Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 27
ОглавлениеJoseph Finley
Niedergedrückt sah Joseph Jennifers schwindenden Fahrrad hinterher. Ein Gefühl von Einsamkeit, eine Empfindung, die er nicht kannte, übermannte ihn, verdrängte den Zorn. Mit hängenden Schultern schlurfte er zum Wohnwagen, um sein Abendbrot zu richten. In einer Decke gehüllt, setzte er sich damit vor dem Wagen. Den heißen Tee schlürfend überlegte er zum zigsten Mal, wer Buster so grausam gemordet hatte. Sein Schlurfen klang unverhältnismäßig laut, veranlasste ihn, aufzuhorchen:
Kein Laut zu hören! Eine absonderliche Stille hüllte ihn ein. Alarmiert stand er auf, lief zur Herde, um nach dem Rechten zu sehen. Dort schien alles in Ordnung. Trotzdem irgendetwas stimmte nicht. Die Stirn in Falten gelegt, umrundete er das Vieh, stutzte, verhielt den Schritt, wusste jetzt, was ihn missfiel. Es war das eigentümliche Verhalten der Tiere. Die Schafe blökten nicht, was nie der Fall war, eines mähte immer. Überhaupt bewegte sich keines der Tiere. Selbst die Hunde standen unbeweglich da, hielten die Schnauzen schnüffelnd erhoben und die Ohren lauschend aufgestellt.
"Als wenn sie auf etwas warten. Diese Ruhe geht mir auf die Eier", dachte Joseph und stiefelte missmutig zurück zum Wohnwagen. Dort hüllte er sich erneut in die wärmende Decke. Voller Missbehagen lauschte er der surrealen Stille, die stummer war als still. Eigentlich liebte der Schäfer die Ruhe, die Einsamkeit. Deswegen wählte er diesen Beruf. Heute wäre er jedoch am liebsten davon gelaufen. "Was geht hier vor!Ich kann nicht einfach nur da sitzen, ich muss mich bewegen", sagte er laut, um die Stille zu durchbrechen. Überreizt umrundete er erneut die Schafherde. "Jetzt wird es auch noch neblig", schimpfte er.
Ungehalten stapfte Joseph zurück. Am Wohnwagen stopfte er seine Pfeife. Bedachtsam blies er den Rauch aus, in der Hoffnung, auf die beruhigende Wirkung. Das Kribbeln in ihm hingegen nahm zu, so wie der Nebel, der auf den Wiesen lag und die Herde inzwischen komplett einhüllte.
Josephs Augen versuchten, den Dunst zu durchdringen. An manchen Stellen sah er dichter aus. Er meinte, dunkle Punkte in ihm zu sehen. Wahrscheinlich einer der Hunde oder Schafe wähnte er. Die Flecken, er zählte sieben, bewegten sich, kamen auf ihn zu. Seine Anspannung wuchs, gewann an Dimension. Er fluchte:
"Was ist das hier für eine Scheiße. Warum ist es so verdammt ruhig. Irgendetwas muss doch zu hören sein."
Trotz angestrengtem Lauschen vernahm er nicht das Geringste. Als wäre die Welt stumm geworden. Diese unheimliche Grabesstille ließ ihm die Haare zu Berge stehen, lehrte ihm das Fürchten. Er, der nie wusste, was Angst war, fühlte sie jetzt körperlich. Sie saß in seinem Bauch, krallte sich dort fest und breitete sich wie ein Flächenbrand aus. Unerbittlich erzwang sie sich ihren Weg durch seinen Körper. Er wollte das nicht, musste es los werden....."
Und dann fiel ihm die Flasche ein. Die Flasche mit dem Whiskey, den Whiskey tief unten in der Truhe....
Joseph wusste noch genau, wie Whiskey schmeckte. Gern würde er jetzt einen Zug nehmen. Eine Stimme raunte ihm zu:
"Warum tu's du es nicht Joseph. Genehmige dir einen Drink."
"Das darf ich nicht, bin trocken."
"Ein Schluck wird nicht schaden."
"Nein!"
"Ein winziger Schluck nur. Ein ganz kleiner. Dann geht's dir besser, wirst sehen."
"Ich darf nicht!"
"Trinken heißt vergessen Joseph."
Die sanfte Stimme schmeichelte verführerisch.
"Ich bin jetzt schon so lange trocken. Ich will nichts riskieren."
"Kannst es ja später wieder werden. Der gute Whiskey hilft bei allem."
Wäre wirklich schade, den in der Kiste zu lassen, fand Joseph schließlich. Mit zitternden Händen hob er den Deckel der Kleiderkiste. Ungeduldig wühlte er in der Tiefe der Kiste. Erleichtert zog er die Flasche hervor, drückte sie innig wie eine Geliebte gegen die Brust. Für einen Moment hegte er die Befürchtung, sie könnte nicht mehr dort sein.
Die Hand am Schraubverschluss betrachtete er die bernsteinfarbene Flüssigkeit. Er zögerte, drehte schließlich gierig den Verschluss auf. Verlockend stieg der rauchige Duft des Whiskeys in seine Nase:
"Einen Schluck nur, einen winzigen," sagte er laut, wie um sich zu überzeugen, wirklich nur einen Schluck trinken zu müssen.
Brennend rann dieser Erste seine Kehle hinunter, hinterließ ein warmes, behagliches Gefühl im Magen. Das gute Gefühl breitete sich aus, erfüllte bald seinen gesamten Körper. Gelöst ließ Joseph seinen Kopf nach hinten an die Wand des Wohnwagens sinken. Mit geschlossenen Augen genoss er das angenehme Gefühl des Entspannt seins. Ein kaum vernehmliches Lachen ertönte. Joseph zuckte zusammen. Kerzengerade saß er auf dem Hocker und schaute sich perplex um: Niemanden zu sehen! Erneut erklang dieses Kichern. Es schien aus dem Nebel zu kommen. Belauerte ihn da Jemand? Joseph ließ den Dunst nicht aus den Augen. Er hob die Whiskeyflasche und nahm den zweiten Schluck.
Bald hatte er den Pegel erreicht. Genau diesen Pegel des Entspanntseins. Es war schön. Schön mal wieder gelöst, fast glücklich, zu sein. Er war selten glücklich.
Joseph genoss es, genoss es sehr. Wer weiß, wann es mal wieder so sein würde. Es sollte lange andauern. Joseph setzte die Flasche erneut an.
Irgendwann rülpste er laut, sein trüben Augen glotze auf eine leere Flasche. Die Stille war verschwunden. Viele Stimmen klangen aus dem Nebel, rieten ihm, in die Stadt zu gehen und Nachschub zu besorgen.