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Vorbild Leonard Bernstein

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1967 sind Sie bei Leonard Bernstein in New York gewesen. Sie wollten von ihm lernen. Was schwebte Ihnen vor, und in welcher Form geschah das?

Bernstein war einverstanden, dass ich bei allen Proben der New York Philharmonic in der Avery Fisher Hall dabei sein und Kontakt zu ihm halten konnte. Ein Unterricht im Sinne eines Studiums an einer deutschen Musikhochschule war das nicht. Es bot sich mir vielmehr die einzigartige Möglichkeit, den phänomenalen Musiker Bernstein ständig zu beobachten und ihm in den Pausen oder nach den Proben, auch gelegentlich nach einem Konzert, Fragen zu stellen. Für mich, in meiner damaligen Situation, war das ideal. Ich wollte ihm nicht vordirigieren und von ihm dazu kritische oder anregende Bemerkungen erhalten. Aber der künstlerische Alltag, wie ich ihn erlebte, war für mich überaus lehrreich. Es scheint mir sehr wichtig, Proben zu hören. Man lernt einen Musiker in den Proben kennen. Bernstein war mit den New Yorker Philharmonikern seit Jahren zusammen, war lange ihr Chefdirigent gewesen, die Musiker kannten ihn. Was mich am Anfang überraschte, war die Tatsache, wie kollegial und freundlich es zwischen ihnen zuging. Natürlich war er für jedes Orchestermitglied »Lenny«. Kein »Maestro« war zu hören, wenn man sich an ihn wendete, es ging also freundschaftlich zu. Dabei kamen vom Orchester durchaus kritische Bemerkungen. Ich erinnere mich an den damaligen Pauker, der ihm sagte, er könne nach seinem Schlag nicht spielen. Keine Stimmungstrübung darauf hin, sondern Lenny sagte: »Dann mach’ ich es mal anders.« »Much better«, sagte der Pauker zu ihm vor dem ganzen Orchester. Der Grundsatz bei Bernstein lautete mithin: »Ich bin zwar der Chef hier, aber ihr müsst die Musik machen. Also machen wir es zusammen.« Diese Offenheit hat mich tief beeindruckt. Keine autoritäre Figur vorne, sondern ein Mann, der seine Leute kannte und wusste, wie er sie zu nehmen hatte. Der seinen Tonfall immer unter Kontrolle hatte: »Du machst da ein Ritardando, ich würde keines machen«, so ging Bernstein mit der Situation um.

War Ihnen das neu?

Nein, es entsprach sogar meiner Erfahrung aus der Anfangszeit bei den Gächingern. Bei denen war ich ein anregender und ausprobierender Dirigent und nahm gern auf, was andere vorschlugen oder einfach anboten.

Zu der Zeit befanden Sie sich noch quasi im Anfängerstadium, Bernstein bei den New Yorkern dagegen nicht.

Aber genau eine solche Art hatte er sich erhalten. Davon habe ich Entscheidendes gelernt. Im Übrigen war er ein charismatischer Dirigent. Er konnte mit seiner Art, zu dirigieren und Freude an der Musik zu vermitteln, die Leute erreichen, sie einbeziehen. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, in der dies besonders deutlich wurde. Damals hatte das New York Philharmonic aus einem Jubiläumsanlass die Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm nach New York eingeladen. In einer Probe in der Avery Fisher Hall mit Strauss’ Heldenleben kommt das berühmte Violinsolo, Böhm wendet sich an den Konzertmeister und sagt: »Sie spielen ja heute wieder scheußlich. Es ist alles falsch – hören Sie das nicht?« Und das in einer öffentlichen Probe mit Hunderten von Leuten im Saal! Böhm sprach natürlich deutsch, aber aus seiner Redeweise war zu erkennen, dass er den Konzertmeister – sagen wir mal – sehr negativ sah. Nach ein paar weiteren gleichartigen Situationen brach Böhm ab und ging mit dem Orchester in die Pause. Im Anschluss daran dann Bernstein mit den Wiener Philharmonikern – was tut er? Er lässt sie einfach spielen, drei, vier Minuten lang. Dann bricht er zum ersten Mal ab und sagt: »Dieser Klang der Wiener Streicher ist einfach unvergleichbar.« Die Folge: Beifall des Orchesters, auch des Publikums, die Atmosphäre ist wunderbar gelöst, und nun kann normal gearbeitet werden. Das war der kluge Zug eines erfahrenen Orchesterdirigenten, der sich zunächst etwas anbieten lässt, zuhört, seine erste Bemerkung sehr positiv gestaltet und dadurch die Musiker im Handumdrehen für sich gewinnt. Ich habe aus dieser Situation gelernt, dass die gute Verbindung des Dirigenten zu Menschen, die er musizierend vor sich hat, entscheidend ist für die Qualität der Musik, die entstehen soll.

Wie lange waren Sie bei Bernstein?

Mehrere Monate.

Hat er Sie je dirigieren gesehen?

Nein, ich hätte das wohl zu schätzen gewusst, aber die Möglichkeit ergab sich nicht. Ich war aber auch so ganz zufrieden, denn ich hatte mir vorgenommen, in dieser Zeit aus der Beobachtungssituation heraus so viel wie möglich zu lernen.

Ein Leben mit Bach

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