Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 3

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Der Traum

Die Kleinstadt lag im Dunkeln. Lichtlose Fensterhöhlen schauten auf verwaiste Straßen. Schwer summend schwebte der Ton der Kirchturmuhr durch den Ort, unbeirrt davon, ob jemand ihm Beachtung schenkte.

Den braunen Teddy im Arm durchlief das Kind soeben die Tiefschlafphase:

Im Traum sah es auf die Siedlung herab: Es erfasste den Weg, der aus dem Ort herausführte. Dunst wabte außerhalb der schlafenden Stadt, über den Feldern und Wiesen, da, wo die Schafe weiden. Trotz des Nebels erkannte der Junge deutlich den Pfad, der sich hinauf bis in den Forst schlängelte. Das Kind schauerte im Schlaf, es mochte den Wald nicht, kam ihm bedrohlich vor, als wollte er ihn verschlingen. Oberhalb der Baumwipfel wurde es zögerlich heller, behäbig stieg der Mond über den Baumkronen empor. Es war Vollmond. Und heute zeigte er sich zum letzten Mal. Ein Luftstrom streichelte die Bäume, erzeugte sanftes Rauschen, fuhr in das gefallene Laub, das den Waldboden bedeckte. Der Wind ließ die Blätter auf dem Boden tänzeln. Knisternd rieb das trockene Blattwerk gegeneinander. Bezeugt vom bleichen Auge des Erdtrabanten schälte sich aus dem Dunkel des Unterholzes eine Gestalt. Suchend sah sie umher, stellte sich unter die uralte Eiche. Schwarzes Haar flatterte in dem Lüftchen, das allmählich an Stärke gewann. Dem Jungen kam diese Erscheinung bekannt vor. Er wusste, er hatte sie bereits einmal gesehen.

Das Wesen erweckte einen düsteren Eindruck, wie es da stand und auf den Ort starrte. Irgendetwas beschäftigte es unmäßig. Nach einer Weile reckte sich das Geschöpf, stellte sich dabei auf die Zehenspitzen. Anschließend ging es in die Hocke, stieß sich ab, sprang in die Höhe und verschwand. Die Blätter der Eiche raschelten heftig. Protestierend breitete eine Eule, die dort Posten bezogen hatte, ihre Schwingen aus. Krächzend flog sie davon. Das Blattwerk des knorrigen Baumes sah deutlich dunkler aus.

Der Mond, der über den Wipfeln leuchtete, warf einen bizarren Schatten auf die Erde. Eine Zeitlang verharrte er, schickte gelbes, kaltes Licht auf das Land. Schließlich wanderte er weiter, hinunter zum Ort. Sein kühler Schein streifte die Gebäude, die unbelebt in der Dunkelheit standen. Forschend schien er mal in jenes, mal in ein anderes Fenster. Ein Haus mit hellblauen Schindeln, schützend von einem weißen Lattenzaun umgeben, ließ ihn innehalten. Zielbewusst kletterte er die blaue Hauswand empor. Am Sprossenfenster des ersten Stockes hielt er inne, betrachtete die Gestalt im Bett. Der Mond lächelte triumphierend. Suchend tastete sein Schein im Zimmer umher, verharrte erneut auf dem Antlitz des Kindes.

Die Helligkeit störte den Kleinen nicht. Er schlief den Schlaf der Unschuldigen.

Nach geraumer Zeit verschwand der Mond hinter bleischweren Wolkenklumpen.

Von irgendwoher ertönte jämmerliches Fiepen, steigerte sich zum Winseln, um in verhaltenes Bellen umzuschlagen, das zu drohendem Knurren wuchs.

Das von der Sommersonne gebräunte Gesicht des Jungen erbleichte. Kalkweiß, wie die Zimmerwände, sah es aus, fortgewischt, der friedliche Gesichtsausdruck. Gleich einer Statue lag er da. Die vor Kurzem lächelnden Lippen aufeinander gepresst, lediglich nur als Strich zu erkennen. Unruhig zitternd fuhren zarte Armee auf der Bettdecke umher. Die zu Fäusten geballten Hände hämmerten verzweifelt auf die Zudecke. Abwehrend streckte der Junge die Arme vor, sein Leib zuckte. Er drückte den Körper nach oben, als wollte er etwas abschütteln. Das geschah dermaßen heftig, dass der geliebte Teddy auf den Boden fiel. Erschrocken glotzten die Glasaugen des Teddys zur Zimmerdecke.

Unverständliche Worte flossen über die bläulichen Lippen des Jungen. Regungslos lag er auf dem Bett, öffnete dann ruckartig die Augen. Grauen erfüllt starrten sie nach oben. Die schmächtige Kinderbrust hob und senkte sich heftig.

Er hörte sie noch, diese flüsternden Stimmen, sah noch ihre grässlichen Gesichter, ihre grauenhaften Gestalten, die um ihn herum tanzten:

"Komm mit uns. Du gehörst zu uns", raunten sie ihm zu. Die Wesen ließen nicht von ihm ab, zerrten an ihm. Sie sollen endlich damit aufhören! Der Junge steckte in dem eigentümlichen Moment zwischen Wachsein und Schlafen. Er wusste, ein Traum hielt ihn gefangen und er war nicht im Stande, diesen zu ändern. Wenn er sich aber konzentrierte, war es vielleicht möglich, das Geschehen zu manipulieren. Er musste die Realität herbeizwingen. Abrupt setzte er sich auf, als würde es passieren, wenn er es inbrünstig wünschte. Schutz suchend beugte er den Oberkörper vor, riss den verkniffenen Mund auf. Dann schrie er. Schrille, panische Schreie bahnten sich ihren Weg. Warm lief es seine Beine entlang. Das war ihm egal. Er wollte nur schreien!

Mit besorgten Gesichtern stürmten die Eltern, April und Rick Falcon ins Zimmer. Bei den ersten Aufschreien wussten sie, Norman plagte wieder einen dieser Albträume. Dessen ungeachtet fragte Rick:

"Was ist los? was ist passiert!"

Forschend huschten seine Augen durch das Kinderzimmer. Mit gewollt lässigen Schritten trat er zum Fenster, überprüfte es betont auffällig.

Selbstverständlich war es verschlossen, dachte, wusste er, kontrollierte es jedoch trotzdem, wie er es immer tat. Er setzte sein "Es-ist-alles-in-Ordnung-Gesicht" auf, checkte, wie stets die Schränke. Norman sollte sich behütet wissen. "Das unter-dem-Bett-Gucken" unterließ er heute. Das Vorherige musste zur Beruhigung ausreichen.

Rick war hundemüde, wollte zurück ins Bett. Ein schlechtes Gewissen beschlich ihm augenblicklich bei diesem Wunsch. Aprils Miene bestärkte das Gefühl zusätzlich. Sie drehte ihr Gesicht beiseite, hob indigniert eine Augenbraue, wie immer, wenn sie ungnädig war. Ihr vorwurfsvoller Blick malträtierte ihn. Schließlich bückte sie sich, holte das Versäumte nach:

"Niemand unter dem Bett, Liebling", versicherte sie.

Tränen stiegen in Normans graue Augen auf. Rasch setzte sie sich auf die Bettkante, nahm ihn tröstend in die Arme. Zärtlich strich sie ihm die feuchten, blonden Haarsträhnen aus dem verschwitzten Gesicht, lächelte ihn liebevoll an. Während sie beruhigend auf ihn einredete, wiegte sie ihn sanft. Die besorgten Augen der Eltern trafen einander:

"Wann hören diese Albträume endlich auf," dachten sie.

Eine Weile genoss Norman die Geborgenheit der mütterlichen Arme. Dann strebte er fort, wollte zum Vater,überlegte:

"Dad war stärker als Mama, würde ihn besser beschützen. Außerdem ist Dad der Sheriff".

Normans Lippen zitterten. Zaghaft lächelte er, in der Hoffnung, dies könnte die Furcht vertreiben. Über Ricks Schultern gewahrte er Linny. Zitternd stand seine ältere Schwester in der Tür. Ihre braune Augen schauten sie verängstigt an. Die blonden Haare, vom Schlaf zerzaust, umgaben wirr ihren Kopf. Norman staunte:

"Linny hatte ja Angst!" Nie zeigte sie sich ängstlich, tat immer erfahren und unerschrocken.

"Was ist los? Warum seid ihr alle auf?" Fragte sie.

"Dein Bruder hat schlecht geträumt," antwortete Rick.

"Ach, so".

Linny dehnte das "so", ungerührt sollte es klingen, Ihre bebende Stimme widersprach dem.

Rick nahm Norman auf den Arm, schritt mit ihm zur Tür. Der Junge hoffte, bei den Eltern übernachten zu dürfen.

"Heute Nacht schläfst du bei uns," entschied sein Dad im selben Moment.

April bemerkte den nasse Pyjama:

"Einen Augenblick Rick. Norman braucht einen frischen Pyjama."

Irritiert musterte Linny den Raum. Etwas war anders, aber was? Sie sah auf den Boden, hob den Teddy auf. Sie umklammerte das Plüschtier, sah beklommen umher, entdeckte nichts Ungewöhnliches. Doch dieses ungute Gefühl blieb. Eisig kroch es ihr über den Nacken, wie eine Raupe, die sich zu ihrem Kopf vortastete. Erstaunliche Kälte beherrschte den Raum. Schaudernd umfasste das Mädchen ihre Oberarme. Merkten die Anderen das nicht? :

"Komisch diese Eiseskälte. Heute war es doch warm!"

Ein erneuter Kälteschauer rollte ihren Rücken entlang, schüttelte ihren Oberkörper. Die eigentümliche Kühle haftete nicht nur an der Oberfläche ihres Körpers, sondern füllte das Innere ihres Bauches, stieg empor bis zum Hals. Ein Druck lastete auf ihrer Brust. Das Druckgefühl nahm zu. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Namenlose Angst, sie wusste nicht weshalb, packte sie:

"Ich muss mich verstecken", dachte sie, rannte auf dem Flur. Zögerlich folgte sie der Familie:

"Eigentlich bin ich zu groß, um im Bett von Mum und Dad zu schlafen."

Es beruhigte sie unendlich, dass ihr Vater sagte:

"Komm her Linny, wir wollen zusammen kuscheln."

Geborgen lagen die Kinder zwischen den Eltern:

"Dad, ich habe nicht geträumt. Sie sind in echt da gewesen. Die Monster wollten mich holen", murmelte Norman, bereits halb im Schlaf.

"Alles gut!"

Obscuritas

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