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Kapitel 22

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Meine zwei Jahre jüngere Schwester Ulla hatte endlich ihren Traumprinzen gefunden und lud uns zur Hochzeit ein. Ich konnte Manfred, meinen zukünftigen Schwager von Anfang an nicht leiden. Er war arrogant und total von sich eingenommen. Mit seinen stechenden Augen schien er alle abzuscannen, die ihm von meiner Familie begegneten. Wichtig war ihm, wie seine neuen Familienangehörigen sich kleideten, welches Auto man fuhr und ob man studiert hatte. Daher fiel ich schon mal bei ihm durch das Raster: Ich war keine Akademikerin. Meinen Mann hingegen akzeptierte er und suchte den Kontakt mit ihm. Aber Stefan mochte den Arzt ebenso wenig wie ich und ließ ihn immer wieder abblitzen.

Meine Schwester hatte ihr Medizinstudium nach dem verpatzten Physikum an den Nagel gehängt und arbeitete wieder in ihrem erlernten Beruf als Kinderkrankenschwester. Nun war es ihr doch tatsächlich geglückt, einen Arzt an Land zu ziehen, wie sie es immer vorgehabt hatte.

Manfred wollte sich in Kürze in unserem Städtchen niederlassen und hoffte darauf, dass unsere Familie demnächst seine Praxis aufsuchen würde. Ich erklärte meiner Schwester, dass er seine Idee vergessen könnte. Wir würden bei unserem langjährigen Hausarzt bleiben, zumal der zukünftige Schwager sein neues Haus, in dem sich auch seine Arztpraxis befand, von einer anderen Baufirma errichten ließ.

Normalerweise standen wir über solchen Dingen, aber da Manfred bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit mit der Behauptung angab, es gäbe in der ganzen Stadt keinen besseren Planer und Baubetrieb, dachten wir uns einfach, der kann uns mal.

Die Hochzeit war eine einzige Katastrophe. Stefan und ich wurden mit den Kindern in die Nähe des Ausgangs gesetzt. Manfred hatte seine Familie um sich geschart.

Mit an unserem Tisch saßen mein Bruder Harald und seine neue Freundin. Harald, mittlerweile stolze 29 Jahre alt, hatte bisher nicht viele Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht gesammelt. Er war ein ruhiger Vertreter mit schütteren Haaren und blasser Haut, etwas zu dick und ungeschickt in der Kleiderfrage. Als Beamter am hiesigen Finanzamt schob er eher eine ruhige Kugel. Die junge Frau war mindestens acht Jahre jünger als Harald. Sie war mit ihren Eltern erst vor ein paar Monaten als Spätaussiedlerin aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Mit ihrer untersetzten Figur war sie nicht gerade eine Schönheit, aber darauf kam es ja nicht an. Elena sprach recht gut Deutsch. Ihr Nachname Abel wies auf einen deutschen Ursprung hin. Sie erklärte uns, dass man zu Hause immer noch die deutsche Sprache und Gebräuche gepflegt habe.

Stefan und ich fanden sie sehr nett. Sie hatte gute Manieren und war ausgesucht höflich. Mit unseren drei Kindern verstand sie sich auf Anhieb bestens. Wir freuten uns für meinen Bruder und waren sicher, dass er eine gute Wahl getroffen hatte.

Nur meine Mutter war mit der Freundin meines Bruders nicht einverstanden. Sie verweigerte ihr die Begrüßung und regte sich lautstark darüber auf, wie ihr einziger Sohn es wagen könne, eine dieser Russlanddeutschen hier anzuschleppen. Das sei hochnotpeinlich. Aufgebracht rauschte sie davon und nahm am Familientisch von Manfred Platz.

Mein Vater tat mir leid. Er saß unter all den Menschen, die ihn sowieso nicht akzeptierten und mit denen er nichts anfangen konnte und wollte. Ihm war das Spektakel zu viel und ich bemerkte, wie er ein Glas Bier nach dem anderen und viele Obstbrände in sich hineinschüttete. In seinem schwarzen Anzug sah er aus, als wollte er zu seiner eigenen Beerdigung gehen. Sein aufgedunsenes Gesicht mit den ausgeprägten Tränensäcken und tiefen Falten sprach Bände. Die graue Gesichtsfarbe deutete daraufhin, dass es mit seiner Gesundheit nicht zum Besten stand. Zudem waren ihm die Äußerungen meiner Mutter wahrscheinlich sehr peinlich, die lauthals verkündete, dass sie so eine nicht als Schwiegertochter akzeptieren würde. Das könne sich ihr Sohn abschminken.

Während meine Mutter zur Hochform auflief und vor lauter Stolz auf den tollen Schwiegersohn Manfred fast platzte, saß mein Vater still und in sich zusammengesunken dabei. Die schrille Stimme meiner Mutter drang durch den ganzen Saal. Sie trank mit jedem aus der neuen Familie Brüderschaft und alsbald war sie nicht mehr von der Tanzfläche wegzudenken. Wie peinlich, dachte ich. Nach dem Abendessen schnappte ich mir meinen Vater und brachte ihn nach Hause. Stefan hatte mir die Kinder abgenommen und brachte sie ins Bett. Auch mein Bruder Harald und seine Freundin Elena verließen das Fest.

Als ich mich von meinem Vater verabschieden wollte, fing er an zu weinen. Er bat mich, ihn zwei Tage später zu unserem Hausarzt zu begleiten. Meine Mutter hatte es abgelehnt, mit ihm zu kommen. Vor dem Ergebnis der vorhergegangenen Untersuchung hatte mein Vater Angst. Zudem war es ihm wichtig, dass eine zweite Person über den Befund informiert war, obwohl er jetzt schon sicher war, was die Diagnose ergeben würde. Ich versprach ihm, ihn zu begleiten und ihm zu helfen.

Die Diagnose war sein Todesurteil. Mein Vater litt an einer ausgeprägten Leberzirrhose. Der Arzt machte ihm keine Hoffnung, dass er noch lange leben würde. Mein Vater bat mich, meiner Mutter nichts zu sagen. Er wollte sie informieren, wenn er es an der Zeit fand.

Eigentlich hätte ich ihn nicht alleine zurücklassen dürfen. Ich fühlte mich schuldig, als mich mein Bruder am nächsten Morgen anrief und mir mitteilte, dass mein Vater gestorben sei. Er hatte ihn tot in seinem Bett aufgefunden. Meine Mutter war schon längst wieder aus dem Haus, um sich mit irgendeiner ihrer Freundinnen zu treffen. Erst bei ihrer Rückkehr am frühen Nachmittag erfuhr sie von dem Tod ihres Ehemannes. „Jetzt hat er es endlich hinter sich“, sagte sie bissig und überließ alles Weitere meinem Bruder und mir.

Unser Hausarzt stellte den Tod fest und gab den Leichnam zur Beerdigung frei. Ob ihm aufgefallen war, dass mein Vater mit Tabletten nachgeholfen hatte, konnte ich nicht sagen. Aber wenn, dann hatte er einfach so getan, als ob mein Vater schneller als gedacht an der diagnostizierten Krankheit gestorben sei.

Doch dann ging das Übel erst richtig los. Mein Bruder und ich organisierten die Beerdigung und den anschließenden Leichenschmaus in einem Wirtshaus. Viele Mitarbeiter aus dem Finanzamt nahmen an der Beisetzung teil. Von ihnen erst erfuhr ich, dass mein Vater ein geachteter Vorgesetzter gewesen war. Das freute mich im Nachhinein für ihn.

Danach kam die engste Familie noch mit in unser Elternhaus. Mein Schwager Manfred fragte meine Mutter, kaum dass wir saßen, ob es denn ein Testament gäbe. Meine Mutter sagte, dass sie davon nichts wisse, aber sie würde als zurückbleibende Ehefrau ohnehin alles erben.

Mein Schwager Manfred machte ihr klar, dass ohne Testament ihr nur die Hälfte des Hauses zustand und die andere Hälfte den drei Kindern. Ich versicherte sofort, dass ich nicht an einem vorzeitigen Erbe interessiert sei und meine Mutter gern im Haus bleiben könnte. Auch mein Bruder sah das so. Doch unser Schwager bestand auf einem Drittel der zweiten Hälfte, die uns Kindern zustand. Er benötige das Geld für die Einrichtung seiner Praxis.

Schon war der Streit ums Erbe da. Bisher hatte ich immer nur von anderen gehört, dass die Familien sich beim Erben uneinig wurden und auseinanderbrachen. Alles Zureden von mir und Harald nützte nichts, Manfred bestand auf der Auszahlung.

Meine Mutter verfügte über kein Barvermögen. Sie hatte die Ersparnisse in den letzten Jahren aufgebraucht.

Stefan machte mir den Vorschlag, meine Schwester Ulla und ihren raffgierigen Mann Manfred auszuzahlen, damit meine Mutter im Haus bleiben könnte. Harald schlug vor, zu unserer Mutter in unser Elternhaus zu ziehen und sich um sie zu kümmern. Dafür sollte das Haus in seinen Besitz übergehen. Ich wollte sowieso nichts haben. Uns ging es ausgezeichnet und um Geld würde ich mich nicht streiten.

Es lief dann alles gut, bis mein Bruder seine Freundin Elena heimlich heiratete und sie zu ihm in unser ehemaliges Elternhaus zog.

Meine Mutter entwickelte sich zur Furie und machte ihrer Schwiegertochter das Leben zur Hölle. Sie beanspruchte den größten Teil des Hauses und verlangte, dass Elena für sie putzte und sie am Wochenende bekochte.

Wann immer meine Mutter ihre illustren Gäste einlud, verlangte sie, dass die Schwiegertochter die Gäste bediente. Es war klar, dass das nicht lange gutgehen konnte.

Die blaue Stunde

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