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Kapitel 21

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Im September des gleichen Jahres wurde Lisa Maria eingeschult. Obwohl sie erst einen Monat später das sechste Lebensjahr erreichte, durfte sie schon die erste Klasse besuchen. Sie war begabt, konnte dem Unterricht problemlos folgen. Der Unterricht machte ihr großen Spaß und sie lernte eifrig. Ann Katrin, die mittlerweile den Kindergarten besuchte, beneidete ihre große Schwester um den Ranzen und ihre schönen Bücher.

Nach einem Jahr Mutterschutz kehrte ich zurück in das Einrichtungshaus.

Mein Chef versicherte mir, dass die Kunden schon sehnsüchtig auf mich warteten. Doch anstatt meiner bisherigen Tätigkeit, die Kunden zu Hause aufzusuchen und zu beraten, durfte ich jetzt nur noch im Ladengeschäft die Laufkundschaft, die Kissen, Tischdecken und Bettwäsche kaufen wollten, beraten. Eine neue Kollegin hatte inzwischen meinen Job übernommen. Das sah ich mir eine Weile an, dann kündigte ich. Ich wollte ja nicht nur verkaufen, sondern vor allem gemeinsam mit den Kunden planen, wie ihre Einrichtung aussehen sollte und ob die Wohnaccessoires dazu passen könnten.

Ich hätte mich gern selbständig gemacht, aber ich hatte keine Ausbildung, die mich dazu befähigte. Überraschenderweise bot mir Stefan an, für ihn zu arbeiten. In der Firma entstanden immer noch genügend Baupläne für Einfamilienhäuser und Ferienwohnungen. Viele der Hausbesitzer kannten mich und hatten vorher in dem Einrichtungshaus meine Hilfe in Anspruch genommen und dort eingekauft.

Nun bot mir Stefan an, für ihn als Einrichtungsexpertin zu arbeiten und mit den Kunden durch die Möbelhäuser zu streifen, ausgefallene Tapeten und schöne Tischwäsche sowie exklusive Bettwäsche und hübsche Dekors auszusuchen. Ich kannte ja alle Geschäfte in der näheren Umgebung bestens und hatte auch gute Kontakte im benachbarten Ausland.

Sobald ein neues Haus geplant wurde, brachte Stefan mich ins Spiel. Viele zukünftige Hausbesitzer waren begeistert und nahmen gern das Angebot in Anspruch, sich von mir beraten zu lassen, zumal mittlerweile viele Interessenten aus den anderen Bundesländern kamen, die sich hier am Chiemsee mit einem Zweitwohnsitz niederlassen wollten und die hübschen, bayrischen Häuser und ihre rustikale Ausstattung liebten. Auf diese Art und Weise arbeiteten Stefan und ich plötzlich eng zusammen. Ziemlich bald galten wir als erfolgreiches Team.

Stefan entwarf die Häuser und ich richtete sie ein. Die Arbeit machte mir großen Spaß und dank unserer Haushälterin und der Kinderfrau mussten auch unsere Kinder auf nichts verzichten.

Stefan brachte Lisa Marie, die bereits die zweite Klasse besuchte, zur Schule, und ich setzte Ann Katrin jeden Morgen im Kindergarten ab. Tim Niklas blieb bis zum dritten Lebensjahr in der Obhut unserer Kinderfrau, die sich rührend um ihn kümmerte.

Ich bemühte mich, Lisa Marie so oft wie möglich zum Segelunterricht zu begleiten und Ann Katrin in die Ballettstunde zu bringen. Meinen Segelkurs hatte ich zwischendurch mit dem Erwerb des Segelscheins beendet.

Zwischendurch sprang Gustl immer mal wieder ein, wenn ich einen Kunden nach Feierabend aufsuchen und die Pläne für die Einrichtung besprechen musste. Doch meist ließ sich das tagsüber erledigen, nur ganz selten am Wochenende.

Der einzige Wermutstropfen war, dass Paul nicht hier war. Wir schrieben uns oft. Stefan hatte ich längst informiert, wo sein Bruder steckte und auch seine Mutter wusste Bescheid. Sein Vater fragte nie nach ihm.

Meiner Mutter hatte ich den wahren Grund von Pauls Verschwinden nicht verraten. Für sie war er, genau wie für alle anderen in der Stadt, ausgewandert. So war die allgemeine Sprachregelung.

Überraschenderweise traf Stefan seinen Bruder ein paar Jahre später in Thailand wieder. 1985, Lisa Marie hatte gerade ihre erste Kommunion gefeiert, reiste Stefan nach Thailand, um sich über eine Ausschreibung für eine Ferienanlage zu informieren. Er hatte sich vorgenommen, an dem Architektenwettbewerb teilzunehmen. Er wollte mal etwas Neues ausprobieren und auch im Ausland mit seinen Ideen Fuß fassen.

Es war Thomas, sein ehemaliger Mitarbeiter, der ihn ansprach. Pauls Lebenspartner hatte Stefan an der Hotelbar entdeckt. Mein Mann war vollkommen perplex, den Freund seines Bruders dort anzutreffen. Er war unsicher, wie er sich verhalten sollte, doch Thomas machte es ihm leicht. Er behandelte Stefan wie einen alten Freund, den er lange nicht mehr gesehen hatte. Es gab kein böses Wort über Stefans Verrat. Stefan hatte gar keine andere Wahl, als mit Thomas zu sprechen.

Kurz darauf erschien auch Paul an der Bar. Er war wohl genauso überrascht wie Stefan, doch nach einem kurzen Schreckmoment lagen sich die Brüder in den Armen und begrüßten sich gerührt. Stefan entschuldigte sich unter Tränen bei seinem Bruder für sein dämliches Verhalten. Paul machte es ihm ebenfalls leicht. Er bedankte sich bei Stefan, denn die spontane Reise nach Neuseeland war das Beste gewesen, was er und Thomas hatten machen können.

Sie hatten dort nicht nur eine neue Arbeit, sondern auch eine neue Heimat gefunden und viele neue Freunde dazugewonnen. Sie fühlten sich in einem Ort direkt an der Küste nahe der größten Stadt Auckland sehr wohl und arbeiteten dort erfolgreich als Architekten.

Die drei saßen den ganzen Abend zusammen und erzählten sich von ihren Erlebnissen der letzten Jahre. In den nächsten Tagen verbrachten sie jede freie Stunde zusammen, gingen gemeinsam essen und genossen die wenige Freizeit, die ihnen zwischen den Vorträgen und Informationsveranstaltungen sowie den Gesprächen mit Planern und Projektmanagern blieb.

Stefan war einer spontanen Idee gefolgt und hatte mich angerufen und gebeten, den nächsten Flug nach Bangkok zu nehmen. Er schwärmte von dem Land und schlug mir vor, ein paar Tage dort in einem schönen Hotel am Strand auszuruhen. Er bügelte alle meine Einwände ab und bestand darauf, dass ich mich schnellstmöglich auf den Weg machen sollte.

Wir hatten schon länger keinen Urlaub mehr gemacht und deshalb stimmte ich bereitwillig zu. Gustl übernahm Lisa Marie und Ann Katrin und die Kinderfrau zog vorübergehend bei uns ein und hütete Tim Niklas.

Ich ahnte nicht, was mich in Bangkok erwartete, doch eine größere Freude hätte mir mein Mann gar nicht machen können. Ich litt all die Jahre darunter, dass Paul nicht bei uns war. Obwohl wir uns regelmäßig schrieben, vermisste ich ihn schrecklich.

Paul hatte eine Limousine mit Chauffeur bestellt, der mich vom Flughafen abholen sollte. Als ich die Ankunftshalle betrat, sah ich schon den Mann mit einem Pappschild, auf dem mein Name stand. Er nahm meinen Koffer und ich folgte ihm zum Wagen. Er öffnete den Schlag und bat mich einzusteigen. Doch da saß schon jemand auf der Rückbank. Mich traf fast der Schlag, als der Unbekannte sagte: „Steigen Sie ein, gnädige Frau. Ich habe Sie bereits erwartet.“

Ich erkannte Paul sofort an der Stimme und warf mich in seine Arme. Ich lachte und weinte abwechselnd. Wir verbrachten gemeinsam ein paar wunderschöne Tage mit Paul und Thomas und versprachen zum Abschied, die beiden im nächsten Jahr in Neuseeland zu besuchen. Ich freute mich riesig, dass mein Mann und sein Bruder sich wieder versöhnt hatten und dass Stefan endlich auch Thomas akzeptierte.

Stefans Mutter war begeistert, als sie hörte, was passiert war. Dennoch traute sie sich nicht, ihrem Mann davon zu erzählen. Er wollte nichts davon hören. Aber sie schrieb nun regelmäßig an Paul und telefonierte mit ihm, wenn es sich einrichten ließ. Ich war froh, dass die eine Baustelle halbwegs beseitigt war, aber schon tat sich eine neue auf.

Die blaue Stunde

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