Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 6
ОглавлениеDie Kinder
Verabschiedend winkte April Rick vom Küchenfenster zu, eilte dann umgehend zur Kaffeemaschine, um ihre Tasse aufzufüllen.
"Ein paar Minuten noch, bitte."
Sie schaffte genau vier, da hörte sie Norman und Linny von oben. Sie lauschte:
"Gut, sie toben im Badezimmer. Da habe ich noch eine Galgenfrist."
Den lebhaften Stimmen nach schienen die Kinder zu streiten. Morgens fehlte ihr dafür einfach noch die Geduld. Erfreulicherweise begann ihr Dienst heute erst zur dritten Stunde, Zeit, den Tag entspannt zu starten. Steve Harrison, der neue Kollege, erteilte vorher Sport.
Grübelnd runzelte sie die Stirn, als sie an den Lehrer dachte. Seit knapp sechs Wochen unterstützte er sie jetzt. Sie war froh über seine Hilfe, wurde gleichwohl einfach nicht warm mit ihm. Bisher kannte sie Probleme in dieser Richtung nicht. Ihr aufgeschlossenes Naturell nahm jeden sofort für sie ein.
Unaufhaltsam rückten die Geräusche der lärmenden Kinder näher. Schon hörte sie die Beiden die Treppe hinunter poltern und beschloss, die Ohren auf Durchzug zu stellen. Ergeben seufzend stand sie auf, um die Schalen mit den Cornflakes zu füllen.
Ihre Tochter stieß die Küchentür auf und brüllte:
"Mama, Norman will Halloween als Cowboy gehen. Wie doof ist das denn! Cowboys sind doch kein bisschen gruselig!"
April verzog ihr Gesicht ob dieser lautstarken morgendlichen Begrüßung.
"Denn eben als Sheriff!" maulte ihr Bruder nicht ganz so laut, aber laut genug.
"Ein Sheriff ist auch nicht gespenstisch. Schließlich muss er die Leute beschützen und dafür sorgen, dass niemand etwas Schlimmes tut. Oder findest du Dad vielleicht unheimlich."
"Nö, Dad ist der beste Sheriff der ganzen Welt."
"Genau! Halloween ist das Fest der Hexen, Gespenster und Geister. Und als so was musst du dich verkleiden. Du musst ordentlich gruselig sein, damit die Anderen Angst vor dir haben, sonst bekommst du nichts Süßes."
Ihr Bruder zog einen Flunsch.
"Kinder hört auf zu streiten. Bis dahin dauert es noch eine Weile. Da finden wir garantiert das Richtige für Norman."
Ihr Sohn strahlte sie an. Zufrieden machte er sich über die Schale mit den Schoko-Pops her.
"Hmm", Linny zuckte ihre Schulter, griff ebenfalls zum Löffel, krauste die Stirn und bemerkte dann altklug:
"Wenn du meinst, Mum, obwohl ich glaube, Normans Ideen dürften diesbezüglich ziemlich eingeschränkt sein."
Ihre Mutter verdrehte genervt die Augen, verzichtete jedoch auf eine Antwort. Wortlos packte sie die Lunchboxen, gab zuletzt Obst hinein und legte sie den Kindern auf den Tisch:
"Bitte geleert zurückbringen. Langsam wird es Zeit. Seht zu, dass ihr fertig werdet."
Lustlos standen die Angetriebenen auf. Halbherzig zockelten sie die Treppe hinauf.
"Ein bisschen dalli und Zähne putzen nicht vergessen", rief April hinterher.
Es währte nicht lange und die Kinder stürmten wieder herunter.
"Das ging aber schnell."
"Wir haben vorhin schon gründlich," konterte Linny, die genau wusste, was ihre Mutter meinte, und rannte aus der Haustür. Ihr Bruder, mit dem Rucksack kämpfend, folgte ihr nicht weniger eilig.
Nach den ersten hastigen Schritten verlangsamten die Kinder das Tempo. Missmutig schlenderten sie Richtung Schule.
"Am liebsten würde ich gar nicht hingehen", maulte Norman, der die erste Klasse besuchte.
"Ich auch nicht und dann noch Sport!"
Schweigend trotteten sie nebeneinander her.
Unsicher meinte Norman:
"Die Kinder sind in letzter Zeit anders. Irgendwie seltsam!"
Schüchtern schaute er Linny von der Seite an.
Bestätigend nickte sie mit dem Kopf:
"Ja, finde ich auch. Alles macht gar keinen Spaß mehr."
Norman staunte:
"Wenn seine Schwester das sagte, wo sie so gerne in die Schule ging!
"Sollen wir einfach nicht hingehen?" Fragte er zaghaft.
"Ne, das können wir nicht machen."
Linny fasste ihren Bruder bei der Hand. Verdattert schaute er zu ihr auf. Das tat sie sonst nie. Gemeinsam durchschritten sie das Schultor, von wo sie direkt auf den Schulhof gelangten. Dort tobte bereits etliche Schüler. Sofort kamen die Freunde auf sie zu gestürmt, drängten die Klassenkameraden lebhaft zu den jeweiligen Gruppen. Norman, unschlüssig darüber mitzugehen, fügte sich nach kurzem Hin-und-her-Schwanken dem Druck der Schulfreunde.
"Wir spielen Gummi-Twist", rief Shirley, Linnys Tischnachbarin."
"Oh toll, da mache ich mit!"
Linny war gut in dem Springspiel, gewann oft. Die Reihe war an sie. Geschickt sprang sie mit dem Gummiband in die Grätsche und zurück. Um ein Haar stürzte sie, da sie sich irgendwie verhedderte. Das passierte ihr sonst nie. Gerade noch konnte sie den Sturz verhindern. Die Anderen kicherten schadenfroh. Am liebsten hätte sie die Freundinnen angefahren, riss sich jedoch zusammen, zuckte lediglich nur lässig mit den Schultern und tat den Beinahe-Sturz so als unwichtig ab.
Neidisch schaute sie zu, wie Shirley einen Sprung nach dem nächsten meisterte. Eine andere, unangenehme Regung lenkte sie ab. In ihrem Rücken kribbeln es eigenartig. Das ungute Gefühl nahm zu.
"Jemand beobachtet mich", spürte sie:
"Wahrscheinlich amüsierte sich einer der Schüler immer noch über mein Missgeschick."
Kälte fächerte Linnys Haut. Ein eisiger Finger strich ihre Wirbelsäule entlang. Gänsehaut überzog ihren gesamten Körper. Furcht wallte in ihr auf. Es fühlte sich genau so an, wie gestern Nacht in Normans Zimmer. Beklommen wandte sie sich um.
Ein Unbekannter, durchweg in Schwarz gekleidet stand dort am Zaun. Dürre Hände mit viel zu langen, spitzen Fingernägeln umklammerten den Maschendraht. Unheimliche Augen starrte sie an. Selbst aus dieser Entfernung nahm Linny den funkelnden Blick wahr.
Der Mann grinste sie an und wandte sich dann dem Geschehen auf dem Schulhof zu, beobachte das Treiben intensiv. Ein Erstklässler entdeckte den Mann ebenfalls, lief auf ihn zu. Von einem Bein auf dem anderen hüpfend sprach er ihn an. "Du siehst aber komisch aus, warum trägst du so komische Sachen? Bist du ein Schauspieler?"
"Schauspieler?"
Irritiert sah der Fremden den Jungen an. Er runzelte die Stirn, schien zu überlegen, lächelte schließlich verstehend, ein Lächeln ohne Wärme. Jedes Wort mit Bedacht wählend, antwortete er mit hallender Stimme:
"Schauspieler ist nicht verkehrt, obwohl eigentlich weißt du, bin ich aus der Zeit gefallen."
Der Erstklässler schaute verständnislos, öffnete den Mund, setzte zum Fragen an.
"Jetzt hau ab", raunzte der Fremde.
Eingeschüchtert lief der Junge zurück, prallte dabei gegen Crystal Hammond. Enorme Wut pulsierte in ihn. Er kniff die Lider zu Schlitzen zusammen. Zugleich bombardierte er das entgeisterte Mädchen mit zornige Blicken:
"Eingebildete Kuh, ich hasste dich!"
Angriffslustig ballte er die Hände zu Fäusten, hätte am liebsten auf sie eingeschlagen, dache wutschnaubend:
"Die blöde Ziege meint, sie ist was Besseres! Allein schon diese piepsige Stimme! Wie die nervte! Ständig quasselte die Kuh. Er wollte diese Stimme abschalten, sie vernichten, Crystal Hammond auslöschen."
Überdeutlich blinkte ein Messer vor seinem inneren Auge. Es blitzte und funkelte, lockte ihn. Er bedauerte, kein Messer zu haben. Was könnte er damit alles machen! Er spürte regelrecht, wie es in den weichen Leib hineinglitt. Wohlige Schauer durchrieselten den Körper des Jungen. Ein schönes Gefühl! Wirklich schade, dass er kein Messer besaß. Es drängte ihm, die Tat zu vollbringen. Er musste gehen! Ein Messer besorgen!
Norman sieht den Mitschüler vor dem Fremden davonlaufen, beobachtet, wie dieser das Mädchen anstarrt. Sein Klassenkamerad ist wie verwandelt, sein Gesicht verzerrt, voller Hass. Norman bekommt Angst. Rasch schaut er fort, genau in die Richtung des Unbekannten, der immer noch am Zaun steht und den Jungen mit Blicken durchbohrte.
Norman kann die Augen nicht von dem Mann abwenden, ist wie gebannt. Langsam wendet sich der Fremde von dem Jungen ab, fixiert jetzt Norman. Vor Schreck weicht Norman einen Schritt zurück. In rasender Abfolge tauchen Bilder in seinem Kopf auf, Bilder aus seinen Träumen, von den Wesen, die ihn holen wollen. Norman spürt, etwas zerrt an ihm, will ihn haben. Er fühlt, diese dunkle Gestalt will Böses.
Er macht sich ganz steif, spannt jeden Muskel des Körpers an, selbst die Gesichtsmuskeln. Er sieht sein Gegenüber trotzig an, hält dessen Blick aus glühend leuchtenden Augen stand. Norman presst die Lippen aufeinander und kräuselte bewusst die Stirn, winzige Falten zeigen sich über der Nasenwurzel. Er will genau so finster aussehen wie der Fremde, will sich auf keinen Fall einschüchtern lassen. Der Mann ist böse und Norman will ihm zeigen, dass er es weiß. Gesichter erscheinen erneut in seinem Kopf, Bilder von Schamanen der Abnakis. Krieger, kämpfend, längst gestorben, huschen gedanklich vorbei. Ein absonderlicher Geruch, wie nach einem abgebrannten Feuerwerk, weht zu ihm herüber.
"Dieses Kind ist stark. Es gehört zu den Sehern" erkennt der Fremde, gibt trotzdem nicht auf, Norman seinen Blick aufzuzwingen.
Linny steht noch auf der gleichen Stelle, das Spiel längst unwichtig. Die Mädchen sind davongelaufen, jagen über den Schulhof, schubsen einander. Eine stürzt, weint, die anderen lachen gehässig. Auf der gegenüberliegenden Seite sieht sie Jungen, die mit Fäusten aufeinander losgehen. Ihr ist entsetzlich kalt. Das anarchische Treiben auf dem Pausenhof, die Kühle und der furchteinflößende Mann am Zaum wecken in ihr das Gefühl drohenden Unheils.
Als ihr diese Erkenntnis bewusst wird, springt ihr aus ihrem hektisch schlagenden Herzen Angst in die Kehle. Sie betet, Norman möge zurückkommen, aufhören, den Fremden anzustarren. Die Kälte nimmt zu. Die Furcht droht ihr das Herz zu sprengen. Die Kinder toben und laufen immer noch herum.
"Merken die denn gar nichts", denkt sie.
Sie ruft nach ihrem Bruder, drängelt, er soll endlich kommen. Erlösend kündigt die Schulglocke den Beginn des Unterrichtes an.
Norman wendet sich von dem Mann ab und läuft zurück. Erlöst zieht seine Schwester ihn ins Haus.