Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 21
ОглавлениеDer Fremde
Die schwarz gekleidete Gestalt stolzierte die Hauptstraße des Ortes entlang. Der Mann kannte die Stadt, war schon viele Male auf ihren Wegen geschritten, hatte die Menschen so wie jetzt prüfend gemustert, sie sortiert.
Aus einer Werkstatt drang Lärm an seine sensiblen Ohren. Lauschend neigt er den Kopf, eine Ohrmuschel der Geräuschquelle zugeneigt. Lautstark stritten dort eine männliche und eine weibliche Person.
"Du bist gemein Dad, warum darf ich nicht zu Tante Maude."
"Weil ich das nicht will."
"Aber du hast es mir versprochen."
"Ich habe es mir eben anders überlegt. Basta!"
"Das heißt, ich muss den ganzen trüben Herbst und Winter in diesem Kaff hocken und zusehen, wie alle wieder durchdrehen?"
"Was du dir immer einbildest. Du hast eine zu lebhafte Fantasie. Deshalb bin ich auch dagegen, wenn du in der Weltgeschichte herumkutschierst. Wer weiß, was du da anstellst. Außerdem kostet uns dieses Vergnügen zu viel Geld. Alleine schon die Fahrkarte! Und die liebe Tante Maude füttert dich bestimmt nicht umsonst. Taschengeld für unnötiges Shoppen willst du sicher auch. Nee, es bleibt dabei, du bleibst hier, damit ich dich besser im Auge behalten kann."
Wütend stampfte Ava mit dem Fuß auf, zornig blitzenden funkelten den Vater an:
"Ich hasse dich. Du bist ein Arschloch."
In Rage rannte das Mädchen aus der Werkstatt, schlug die Tür krachend dabei zu. Tränen der Wut verschleierten ihr die Sicht, weshalb sie den Fremden nicht sah und mit ihm zusammenstieß. Der hielt sie an beiden Oberarmen, um sie vor dem Stürzen zu bewahren.
Dunkle, fast schwarze Augen musterten Ava intensiv. Zu aufdringlich, irgendwie prüfend, fand sie. Die junge Frau schauerte bei dem forschenden Blick. Gleichzeitig überzogen wohlige Schauer ihren Körper. Bis diese Augen sich veränderten. Ein seltsames Glühen glomm in der Tiefe. Ava fror entsetzlich. Sie erschrak, riss sich los und rannte die Straße herab nach Hause.
Der Fremde schaute ihr hinterher. Ein blasiertes Lächeln kräuselt seine Lippen:
"Avaritia und Acedia wären die Richtigen für die Beiden," überlegte er. Flüsternd ging er weiter:
"Ein Wesen muss genommen werden und es beginnt."
Anerkennend stellte er fest, dass die Stadt schöner aussah als vor dem großen Brand. Bilder des flammenden Infernos zogen im Geist an ihm vorbei, ließen ihn genussvoll grinsen. Kritisch huschten seine Blicke umher, blieben an der Straße hängen. Es missfiel ihm gehörig, wie die beiden Hauptstraßen, auf dessen Kreuzung die Kirche stand, angelegt waren. Ein unwilliges Knurren entschlüpfte ihm.
Der Ort, den er aufsuchen wollte, lag, wie in den meisten Niederlassungen, neben dem Gotteshaus. Abermaliges Knurren entfuhr ihm, bei dem Gedanken, es passieren zu müssen. Er schlug einen weiten Bogen, beschleunigte den Schritt, als er am Kirchengebäude vorbei ging. Unbehaglich stellte er den Kragen seines Umhangs hoch, als sollte der ihn vor irgendetwas schützen.
Die Bürger musterten ihn verstohlen, verwundert über den Fremden, der außerhalb der Saison auftauchte. Sie tuschelten miteinander, wollten ihn genauer ansehen, mehr über ihn wissen. Jedoch die Düsternis, die ihn umgab, schreckte sie davon ab, ihm näher zu kommen.
Der Unbekannte bemerkte dies alles. Nicht nur die Stadt hatte kaum einen Wandel erfahren, auch die Menschen, die in ihr lebten, waren im Wesen gleich geblieben. Er war zufrieden mit dem, was er sah:
"Diesmal musste es gelingen. Diese Stätte sollte endlich ihm gehören."
Die Neugierde der Bewohner störte ihn keineswegs. Er war solches Verhalten gewohnt, genoss es. Genießerisch blähten sich seine Nasenflügel. Er roch ihre Furcht. Gierig saugte er diesen Duft ein, wieder und wieder. Bald würde er im Aroma der Angst baden.
Ungerührt setzte er seinen Weg fort, dahin, wo die meisten Leute zusammenkamen. Das war in jeder Siedlung, die er besuchte, immer der gleiche Ort - die Dorfschenke.