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»Jedes Stück muss ein neues Stück sein«

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Aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedene Menschen behaupten immer mal wieder, im Alter reifer geworden zu sein, reifer zu sein vor allem als die jüngeren Menschen um sie herum. Zumindest aber glauben sie, im Laufe ihres Lebens gelassener geworden zu sein. Älteren Künstlern wird Reife in Bezug auf ihr produziertes oder reproduziertes Werk bestätigt. Sind Sie reifer geworden?

Ich würde dieses Wort für mich kaum anwenden wollen. Reife heißt ja auch – und da scheint mir ein Missverständnis möglich –: Alles ist geklärt, es gibt nichts Neues mehr.

Ich finde vieles in unserem Alltag außerordentlich bewegend. Argumente, die nicht die meinen sind, prüfe ich auf ihre Haltbarkeit. Dank meiner internationalen Tätigkeit erlebe ich die Probleme anderer Länder, die mich beschäftigen und auch bedrängen. Zu denen würde ich niemals vom Standpunkt der sogenannten Reife aus Stellung beziehen. Dazu beschäftigen, ja erregen sie mich viel zu sehr.

Im musikalischen Bereich verhält sich das genauso. Ich pflege, wie bekannt, einen gewissen Kanon permanent: Das sind die Oratorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Bei meiner Vorbereitung auf diese Werke verlasse ich mich nie darauf, dass ich sie seit Jahrzehnten kenne, verlasse mich nie auch nur auf ein oberflächliches Gefühl der Reife. Ich gehe zurück zu meinen Partituren und entdecke in ihnen oft Details, die mir bisher nicht aufgefallen sind. Für mich gilt: »Das ist jetzt ein neues Stück.« Das Stück, das ich aufführe, muss immer ein neues Stück sein – als wäre es die erste Aufführung, die es erfährt. Das ist eine notwendige Herausforderung!

Hat sich diese Einstellung bei Ihnen mit zunehmendem Alter verstärkt?

Ich glaube, nein, ich weiß, dass ich schon immer so gedacht habe. Vielleicht ist mir mit der Zeit noch bewusster geworden, dass diese Haltung nicht selbstverständlich ist. Hinzu kommt wohl verstärkt eine pädagogische Tendenz im Umgang mit jungen Musikern. Das betrifft auch junge Solisten, die mit mir vorher nie gearbeitet haben. Die müssen lernen, dass – nur ein Beispiel – Rezitativ nicht gleich Rezitativ ist, das einfach nur schnell heruntergesprochen werden kann. Ein händelsches Rezitativ kann man vielleicht schnell durchsingen, weil es nur eine Brücke zum nächsten Satz ist, eines von Bach nicht.

Sie bemühen sich, Musik verständlich zu machen, und das mit einem rastlosen persönlichen Einsatz. Bedeutet Ihnen der Begriff »Gelassenheit« trotzdem etwas?

Das Wort »Gelassenheit« bedeutet mir, im Gegensatz zu »Reife«, eher etwas. Das betrifft vorrangig Problemsituationen. Die gibt es immer wieder. Das bezieht sich auf Menschen, mit denen man zusammenarbeiten muss. Oder auf Menschen, die man lange kennt und die sich plötzlich und unerwartet anders verhalten, als zu erwarten war. Man glaubt, mit jemandem befreundet zu sein, und erkennt plötzlich eine Reaktion, die keine Freundestat darstellt. Dann wird das Phänomen »Gelassenheit« wichtig, weil sich unter seinem Einfluss Situationen perspektivisch verändern lassen. Es gehört Gelassenheit dazu, in solchen Fällen auf Freundschaften verzichten zu müssen.

Über körperliche Defizite haben Sie nicht zu klagen?

Jeder kennt das: Im Alter funktioniert manches nicht mehr so, wie man das sein Leben lang gewohnt war.

Die Frage ist, ob einen das beeinträchtigt.

Man muss solche Defizite hinnehmen. Dafür geht anderes besser.

Sie müssen jedoch abgestimmt werden mit dem anstehenden Arbeitspensum. Das hat sich bei Ihnen, wie es scheint, in den letzten Jahren nicht reduziert. Hundert Auftritte im Jahr …

Es müssten aus meiner momentanen Sicht nicht unbedingt so viele sein. Aber es liegt ja an mir, ich kann ein Angebot akzeptieren oder ablehnen. Die Qualität der Angebote ist dafür ausschlaggebend. Manche Anfrage betrachte ich auch als ehrenvoll und nehme sie aus dem Grund an, und dann will ich sie auch gut bewältigen.


Werkeinführung: Helmuth Rilling in einem Gesprächskonzert, Stuttgart 2011. © Holger Schneider

Ein Leben mit Bach

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