Читать книгу Umgang mit Zwangsmaßnahmen - Judith Scherr - Страница 33
3.1.9 Die staatliche Fürsorgepflicht und das »Recht zur Krankheit«
ОглавлениеGrundrechte sind nicht nur Abwehrrechte, sondern können auch als Schutzpflichten ein aktives Tun des Staates einfordern. Aus Art. 2 Abs. 2 GG entstammt daher die Pflicht, sich als Staat aktiv zu kümmern, dass Personen in ihrer körperlichen Unversehrtheit geschützt sind. Dies geht soweit, dass der Staat die Personen vor sich selbst schützen muss. Daraus folgt, dass der Staat auch hieraus verpflichtet ist, entsprechende Schutzmaßnahmen vorzusehen. Wie er diese Schutzmaßnahmen umsetzt, darf er im Rahmen seiner Einschätzungsprärogative selbst festlegen (Maunz u. a. 2020, Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 Rn. 94; BVerfG, Urt. v. 24.07.2018 – 2 BvR 309/15, 2 BvR 502/16, NJW 2018, 2619, Rn. 67).
Nicht jede Gesundheitsgefährdung genügt, um eine Zwangsmaßnahme zu rechtfertigen. Hierzu hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 1998 (BverfG Beschl. v. 23.03.1998, Az.: 2 BvR 2270/96, NJW 1998, 1774) ausgeführt:
»Die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft schließt auch die Befugnis ein, den psychisch Kranken, der infolge seines Krankheitszustandes und der damit verbundenen fehlenden Einsichtsfähigkeit die Schwere seiner Erkrankung und die Notwendigkeit von Behandlungsmaßnahmen nicht zu beurteilen vermag oder trotz einer solchen Erkenntnis sich infolge der Krankheit nicht zu einer Behandlung entschließen kann, zwangsweise in einer geschlossenen Einrichtung unterzubringen, wenn sich dies als unumgänglich erweist, um eine drohende gewichtige gesundheitliche Schädigung von dem Kranken abzuwenden. Dabei drängt es sich auf, dass dies nicht ausnahmslos gilt, weil schon im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei weniger gewichtigen Fällen eine derart einschneidende Maßnahme unterbleiben muss und somit auch dem psychisch Kranken in gewissen Grenzen die ›Freiheit zur Krankheit‹ belassen bleibt.«
Ausgangspunkt der Bestimmung des Rechts auf Freiheit zur Krankheit ist, dass alle medizinischen Maßnahmen grundsätzlich der Einwilligung des Betroffenen bedürfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Ablehnung der Behandlung zu einer lebensgefährdenden Situation führen würde. Denn die verfassungsrechtliche Selbstbestimmungsfreiheit schließt die Freiheit zur Krankheit und damit das Recht, ärztliche Maßnahmen abzulehnen, auch wenn diese aus medizinischer Sicht dringend angezeigt sind, ein.