Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 16
ОглавлениеEin weiteres Kräuterbündel wanderte zu den übrigen in Marys Korb. Erschöpft von der anstrengenden Bückerei strich sie die aus ihrem Zopf gelöste silberne Strähne aus dem Gesicht. Verwundert registriere sie, wie dunkel es im Wald geworden war. Prüfend schaute sie nach oben, verdutzt über den grauen Himmel. Als sie das Haus verließ, war dieser strahlend blau und nirgends eine Wolke zu sehen.
Eine aufkommende Brise ließ Mary fröstelnd die Schultern hochziehen. Auffallend kühl war es zudem geworden! Sie knöpfte die dicke, blau-melierte Wolljacke zu, die sie zu einem Jeansrock trug. Der leichte Luftstrom entwickelte sich zu einem kräftigen Wind. Deutlich hörbar raschelte das Laub. Heftig pfiffen die Böen in das Astwerk der Bäume, das sich widerstrebend im Luftzug wiegte, als wenn es diesem entkommen wollte. Tosen und Brausen erfüllte den Wald. Dann herrschte schlagartig Stille. Der Boden war übersät mit gefallenen Blättern. Die Kälte und die Dämmerung nahmen zu, Marys Unbehagen ebenfalls.
"Im Wald ist es immer dunkler. Vielleicht fängt es gleich an, zu regnen", versuchte sie die aufkommende Beklommenheit zu verjagen.
Gierig zog sie die Luft durch ihre bebenden Nasenflügel. Der Duft des Waldes sollte sie entspannen. Indessen roch er heute nicht wie sonst, nicht nach Wald, Erde und Moos. Ein Duft von Fäulnis durchwogte die Luft, überdeckte die ihr vertrauten und geliebten Gerüche. Ein anderer, ihr unbekannter Duft überlagerte alle Aromen. Sie schnüffelte erneut, um ihn zu identifizieren. Ihr Unterbewusstsein meldete ihr, dass sie keine Vögel hörte.
Mary lauschte angestrengt, vernahm weder zwitschernde Vögel, noch das Knacken oder Rascheln von irgendwelchen kleinen Tieren, die sich auf dem Boden oder im Blätterwerk bewegten. Eine absonderliche Atmosphäre beherrschte den Wald, der wie losgelöst von der Zeit wirkte. Die Natur schien auf irgendetwas zu warten.
Mary erschauderte. Gerne wäre sie nach Haus gegangen, indes sie brauchte unbedingt noch Kräuter. Sie zwang die unheilvollen Gefühle beiseite und beschloss, sich zu beeilen. Rasch bückte sie sich, knickte die Halme des Johanniskrauts und legte sie zu den anderen Pflanzen. Sie sammelte ein paar Bucheckern ein, Kamille, Melisse außerdem Bilsenkraut.
Nach geraumer Zeit erhob sie sich stöhnend, bog den Oberkörper durch. Mit beiden Händen stützte sie ihren schmerzenden, unteren Rücken. Wenn gleich Mary trotz ihrer Achtziger, noch sehr rüstig war, strengte das ständige Bücken sie an. Sie streckte und reckte ihren verkrampften Körper. Gleichzeitig schaute sie forschend umher.
Die Fremdartigkeit des geliebten Waldes weckte erneut diffuses Unbehagen. Ihre Beklommenheit wuchs, steigerte sich zur Angst. Zitternd suchte sie die Quelle ihrer inneren Spannung auszumachen, ergebnislos. Das Atmen fiel Mary zunehmend schwerer. Eine Ahnung beschlich sie:
"Konnte es möglich sein? Die Tage werden bereits kürzer. Der Winter steht vor der Tür, da wird es früher dunkel", verwarf sie schnell die aufgekommene Befürchtungen. Obwohl sie sich bemühte, gelang es ihr nicht, das "Aber" abzuschütteln, zumal sie feststellte, wie ungewöhnlich kalt es für die Jahreszeit war. Wind und Kälte nahmen zu. Dies und der penetrante Gestank brachten sie dazu, nun eilig den Ort zu verlassen. Als sie den Pfad erreichte, der zur Hauptstraße Angeltowns führte, atmete sie befreit auf, hastete jedoch weiter, die verblassten Schutzzeichen am Haus vor Augen. Wiederholt drehte sie sich um, schaute fragend, besorgt, auf den Wald, der heute so bedrohlich anmutete. Hastig schlug sie das Kreuzzeichen, küsste Mittel- und Ringfinger und deutete mit ihnen auf den Wald. Mary hoffte mit dem Mala fide Zeichen das Bösen, das im Wald lauerte zu bannen und es vom Ort und den Menschen fernzuhalten.