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»Als Interpret muss ich hinter dem stehen, was die Musik verlangt«

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Also gerade das Chorstück …

Schon in meinen jugendlichen Jahren hat mich der Text gestört, seine enthusiastisch-utopische Sprache, die eine Denkweise transportiert, die ich schon früh nicht nachvollziehen konnte. Als Interpret muss ich hinter dem stehen, was die Musik verlangt – was ich nicht zu können glaubte. Das ist in gewisser Weise bis heute so geblieben. Es fällt mir schwer, in einer von unseren täglichen Begebenheiten geprägten Welt enthusiastisch zu sagen: »Alle Menschen werden Brüder.« Wir erfahren täglich, dass das nicht so einfach ist. Dazu kommt, dass mich im Schlusssatz der Neunten auch Beethovens Eigenheit, naiv oder plakativ oder bewusst einfach zu schreiben, gestört hat. Er hat so viele wunderbare Themen erfunden, und nun dieser Hymnus an die Freude. Für den Hymnus selbst bin ich noch ziemlich zugänglich, aber es gibt einige quasi rezitativische Passagen mit dem Chor, wo mir das zu simpel klingt. Ich habe bis jetzt keinen interpretatorischen Weg gefunden, das aufzulösen.

Nach der Stuttgarter Aufführung gratulierte Ihnen eine Besucherin mit der Bemerkung, sie habe noch nie – jetzt kam ein Versehen – eine so schöne Eroica gehört. Ist, was Sie an der Neunten moniert haben, bei der Eroica nicht ähnlich gegeben? Hinter ihr steht ein Programm, man sieht Bilder, wenn sie erklingt.

Nein, ich habe bei der Eroica diese eben beschriebenen Probleme nie empfunden.

Bei vielen alten Dirigenten verengt sich, konzentriert sich das von ihnen öffentlich angebotene Repertoire in der Regel auf zehn, zwölf Stücke. Ihr Repertoire hingegen war und ist gekennzeichnet durch seine Breite. Es kommen sogar noch laufend neue Partituren dazu. Zwei markante Beispiele: Robert Schumanns Faust-Szenen und die Auftragskomposition der Bachakademie und des Oregon Bach Festivals an den schwedischen Komponisten Sven-David Sandström für einen neuen Messias. In beiden Fällen mussten Sie eine Ihnen bisher unbekannte Musik lernen. Zur neuen Bekanntschaft mit einem Werk entschließen Sie sich freiwillig – trotz Ihres Alters. Eine solche Arbeit hat mit dem Gedächtnis zu tun, mit dem Lernen. Sie müssen sich auf Ihnen bisher Unbekanntes einstellen.

Ein Leben mit Bach

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