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»Ich schreibe in meine Partituren, was ich denken muss«

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Herr Rilling, Sie dirigieren alles auswendig. Das bedingt ein gut funktionierendes Gedächtnis.

Ich muss gestehen, dass ich manchmal fürchte, etwas, was ich eigentlich weiß, plötzlich nicht mehr zu wissen. Bis jetzt ist das nie eingetreten. Bei Stücken wie Bachs h-Moll-Messe, in der ich jede Stimme des Gesamtsatzes auswendig kenne, kann ich mir das schwer vorstellen. Die Stimmabläufe auf jeder Partiturseite erzeugen ja die Gedächtniszusammenhänge. Ich versuche, mich abzusichern … Wenn ich vor einer Woche zehn Partiturseiten gelernt habe und sie mir wieder vornehme, erkenne ich sie hoffentlich auf Anhieb wieder und weiß sie auswendig. Sie erneut zu durchdenken, das könnte für mich heutzutage notwendiger sein, als es früher gewesen ist. Vielleicht bin ich auch nur selbstkritischer geworden und will etwas noch genauer wissen, als ich es früher gewusst habe.

Warum legen Sie sich im Konzert nicht die Partitur aufs Pult?

Das will ich nicht. In Aufführungen hasse ich Partituren. Sie trennen mich vom Ensemble. Dirigierstudenten streichen sich mit verschiedenen Farben das an, von dem sie glauben, das sei das Wichtige. Bei mir steht jede Partitur voller kleiner Bleistiftbemerkungen. Ich schreibe nieder, was ich denken muss. Das hilft mir sehr beim Studium, weil es die Niederlegung meines Gedächtnisses ist. Ein interessierter Dirigent könnte in einer meiner Partituren genauestens verfolgen, wie meine Interpretation ablaufen wird. Mir selbst würde meine Partitur in einer Aufführung nichts nützen – allein schon deshalb nicht, weil die Anmerkungen viel zu klein geschrieben sind.

Haben sich bei Ihnen im Laufe Ihrer jahrzehntelangen Dirigententätigkeit bei Werkdarstellungen Auffassungsveränderungen ergeben, die auf ein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen sein könnten? Ich denke an die Wahl von Tempi, Artikulation und so weiter.

Die Frage ist, ob so etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. Vielleicht müsste man das dem Thema »Erfahrung« zuordnen. Wenn ich an meine Anfangszeiten zurückdenke, wo ich diese Erfahrungen nicht hatte – da probiert man zunächst mal aus. Bei unseren ersten Aufführungen von Bach-Kantaten standen in meinen Partituren dicke Crescendo- und Diminuendo-Zeichen, um Phrasenbildungen zu ermöglichen, Spannung aufzubauen und wieder wegzunehmen. In meinen heute verwendeten Partituren gibt es bei Bach-Werken keine Crescendo-Bezeichnungen; das sind für mich keine Kriterien mehr bei der Interpretation. Aber das beruht auf praxisbezogenem Erfahrungszuwachs. Aufs Älterwerden ist da nichts zurückzuführen, bei mir nicht.

Zusammengenommen: Sie als Künstler sehen dem weiteren Altern mit Zuversicht entgegen. Erkenntnisdrang bewegt Sie, Erfahrungszuwachs wird Ihr Stichwort bleiben …

Ein Leben mit Bach

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