Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 20

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In einem Seitenflügel der Kirche kniete der Pfarrer auf der schmalen Holzbank vor der Marienstatue. Er versuchte sich zu sammeln und auf die bevorstehende Messe einzustimmen.

Das für einen Priester zu lange, haselnussbraune, gewellte Haar, reichte bis auf den Hemdkragen. Alles in allem war der Geistliche ein gut aussehender Mann. Da störte selbst die runde Nickelbrille nicht. Etliche, so wie Ben Farlow, meinten, er ähnelte Harry Potter. Vielleicht war das der Grund, weshalb wieder viele junge Menschen den Gottesdienst besuchten. Nie zuvor gab es so viele Messdiener in Angeltown. Die Einwohner erkannten, ihr Seelsorger lebte das, was er glaubte, was er predigte. Dies und sein gewinnendes, humorvolles Wesen schätzten, und bewunderten sie.

Es dauerte eine Weile, bis Noahs Eltern, die nach der Pensionierung des Vaters zu ihm zogen, seine Bestimmung akzeptierten. Inzwischen störte es sie nicht mehr, keine Enkelkinder zu haben, die den Namen weitertrugen. Stattdessen sonnten sich die alten Wheileys in der Anerkennung der Gemeinde, sahen ihren Sohn, dessen Berufung, jetzt in einem anderen Licht.

Heute fiel Noah die mentale Vorbereitung auf die Messe außerordentlich schwer. Die Ellenbogen auf die vordere Bankreihe gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen, versuchte er die Gedanken zur Ruhe zu zwingen. Immer wieder schweiften sie ab, kreisten um die Geschehnissen des gestrigen Morgens. Die satanischen Zeichen auf dem Friedhof beunruhigten ihn. Um die anderen nicht aufzuregen, bagatellisierte er die Ereignisse. Die Atmosphäre auf dem Begräbnisplatz erlebte er als seltsam surrealistisch, ebenso den Wald! Sah, fühlte er Dinge, die gar nicht existierten? Nicht vorhanden sein konnten! Obwohl er sich das sagte, blieb die eigentümliche Beklemmung, ließ sich nicht abschütteln. Er konnte nicht glauben, dass jemand aus der Gemeinde dem Satanismus anhing. Satanismus! Was wusste er schon darüber, um es als harmlos abzutun. Er nahm sich vor, mehr über diesen Kult in Erfahrung bringen. Allmählich entspannte er sich, fand zum Gebet.

Nachdem er sich gesammelt hatte, stand er auf, ging zur Sakristei, um sich für die Heilige Messe umzuziehen. Bereits vor der Tür hörte er die Messdiener lärmen. Amüsiert drückte er auf die Türklinke. Schlagartig herrschte Stille. Rasch schritt ein Mädchen zu der Kredenz, auf welcher die Liturgiegewänder für die heutige Messfeier bereitlagen. Verlegen reichte sie dem Priester die Alb. Noah zog das knöchellange weiße Gewand über seine schwarze Soutane. Anschließend gürtete, raffte er diese mit dem Zingulum, einer dicken Kordel, die in Quasten endete. Andächtig küsste er die bereitliegende grüne Stola, legte sie dann, vor der Brust gekreuzt, über seine Schultern. Zum Schluss zog er die ihm dargereichte grüne Kasel, das Messgewand, an. Die sechs Ministranten stellten sich zum Einzug in den Altarraum auf. Noah sagte wie stets, vor jeder Messe:

"Unsere Hilfe ist im Namen des Herrn."

Die Messdiener schlugen das Kreuzzeichen und antworten:

"Der Himmel und Erde erschaffen hat."

Dann ergriffen sie die bereitstehenden Kerzen und verließen den Raum. Paarweise, in der Mitte schritt Noah, flankiert von jeweils einem Messdienerpaar, eines zum Schluss, betraten sie den Altarraum. Der rechte Ministrant des letzten Paares läutet die Glocke neben der Sakristeitür.

Feierlich durchflutete der einsetzende Orgelklang das Gotteshaus. Die aufgestandenen Gläubigen sangen ein erstes Lied. Die Messdiener teilen sich, standen jetzt rechts und links des Pfarrers. Synchron mit ihm beugten sie vor dem Altar die Knie. Anschließend begaben sie sich zu den Plätzen im Chorgestühl.

Noah trat vor die Gemeinde, sah die Gläubigen ernst mit seinen rauchgrauen Augen an. Bedrückt fragte er sich, ob der Täter oder die Täter, die einen anderen Gott huldigten, vor ihm in den Kirchenbänken saßen. Einige senkten den Kopf, starrte auf ihre Hände, manche versuchten, besonders fromm auszusehen. Die meisten hingegen schauten gleichmütig. Wie sie sich auch verhielten, jeder konnte es gewesen sein.

Als Noah die Unruhe seiner Gemeinde auffiel und er den fragenden Blick seines Vaters auffing, schüttelte er entschieden die trübsinnigen Gedanken ab. Mit fester Stimme, so wie sie ihrer Pfarrer kannten, eröffnete Noah den Gottesdienst.

Am Ende der Messe sagte er:

"Zum Schluss muss ich auf die Geschehnisse vom Friedhof zu sprechen kommen. Bestimmt habt ihr alle davon gehört. Es stimmt mich traurig, wie jemand zu so etwas fähig ist. Eigentlich kann und möchte ich mir nicht vorstellen, dass das einer von euch getan hat. Ich stelle mir die Frage warum? Einfach nur so? Aus Übermut? Aus Langeweile? Oder, weil Gottes Stimme leise geworden ist.

Es fällt vielen heute immer schwerer, ihn zu hören. Es existieren eine Menge Dinge, die wichtiger erscheinen, die seine Stimme haben leiser werden lassen. Manche hören ihn gar nicht mehr. Lasst nicht zu, dass seine Stimme verstummt.

Denn gebt ihr der Versuchung nach, gebiert ihr die Sünde. Und die Sünde hat als Lohn den Tod. Den Tod eurer Seelen. So seid nun Gott untertan. Widersteht ihr dem Teufel, so flieht er vor euch. Naht euch zu Gott, so naht er sich euch. Reinigt die Hände, ihr Sünder, und heiligt eure Herzen, ihr Wankelmütigen."

Dann erteile er den Abschlusssegen. Die Sonntagsmesse war zu Ende. Die Kirchgänger sangen das Abschlusslied und drängten aus dem Gotteshaus.

An der Eingangstür verabschiedete Noah jeden mit einem Händedruck und wünschte allen einen schönen Sonntag. Er sah in ihre Gesichter, forschte in ihnen, ob er den Täter erkennen würde.

Für eine Vielzahl der Kirchenbesucher war es für Monate die letzte Messe im Heimatort. Sie eilten nach Hause, um Vorkehrungen für ihre Reise zu treffen. Bald bestiegen sie den Überlandbus, der sie fortbrachte zu Freunden, Verwandten oder zu einem Urlaubsort. Manchen reisten zu den größeren Städten, von wo aus sie die weitere Reise antreten würden. Sie strebten zu Stätten, wo der Winter hell und freundlich war, wo es kein Dunkel gab.

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