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»Für ein Gesprächskonzert vor jungen Musikern gewinnt man mich fast immer«

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Sie werden Ihre Dirigiertermine auch nach dem an Sie herangetragenen Literaturwunsch auswählen …

Man muss, was im Grunde unnatürlich ist, mindestens zwei Jahre im Voraus Terminanfragen zusagen oder absagen. Sagt man zu, kann man eine danach aufkommende Abneigung gegen die Begleitumstände oder eine Skepsis gegenüber dem vorgesehenen Werk nicht mehr berücksichtigen. In der Beziehung bin ich bei Anfragen vorsichtiger geworden. Eine Rolle spielt für mich die Qualität der Ensembles und ob pädagogische Aufgaben daran hängen. Für einen Meisterkurs irgendwo auf der Welt oder für ein Gesprächskonzert vor einer Gruppe junger, interessierter Musiker gewinnt man mich fast immer sofort. Aber Händels Messias in irgendeiner amerikanischen Großstadt zu dirigieren – das lass ich gleich absagen. Es gab mal eine Anfrage der New York Philharmonic für fünfmal Messias im Lincoln Center, in der Avery Fisher Hall. Da habe ich zugesagt, weil ich mit meiner Gächinger Kantorei kommen konnte, und das habe ich nicht bereut.

Es gab – ein weiteres Beispiel – Ihre Zusage, in Tokio fünfmal Beethovens IX. Sinfonie über Silvester/​Neujahr 2010 aufzuführen. Nur einer der vier Sinfoniesätze ist ein Chorsatz, das Werk ist kaum abendfüllend und gehört nicht zu Ihrem Kernrepertoire. Sie nahmen diese Verpflichtung auf sich, verzichteten sogar auf das heimatliche Weihnachtsfest.

Ich habe bei dieser Anfrage gezögert. Einerseits wegen des Stücks, das im Vergleich zur Matthäus-Passion oder anderen Werken nicht im Zentrum meines Interesses steht, sodass ich mich auch nicht als dessen hundertfach erfahrener Deuter verstehen kann. Auf der anderen Seite: NHK ist in Japan die Nummer eins unter den landesweit sendenden Hörfunk- und Fernsehstationen. Ich stehe mit NHK in einer langen und gewachsenen Verbindung als Dirigent, in meinen Anfängen als junger Organist und durch frühe Bachakademien in Japan. Die Konzerte aus der NHK Hall werden via Radio und Fernsehen über das ganze Land verbreitet. Es ist also ein enormer Auftrag. Soll man einer solchen Institution einfach absagen? Ich habe zugesagt.

Beethovens IX. Sinfonie steht nicht im Zentrum Ihres Interesses, sagen Sie. Das Werk ist extrem bedeutungsbelastet. Nachdem die Berliner Mauer am 9. November 1989 gefallen war, dirigierte Leonard Bernstein, der Ihnen viel bedeutet, diese Sinfonie in Berlin. Aus aktuellem Anlass änderte er sogar Schillers Text: Statt »Freude, schöner Götterfunken« ließ er »Freiheit, schöner Götterfunken« singen – eine umstrittene Maßnahme. Warum haben Sie erst relativ spät zu diesem Werk gegriffen?

Für mich ist die Neunte ein kompliziertes Stück – viel komplizierter als andere Großwerke, die zu meinem Repertoire gehören. Warum finde ich sie kompliziert? Sie ist eine Sinfonie. Wenn man von ihr redet, meinen aber viele Menschen im Grunde nur den vierten Satz. Ihm voraus gehen drei einzigartige sinfonische Sätze, die zum Besten gehören, was Beethoven geschrieben hat. Sie sind aus meiner Sicht ungewöhnlich kompliziert gebaut. In ihrer kompositorischen Architektur und der differenzierten Instrumentation sind sie für den Dirigenten zunächst einmal sehr schwer zu lernen. Daraus eine interpretatorische Meinung und eine persönliche Handschrift zu gewinnen, ist für mich ungewöhnlich schwierig. Bei anderen Werken fällt mir das leicht, bei Beethoven nicht.

Nur bei Beethovens Neunter nicht oder auch bei seinen anderen Werken nicht?

Die Missa solemnis oder der Fidelio stellen natürlich auch interpretatorische Probleme. Aber für mich ist die Neunte komplizierter als alles andere. Das betrifft die unglaubliche Architektur gleich des ersten Satzes mit seiner ausgedehnten Durchführung, der ungewöhnlich ausführlichen Coda. Hier sich eine Meinung zum Tempo, zu Spannung und Entspannung zu bilden – das finde ich nach wie vor schwierig, und damit bin ich auch noch nicht fertig. Ich werde das Stück hoffentlich noch einige Male dirigieren und dann noch mehr von ihm erfahren. Was ich sage, bezieht sich auf diese ersten drei Sätze. Der vierte Satz aber ist für mich der Grund gewesen, warum ich das Stück so wenig oder eigentlich fast nie gemacht habe.

Ein Leben mit Bach

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