Читать книгу Die blaue Stunde - Jule Heck - Страница 28
Kapitel 23
ОглавлениеStefan und ich machten unser Versprechen gegenüber Paul und Thomas wahr und flogen im Frühjahr 1986 nach Neuseeland. Die Kinder blieben bei unserer Kinderfrau. Auf der anderen Seite der Welt wurden wir herzlich empfangen.
Paul und Thomas nahmen sich Zeit und zeigten uns die Nordinsel des Inselstaates. Wir waren begeistert von der Vielfältigkeit der Landschaft, den kleinen Städtchen und der Offenheit und Freundlichkeit der Menschen, vor allem von der Herzlichkeit der Ureinwohner, den Maori.
Wir freuten uns mit Paul und Thomas, dass sie dort so erfolgreich arbeiteten und viele Freunde gefunden hatten, die uns mehrfach in ihre Häuser einluden. Paul und Thomas fühlten sich dort wirklich wohl, sie passten dorthin.
Die Südinsel wollten wir alleine mit dem Auto bereisen. Doch bevor wir starteten, erhielten wir einen Anruf aus Deutschland. Stefans Vater war ganz plötzlich, ohne Vorwarnung durch eine Krankheit, im Alter von 64 Jahren verstorben. Wir mussten so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren und meiner Schwiegermutter zur Seite stehen.
Paul begleitete uns. Für ihn war es selbstverständlich, dass er an der Beisetzung seines Vaters teilnahm, obwohl er ihn nie wieder gesehen und sich auch nicht mit ihm versöhnt hatte. Thomas blieb auf der Insel zurück. Er traute sich den langen Flug zum jetzigen Zeitpunkt nicht zu. Ihm ging es gesundheitlich nicht gut. Ich machte mir Sorgen um ihn. Schon bei unserer Ankunft war mir aufgefallen, dass er sehr schmal geworden und nicht mehr so belastbar war. Aber ich fragte nicht, was los war. Zwar hatte ich eine Ahnung, hoffte aber, dass diese nicht zutreffen würde.
Zur Beerdigung meines Schwiegervaters waren Hunderte von Menschen erschienen. Die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt war voll von Verwandten, Mitarbeitern und Freunden der Schwiegereltern. Nicht nur der katholische Priester, sondern auch der Bürgermeister und der Parteivorsitzende hielten würdige Reden. Viele seiner Parteifreunde gaben ihm das letzte Geleit.
Poldi war 1948, im Geburtsjahr seines Sohnes Paul und Gründungsjahr der Bundesrepublik Deutschland, in die CSU eingetreten. Die Partei war ihm immer wichtig gewesen. Vor allem Franz Josef-Strauß, der seit 1978 Ministerpräsident von Bayern war, verehrte er sehr. Poldi wäre sicher untröstlich gewesen, wenn er noch erlebt hätte, dass sein Idol nur wenige Jahre später ebenfalls bei einer Jagd den Tod fand.
Ich war ja der Meinung, dass bei Jubiläen, runden Geburtstagen sowie Trauerfeiern immer am meisten gelogen wurde, doch in diesem Fall trafen die Worte der Trauerredner wirklich zu, die meinen Schwiegervater als wichtigen und ehrenhaften Bürger der Stadt beschrieben. Soziale Einrichtungen hatten von den stets großzügigen Spenden meines Schwiegervaters profitiert. Er war ohne großes Aufsehen dort eingesprungen, wo es notwendig war.
Hunderte von schwarz gekleideten Menschen folgten Poldis Sarg zu den Klängen eines Trauermarsches zur Grabstätte der Familie Burger, wo er neben seinen Eltern beigesetzt wurde. Während der Sarg in die Tiefe gesenkt wurde, verabschiedeten sich die Vereinskameraden des Schützenvereins durch Salutschüsse von ihrem langjährigen Mitglied Leopold Burger.
Es war eine würdige Trauerfeier. Poldi hätte sie bestimmt gefallen. Der anschließende Leichenschmaus, zu dem meine Schwiegermutter die anwesenden Trauergäste eingeladen hatte, sprengte alles bisher Dagewesene. Hier wurde nicht nur gut gegessen, sondern vor allem viel getrunken. Die Vereinskameraden gedachten des Verstorbenen mit einigen Runden Schnaps.
Am Tag nach der Beisetzung erfolgte die Testamentseröffnung. Meine Schwiegermutter erhielt die Villa samt Inventar und das gesamte Privatvermögen. Die Firma ging zur alleinigen Bestimmung mit all seinen Immobilien an Stefan und mich über. Mein Schwiegervater hatte darauf bestanden, dass mir von allem die Hälfte zugesprochen wurde. Ich war überrascht, dass er mich so großzügig bedacht hatte. Selbst wenn er das nie so hatte zeigen können, wusste ich doch, dass er mich sehr mochte.
Paul wurde nicht einmal in dem Testament erwähnt, so als hätte es ihn nie gegeben. Das tat mir leid. Nun hatte er seinen Vater verloren, ohne dass er sich mit ihm hatte aussprechen können. Sie hatten sich seit seiner spontanen Abreise nie wiedergesehen, geschweige denn ein paar Worte am Telefon gewechselt. Mein Schwiegervater hatte ihn vollkommen aus seinem Leben gestrichen. Paul war traurig, aber eigentlich hatte er nichts anderes erwartet und das Erbe war ihm sowieso nicht wichtig. Es käme ihm nicht in den Sinn, ließ er uns wissen, seinen Pflichtteil einzuklagen. Er wollte so schnell wie möglich zurück nach Neuseeland zu Thomas, dessen Gesundheitszustand sich rapide verschlechterte.
Stefan bat ihn zu bleiben und die Firma mit ihm gemeinsam zu leiten. Paul sollte als gleichberechtigter Partner einsteigen. Stefan setzte sich mit diesem Wunsch über das Testament seines Vaters hinweg. Paul freute sich zwar über Stefans Angebot, doch er wollte zunächst darüber nachdenken und mit Thomas reden, bevor er sich entschied und womöglich seine Zelte in Neuseeland abbrach. Stefan stimmte einer Wartezeit zu, bat ihn aber, mit seiner Entscheidung nicht zu lange zu warten.
Vier Wochen später kehrten Paul und Thomas nach Deutschland zurück. Es war wohl weniger Stefans Angebot, dass sie zur Rückkehr zwang, als die Krankheit, die Thomas heimgesucht hatte. Es war klar, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und er wollte gern seine Eltern noch einmal sehen.
Paul sprach von Krebs, doch ich wusste, dass es sich in Wirklichkeit um Aids handelte. War es zu Beginn der 80-iger noch nicht so bekannt, war es Ende des Jahrzehnts ein Thema für die Politik geworden. Die Krankheit betraf hauptsächlich Drogenabhängige, Personen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr, die sich nicht entsprechend schützten, sowie Homosexuelle.
Thomas tat mir so leid. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, dass er so unachtsam gewesen sein sollte und in früheren Jahren nicht auf sich geachtet hätte. Paul erzählte mir eines Tages, ohne dass ich ihn gefragt hätte, wie Thomas nach einem Arbeitsunfall eine Bluttransfusion erhalten hätte, die wohl aus einer infizierten Spende stammte.
Paul verhielt sich vorbildlich. Er umsorgte Thomas so gut es ging. Doch er wollte ihn nicht länger in seiner Wohnung lassen. Meine Schwiegermutter, die nun in der riesigen Villa allein lebte, bot beiden an, zu ihr zu ziehen. Sie besorgte eine Pflegerin, die sich um Thomas kümmerte, wenn Paul nicht zu Hause war. Unser Hausarzt kam, so oft es nötig war. Er hatte sich mit der Krankheit befasst und unternahm alles, damit es Thomas erträglich ging. Thomas wollte auf keinen Fall in ein Krankenhaus eingeliefert werden.
Stefan und Paul arbeiteten sehr gut zusammen. Stefan betreute ausschließlich Großobjekte, Paul übernahm die Ein- und Zweifamilienhäuser sowie die Planung von Ferienhäusern. Die Firma expandierte. Thomas hätte als Architekt gut mitarbeiten können. Doch seine Krankheit machte ihn immer schwächer und fesselte ihn schließlich ans Bett.
Thomas Eltern besuchten ihren Sohn so oft wie möglich. Sie wollten die letzte Zeit mit ihm verbringen, nachdem sie ihn jahrelang nicht gesehen hatten. Ich besuchte Thomas ebenfalls ab und zu, saß neben seinem Bett und hielt ihm die Hand. Er erzählte mir von dem Leben in Neuseeland und ich hörte ihm aufmerksam zu.
Ich bewunderte meine Schwiegermutter, die immer alle herzlich willkommen hieß und vor allem Thomas Eltern wie gute Freunde behandelte. Nie kam ein böses oder anklagendes Wort über ihre Lippen.
Paul blieb die letzten Wochen nur noch bei Thomas. Er wich nicht von seiner Seite und kümmerte sich gemeinsam mit der Pflegerin liebevoll um seinen Partner.
Ein Jahr, nachdem die beiden zurückgekehrt waren, starb Thomas in Pauls Armen. Er war gerade mal 37 Jahre alt geworden. Paul war untröstlich. Ich half ihm, die Beerdigung auszurichten, die nur im Familienkreis stattfand. Nach einigen Wochen wurde ein Marmorstein am Ende von Thomas Grab errichtet, der die Form einer Welle hatte. Thomas hatte das Meer geliebt.
Ich sprach viel mit Paul und hörte ihm zu, wenn er an Thomas dachte. Meine Schwiegermutter kümmerte sich rührend um ihren Sohn und auch Stefan zeigte viel Verständnis für den Kummer seines Bruders.
Da ich sehr viel mit Paul zusammenarbeitete, konnte ich ihn immer auffangen, wenn es ihm schlecht ging. Er trauerte intensiv um Thomas, verbrachte viele Stunden auf dem Friedhof, stand an seinem Grab und sprach mit ihm, vergoss ein Meer aus Tränen. Jeden Sonntag brachte er einen wunderschönen Blumenstrauß ans Grab, je nach Jahreszeit gebunden.
Wenn ich sonntags das Grab meines Vaters aufsuchte, es befand sich ein paar Reihen hinter Thomas letzter Ruhestätte, ging ich auch an das Grab von Pauls verstorbenem Partner. Hier traf ich mitunter meinen Schwager, dessen tiefe Trauer mich berührte.