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Der Ort

Mit ausholenden Schritten strebte Rick durch die Stadt Richtung Friedhof.

Stadt war eigentlich zu hoch gestapelt. Es war eher ein Kaff. Ein Kaff mit 278 Einwohnern, aber ein ansehnliches Kaff, irgendwo am Atlantik, weit oben im Norden, in einer Bucht gelegen. In dem idyllischen Ort kennt jeder jeden, Geheimnisse blieben nicht lange geheim.

Ein stattlicher Wald mit knorrigen Eichen, ausladendem Ahorn und fast zwölf Meter hohen Dogwoods, Sweetgums, aus dessen Baumsaft man früher Kaugummi herstellte, sowie Sassafras, mit den unterschiedlich geformten Blättern, begrenzen Angeltown. Der Forst mit den uralten Bäumen reicht bis zur Schneegrenze der Berge, die sich majestätisch im Hintergrund erheben.

Der wolkenlosen, blauen Himmel prophezeite auch für heute wieder einen schönen Tag. Viele würde es davon nicht mehr geben, denn der Kalender zeigte bereits die zweite Oktoberwoche an.

Die Sonne brachte mit ihrem Licht die intensive Blattfärbung der Mischwälder, im und um den Ort, zum Leuchten. Das Laub gefärbt, in vielfältigen rot- und orangen Tönen sowie Gelb- bis hin zu Goldtönen verzauberte die Landschaft. Dieses Farbspektakel faszinierte nicht nur die Einheimischen. Vom Frühjahr bis zum Spätherbst bereisten Scharen von Touristen die kleine Stadt oben im Norden.

Angeltown ist ein Ort, den man gern besucht, um das echte New England kennen zu lernen. Man kann eine Menge Fotos von

dem alten Leuchtturm machen, oder faul am Sandstrand liegen und dem Rauschen der Wellen lauschen.

Auf einem sanften Hügel erbaut thront das Hotel. Es bietet einen herrlichen Blick über den Ort und das Meer. Restaurants, Geschäfte sowie Souvenirläden säumen die Hauptstraße, die die Einheimischen liebevoll spöttisch ihren Broadway nennen. Es gibt nicht viele Straßen in Angeltown, die Haupt- und eine Querstraße, des Weiteren etliche kleinere Gassen. An der Hauptverkehrsstraße findet man alle Ladengeschäfte, Lokalitäten, die Polizeistation, das Rathaus und die Feuerwehr. Die Schule mit dem Kindergarten und die Bar, der beliebteste Treffpunkt, stehen auf der Hauptquerstraße.

Ihre Kirche errichteten die Einwohner auf der Kreuzung der Haupt- und Querstraße. Parallel zur Hauptstraße erstreckt sich die Wohngegend. Der pastellfarbene Anstrich der Holzfassaden verleiht dem Ort ein anheimelndes Aussehen. Die perfekte Postkartenidylle.

In der Urlaubszeit platzt der Ort regelmäßig aus allen Nähten. Touristen fallen massenweise ein. Im Frühjahr und Sommer kommen die Gäste hauptsächlich aufgrund des schönen Sandstrandes. Im frühen Herbst lockt sie der berühmte Indian Summer.

In den Neuengland-Staaten an der US-Ostküste gilt das Sprichwort: "Was das ganze Jahr schön ist, ist im Herbst noch schöner."

Das Hotel konnte der Touristenflut nicht Herr werde. Dadurch bekamen die Einwohner die Gelegenheit, Zimmer zu vermieten. Sie waren dankbar für das Zubrot, denn Arbeitsplätze waren in Angeltown rar gesät, meist nur saisonal. Lediglich das Bistro, das Café wie auch die Restaurants verdienen in der Feriensaison ausreichend, um für den Rest des Jahres über die Runden zu kommen.

Der Indian Summer verabschiedete sich und mit ihm die Touristen. Das war in den letzten Tagen offensichtlich geworden. Für den Sheriff und seine zwei Gehilfen bedeutete das, weniger Arbeit.

"Irgendwer scheint da wohl schon Langeweile zu haben", dachte Rick. Eine andere Erklärung für den Unfug auf dem Friedhof fand er bis jetzt nicht. Aber er verbot sich, voreilige Schlüsse zu ziehen:

"Erst einmal den Ort des Geschehens sehen, dann wüsste er mehr."

Ein Schatten verdunkelte seine Sicht, fast wäre er mit jemandem zusammengestoßen. Irritiert bat er um Entschuldigung. Beim Hochblicken schaute er in das grinsende Gesicht von Steve Harrison, Aprils neuem Kollegen.

"Na, Chief, noch am Träumen? Ist auch noch reichlich früh," spöttelte dieser, feixte Rick mit strahlend weißen Reklamezähnen an und schlenderte lässig weiter.

Verdutzt den Lehrer so früh unterwegs zu sehen, schaute Rick ihm sprachlos hinterher:

"Weit weg von zu Hause der Typ," wunderte sich Rick:

"Reichlich früh für einen Morgenspaziergang!"

Eine anderweitige Möglichkeit kam ihn in den Sinn. Grinsend schaute er der davoneilenden Gestalt nach, bereute augenblicklich den Blick. Unwillkürlich ertastete seine Hand den Bauch, der im Begriff stand, der Six-pack-Form ade zu sagen:

"Der Kerl besitzt die Figur eines Adonis. Genau der Typ Mann, auf den die Frauen fliegen, mit dem Otto Normalverbraucher nicht mithalten kann", seufzte der Sheriff neidisch und beschloss, heute Abend dem verwaisten Fitnesskeller einen Besuch abzustatten - einen ausgiebigen Besuch.

Das Souvenirgeschäft kam in Sichtweite, er beschleunigte seinen Schritt. Momentan verspürte er keinen Bock auf Small talk mit Jane Carter. Vorsichtshalber überquerte er die Straße, um auf der anderen Seite weitergehen, hoffte, damit der drohenden Gefahr aus dem Weg gehen.

"Guten Morgen, Sheriff", trällerte es da schon:

"Sie haben es ja so eilig, ist was passiert?"

Ertappt zuckte Rick zusammen:

"Mist, sie hatte ihn gesehen." Rasch setzte er ein Lächeln auf, bemüht es nicht zu krampfhaft ausfallen zu lassen. Mit einem lässigen Tippen an der Krempe seines braunen Uniformhutes begrüßte er Jane Carter. Die grazile Frau, Anfang fünfzig, winkte ihm heftig zu. Ihre andere Hand umklammerte den Besen, mit dem sie kurz zuvor den Fußweg fegte. Mit ihrer Zwillingsschwester Betty betrieb Jane einen der Souvenirläden in Angeltown. Die eineiigen, unverheirateten, Zwillinge ähnelten einander frappierend. Der einzige Unterschied bestand in Bettys Leberfleck auf der rechten Wange und ihrer unbeirrbaren Suche nach einem Ehemann. Obwohl, es gab ihn schon den Kandidaten. Was hatte sie schon alles unternommen, um die Aufmerksamkeit des Küster Jason Farlow zu erregen, doch zu ihrem Verdruss wollte der Auserkorene einfach nicht anbeißen. Einfach zu widerspenstig der Kerl, fand sie.

"Guten Morgen Mrs Carter."

Rick gab sich Mühe, seiner Stimme den Klang von Ich-habe-keine-Zeit zu geben.

Bewusst ignorierte er ihre letzte Bemerkung. Bevor er nicht wusste, was auf dem Friedhof passiert war, hielt er es für sinnvoll, mit niemandem darüber zu reden:

"Entschuldigung, ich war in Gedanken."

"Das ist mir aufgefallen Sheriff. Sie scheinen keine Zeit für einen Plausch zu haben. Im Einsatz wie, hm?"

So leicht ließ Jane sich nicht abschütteln. Sie witterte spannenden Tratsch, brauchte dringend neuen Gesprächsstoff für ihre Freundinnen. Schließlich geschah nichts in der Stadt, ohne dass sie davon wusste.

"Ja, ich muss zum Friedhof, Jason wartet. Entschuldigen Sie bitte Mrs Carter. Ich würde ja gern mit ihnen plaudern, aber die Pflicht ruft:

"Ein Wort zu viel und im null Komma nichts wusste jedermann Bescheid über etwas, wovon er selbst noch keine Ahnung hatte", wusste Rick:

"Na dann, man sieht sich."

Verabschiedend, die Enttäuschung nicht verhehlend, nickte Jane dem Sheriff mit ihrem dauergewellten, blondiertem Kopf zu.

"Vielleicht habe ich nachher etwas für dich, was du weitererzählen sollst."

Rick schmunzelnd, legte einen Zahn zu.

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