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»Bequem wollte ich nie sein«

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Ein sehr breit angelegtes Repertoire habe ich immer angestrebt. Den kirchenmusikalischen Kernbereich mit Bach im Zentrum habe ich von Anfang an durch weniger bekannte und von mir als gut erkannte Werke zu erweitern gesucht. So kommen in einem Jahr schon mal leicht fünfzig verschiedene Stücke zusammen. Bequem wollte ich nie sein. Etwa zu sagen: Das Stück kann ich, muss daran nicht mehr viel arbeiten; da fahre ich hin, mache die Probe, dirigiere das Konzert – dieser Standpunkt ist mir immer fremd geblieben. Im Übrigen will ich neue Literatur entdecken. Ein Beispiel: Schumanns Faust-Szenen bildeten in jeder Beziehung eine Herausforderung. Um sie hatte ich in meinem Leben bisher einen Bogen gemacht. Aber eines Tages musste ich sie mir vornehmen, denn sie gehören zum oratorischen Zentralrepertoire. So wie ich für mich den Prozess einer Partituraneignung verstehe, wusste ich, dass das eine intensive Arbeit bedeuten würde, wenn man allein an die Beschäftigung mit dem Text denkt. Es war im Endeffekt eine ganz große persönliche Bereicherung. Die Entscheidung für dieses Werk erschien mir auch im Nachhinein richtig, obwohl es nur ein Angebot, nämlich vom Bonner Beethovenfest, gab, das Stück wiederholen zu können. Aber – wie gesagt – es war eine große Herausforderung.

Sie scheinen keinen Kräfteverschleiß zu empfinden. Der muss ja gar nicht als Folge defizitärer körperlicher Erscheinungen auftreten. Aber es kann zumindest im Alter schneller als in jugendlichen Lebensperioden Erschöpfungszustände geben.

Zu den negativen Aspekten des Älterwerdens gehört bei mir, dass ich nach Konzerten in der Tat oft sehr müde bin. Das Schlimmste, was man mir dann antun kann, ist ein anschließender Stehempfang. Den muss ich oft durchstehen – im wahrsten Sinne des Wortes …

Als künstlerischer Leiter der Bachakademie konnten Sie sich einer solchen Verpflichtung nicht entziehen. – Können Sie sich Dirigieren im Sitzen vorstellen?

Das habe ich nie gemacht.

Könnte das nicht im Ernstfall hilfreich sein? Dirigenten im Operngraben sitzen fast immer.

Ich würde mich sehr begrenzt fühlen. In den Proben nutze ich Hocker. Ich kenne die Beschränkung, die das mit sich bringt. Ich hoffe, das nicht so schnell brauchen zu müssen.

Das menschliche Gehör baut sich ab dem dreißigsten Lebensjahr ab – in kleinsten Werten selbstverständlich. Musiker hören in der Regel auch im Alter genau, zum Beispiel bei der Wahrnehmung instrumentaler und vokaler Intonationsschwächen. Spüren Sie auf diesem Gebiet Beschränkungen, die Ihre Arbeit erschweren?

Ich meine, gut zu hören. Korrekturen, die man in einer Probe anspricht, gehen vom Gehör aus. Über die physiologische Seite weiß ich zu wenig. Es hat wohl vor allem mit sehr hohen Frequenzen zu tun. Ich habe eine mich nachdenklich stimmende Erfahrung gemacht. Bei der Erstaufführung der Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes von Sofia Gubaidulina in der Dresdner Frauenkirche im Februar 2007 habe ich einen Spieler der hohen Schlaginstrumente gebeten, lauter zu spielen, worauf er entgegnete, er spiele bereits sehr laut. Darauf hin befürchtete ich, die hohen Frequenzen nicht mehr so gut zu hören. In solchen Fällen fühlt man sich wie ein Verlierer, muss mögliche Fehlentscheidungen eingestehen. Für das meist ältere Publikum, das vielleicht nicht mehr so deutlich hört, wäre ein lauteres Spiel möglicherweise sogar günstiger gewesen.

Ein Leben mit Bach

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