen klangliche Differenzierungen hinzu, und zwar vor allem die „Koloratur als Symbol für Weiblichkeit“: „Halsbrecherisches wie die Partien einer König der Nacht aus Mozarts ‚Zauberflöte‘ […] wird Tenören oder gar Baritönen und Bässen kaum abverlangt“ (Grotjahn 2011, 150). Diese neue Stimmästhetik der Beweglichkeit ist keine Frage der Stimmhöhe als vielmehr der Technik; sie konstruiert nun zunehmend die weibliche StimmeStimme. Umgekehrt verliert der virtuose Tenor des 18. Jhs. an Bedeutung.
Wenn aber (fast) nur noch Frauen Koloratur singen, lässt sich die Koloratur umgekehrt als Zeichen von Weiblichkeit verwenden. Nachdem in der Oper des 18. Jahrhunderts die – zumeist improvisierte – Verzierung eine Selbstverständlichkeit für alle Sänger/innen war, konzentriert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Ziergesang immer mehr auf bestimmte Aspekte von Weiblichkeit (150).
Solche Aspekte von Weiblichkeit waren weiblich genderisierte ‚Eigenschaften‘ wie Koketterei, Eitelkeit, Wahnsinn und Hysterie (zu Weiterem s. Grotjahn 2005, 2011).