Читать книгу Obscuritas - Jutta Pietryga - Страница 9
ОглавлениеAuf dem Friedhof
Jason Farlow, Küster der Gemeinde, trat ungeduldig auf der Stelle. Aufgrund seiner stämmigen Gestalt sah er dabei einem tapsigen Tanzbär nicht unähnlich. Das kantige Gesicht spiegelte den Unmut über die Zerstörung des Friedhofs wider. Zorn blinkte in den graublauen Augen. Die Stirn in Falten gelegt schaute er Rick vorwurfsvoll entgegen:
"Mann, das hat gedauert!"
"Dein Anruf kam in aller Herrgottsfrühe. Ohne Dusche und im Schlafanzug konnte ich wohl kaum losziehen. Auf das Frühstück allerdings habe ich dir zuliebe verzichtet. Und ich wünsche dir gleichfalls einen Guten Morgen Jason."
Das gebräunte Gesicht mit der leicht nach unten gebogenen Nase guckte betreten. Entschuldigend lächelte er Rick an. Verlegen stampfte er los.
"Wir müssen bis ans Ende", brummelte er.
Bereits von Weiten war das Ausmaß der Verwüstung sichtbar. Die Täter vandalierten im hinteren Abschnitt des Friedhofs, den Teil, wo die alten Begräbnisstätten lagen, die kaum noch jemand besuchte. Hier liefen sie nicht Gefahr, rasch entdeckt zu werden.
Breitbeinig, die Hände in den Seitentaschen der braunen Uniformjacke vergraben, schweiften Ricks dunkelbraunen Augen forschend über das Gelände. Suchend schritt er zwischen den umgeworfenen Steinen umher, spähte aufmerksam auf den Boden, versuchte, irgendwelche Spuren auszumachen.
Jason beobachtete ihm, guckte ihn wiederholt fragend an, glaubte, der Sheriff schüttelte justament die Lösung aus den Ärmel. Laut seufzend hob er die Schultern, als dem nicht so war.
Ricks zählte mindestens zehn umgestoßene Grabsteine.
"Ein paar der Steine sind sogar zertrümmert", kommentierte Jason:
"Dazu gehört eine unheimliche Kraft Chief".
"Bestimmt benutzten sie irgendwelche Werkzeuge, schweren Hammer oder Ähnliches", erwiderte der Angesprochene gedankenverloren. "Sie, woher wissen sie, dass da mehrere am Werk waren?"
"So eine Sauerei schafft einer allein nicht."
Rick starrte verdutzt auf den Boden. Merkwürdig! Wieso, verdammt noch mal, sind hier keine Fußspuren, außer unseren? Die Täter können wohl schlecht geflogen sein. Jäh wandte er sich dem Küster zu, der erschrocken zusammen fuhr.
"Jason, hast du etwas Auffälliges bemerkt?"
"Nein, nach der Morgenandacht, nachdem ich in der Sakristei alles wieder in Ordnung brachte, bin ich hierher. Bin gerne hier, mag die Stille. Ja und dann sah ich ...das hier."
Er wedelte vage mit den Armen.
"Hast du was verändert, Jason."
"Was glauben Sie denn Chief!" Entrüstete protestierte der Küster.
Rick grinste entschuldigend. Gedankenverloren strich er mit dem Zeigefinger über seine Nase, bis er die Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, drückte sie ein paar
Mal zusammen. Das tat er oft, wenn er überlegte. Schmerzte die Spitze, wusste Rick, dass es ein anstrengender Tag gewesen war.
Jason ereiferte sich erneut:
"Unglaublich! Wer tut so was? Ich dachte, in Angeltown wohnen anständige Leute. Was der Pfarrer wohl dazu sagen wird? Bin übrigens vorhin zu ihm gelaufen, damit er Bescheid weiß".
Rick hörte nur mit einem Ohr zu. Kritisch schritt er umher. Herausgerissene Sträucher und Blumen, teilweise zerfetzt, lagen weithin verstreut, selbst auf dem Fußweg, dazwischen Haufen von Friedhofserde, aber keine Fußspuren weit und breit. Er stutzte, blieb stehen:
"Der Stein sah anders aus." Er ging in die Hocke und nahm den Grabstein genauer unter die Lupe, erkannte irgendwelche ominösen Zeichen:
"War das vorher schon da, Jason?"
"Nee, so eine Schmiererei hätte ich bemerkt. Bin doch jeden Tag hier. Ach, da kommt der Pfarrer."
Noah Wheiley, mit knapp Dreißig, jung für einen Priester in dieser Position, eilte auf die Männer zu. Die schwarze Priestersoutane, die er lieber als die jetzt übliche moderne Priesterkleidung, Hose und Priesterhemd, trug, flatterte im unversehens aufgekommenen Wind. Fröstelnd zogen die Männer die Schulter hoch, bohrten ihre Hände tiefer in den Jackentaschen.
Bereits aus der Entfernung sahen sie dem Herannahenden sein Unbehagen an. Als er den Wartenden gegenüber stand, blickte er sie fragend an. Indes bedurfte es keinerlei Erklärung. Genau wie die beiden vor ihm musterte er gleich darauf fassungslos das Gelände:
"Mein Gott, das sieht ja entsetzlich aus. Wer ist bloß zu so etwas fähig!"
"Bis jetzt habe ich keinen blassen Schimmer, was das Ganze soll", erwiderte Rick.
"Das war eher eine obligatorische Frage, Sheriff. Selbstverständlich ist es dazu noch zu früh. Wahrscheinlich sind sie auch gerade erst gekommen."
"Genau, ohne Frühstück, aber mit Dusche und Klamotten," grinste Rick Jason an. Der schaute verlegen. Nicht verstehend Noah sah von einem zum anderen. Dann schritt er, wie Rick, zwischen dem Chaos umher:
Die gefalteten Hände in Brusthöhe schüttelte er fassungslos den Kopf.
"Die Friedhofsruhe sollte jedem heilig sein! Was für ein Frevel!"
Er stutzte, bemerkte jetzt, was Rick und Jason zuvor auffiel:
"Was ist das für ein Gekritzel auf dem Grabstein dort?"
"Das haben wir auch gerade entdeckt Herr Pfarrer", sagte Jason und schaute Noah Wheiley ehrfurchtsvoll an. Der Küster war ein gläubiger Mensch, verehrte den Geistlichen, der erst kurz die Gemeinde führte. Seit dem dieser die Kirchengemeinde betreute, reichten die Plätze der Kirchenbänke kaum. Erfreulicherweise kamen auch wieder viele Jugendliche in den Gottesdienst. Vielleicht lag das daran, dass der Mann Gottes der ältere Klon von Harry Potter hätte sein können. Nicht, dass Jason wusste, wer Harry Potter war, sein Sohn Ben behauptete das.
Die drei Männer starrten auf den Grabstein, versuchten, das Geschriebene zu entschlüsseln.
"Sieht aus wie ein "t" und ein umgedrehtes "s", fand Rick.
Noah sah ihn bestürzt an. Fahrig glitten seine schmalgliedrigen Hände durch sein haselnussbraunes, leicht gewelltes Haar. Erwartungsvoll blickte Rick ihn an:
"Was ist los Herr Pfarrer. Sie sehen aus, als hätten Sie eine Idee."
Deutlich hörbar stieß Noah die Luft aus.
Er wollte nicht glauben, was er sah, murmelte zögerlich:
"Hmmmm. Vielleicht ein Kreuz und ein Fleischerhaken."
Beklemmung zeichnete sein Gesicht:
"So recht kann ich mir das aber nicht vorstellen. Wer sollte so etwas zeichnen und warum! Sicher ist das nur ein zufälliges Gekritzel."
Jason unterbrach ihn aufgeregt:
"Auf dem hier sind ebenfalls Zeichen, aber andere. Sehen aus wie Sechsen, drei Sechsen, um genau zu sein."
Er lief zum nächsten Stein:
"Auf dem hier auch".
Noah erblasste, folgte Rick, der sich bereits zum Grabstein beugte. Der Sheriff wusste mit diesen Zeichen genau so wenig anzufangen wie mit den Vorherigen. Fragend schaute er Noah an. Der hob verblüfft die Augenbrauen, starrte konsterniert auf das Symbol. Rick wollte eine Antwort, fragte ungeduldig;
"Was ist?"
"Es sind tatsächlich Sechsen!"
"Und, was ist an Sechsen besonders?" Riefen Rick und Jason gleichzeitig.
Zögerlich, nach jedem Wort eine Pause einlegend und bestätigend mit dem Kopf nickend, erklärte er:
"So unglaublich das klingt, es handelt sich in beiden Fällen um Zeichen des Satans. Die Sechsten hier sind ein Geheimzeichen für das Große Tier, den Antichristen".
Verdutzt glotzten die Männer ihn an.
"Des Antichristen! Sie meinen Satan, den Teufel!" Rief Jason perplex.
Noah Wheiley sah ihn ungehalten an. Wer sollte sonst mit Antichrist gemeint sein, dachte er genervt, gleich darauf bedauerte er, seine nicht gerade seelsorgerischen Gedanken:
"Leider ja. Es kann Zufall sein. Vielleicht hat der oder die Personen nur so gekritzelt, dem keine Bedeutung beigemessen."
"Glauben sie das wirklich, Herr Pfarrer?"
"Ich möchte es Sheriff, ich möchte es."
Die Männer schwiegen, hingen ihren Gedanken nach.
"Wieso drei Sechsen", unterbrach Rick die Stille.
Noah schlug rasch das Kreuz.
"Die Sechs ist das Zeichen Satans. Mit dreimal soll die heilige Trinität verhöhnt werden, Gott Vater, Gott Sohn und der Heilige Geist. ".
"Die erste Schmiererei ist ebenfalls ein Symbol Luzifers. Es besteht aus zwei Teilen: Das was, wie sie sagten Chief, wie ein "t" aussieht, stellt das Kreuz dar. Das untere Zeichen, das umgekehrte "S", soll eine Sichel sein, die das Kreuz abschneidet. Ich wollte es nicht glauben, doch jetzt, wo ich die Sechsen gesehen habe, bin ich sicher. Bei der ersten Kritzelei handelt es sich um die sogenannte Satansgabel, die auch Teufelshaken genannt wird."
"Das waren garantiert Gruftis," platzte Jason heraus.
Verblüfft schauten die Männer ihn an, fragten gleichzeitig:
"Welche Gruftis?!"
Noah schob hinterher:
"Wie kommst du denn da drauf Jason. Nun Gruftis waren das gewiss keine."
"Wieso nicht? Das sind doch alles Spinner, schon wie die rumlaufen."
Noah legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm, sagte:
"Du verallgemeinerst, mein Lieber. Gruftis tun Niemanden etwas. Sie wollen lediglich Aufsehen erregen mit ihrem düsteren Aussehen. Schockieren! Früher sollte ihre Aufmachung den Archetypen des Vampirs darstellen. Diese Spiritualität ging im Laufe der Zeit allerdings verloren. Mag sein, sehr wahrscheinlich sogar, dass sie sich auf Friedhöfen herumtreiben. Aber solche Zeichen? Nein! Das tun sie nicht. Gruftis wollen bloß Düsternis ausstrahlen, Satanisten sind, leben, die Finsternis. Wenn das einer Gruppe zuzuordnen wäre, dann würde ich eher auf diese tippen."
"Satanisten, was sind das jetzt wieder für Typen."
Noah hob wage die Arme:
"Das ist ein weites Feld. Da gibt es die verschiedensten Richtungen. Einfach ausgedrückt, verehren die Satanisten den Teufel und alles Böse. Sie beten es an. Sie hassen die christlichen Werte. Alles, was in der Religion als Sünde bezeichnet wird, verachten sie, empfinden sie als falsch. Dementsprechend leben und handeln sie entgegen unserem Glauben. Das kann man so im Groben sagen."
"Meinen Sie etwa, wir haben es mit Sekten, schwarzer Magie oder Ähnlichem zu tun?" Fragte Rick skeptisch.
"Nein, das glaube ich eigentlich nicht. Ich finde, wir sollten erst einmal von einem geschmacklosen Streich ausgehen." Verhalten fügte er hinzu:
"Sicher waren es nur übermütige Teenager, die irgendwann mal von der teuflischen Sechs gehört und ein bisschen herumgekritzelt haben."
Gedankenversunken blickte er auf den Boden, die Stirn grübelnd gekraust. Immer wieder betrachtete er die satanistischen Zeichen, sagte schließlich:
"Wir sollten nicht nach einer Erklärung suchen, die wir wahrscheinlich nicht finden können."
Zustimmend nickte Rick. Und dann schwiegen sie erneut, hingen ihren Überlegungen nach.
"Eigentlich glaube ich auch nicht, dass es in unserer Stadt irgendwelche okkulten Sekten oder Ähnliches gibt. Das wäre aufgefallen. Ich habe jedenfalls nichts dergleichen bemerkt. Ihr etwa?"
Fragend schaute er die Männer an. Verneinend schüttelten diesen den Kopf.
"Nicht desto trotz sollten wir die Augen offenhalten." Mahnte Rick gedankenverloren.
Sinnend sah er in die Ferne. Sein Blick blieb am Wald hängen, der unmittelbar hinter dem Friedhof begann und bis zum Gebirge reichte. Er liebte den Wald, seine Gerüche, hielt sich gern hier auf und sagte selten nein, wenn Mary fragte, ob er mit zum Kräutersammeln käme.
Linny ging es genau so. Sie wurde nie müde, der Granny Löcher in den Bauch zu fragen, welches Kraut, wofür war und tausend andere Dinge. Ein Lächeln huschte über sein ernstes Gesicht, verwehte kurz darauf. Etwas da oben sah fremd aus. Was es war, vermochte er nicht zu sagen. Beklommenheit, die Ahnung drohenden Unheils ergriff ihn. Er wollte diese Gefühle ignorieren. Vergeblich! Seine von Sorge erfüllten Blicke glitten zu den Bergen, nahmen die heranrückende Schneegrenze wahr.
"Bestimmt ist mir deswegen so kalt", schlussfolgerte er, dachte besorgt:
"Es ist zu früh."
Noah folgte Ricks Augen. Kalt rieselte es ihm den Rücken herunter. Trotz der farbenfrohen Laubverfärbung wirkte der Wald seltsam bedrohlich. Noah fühlte drohendes Unheil von dort oben ausgehen. Ruckartig wandte er sich an den Küster, wollte die unguten Gefühle abwehren:
"Jason, die Renovierung der Sakristei müssen wir jetzt wohl verschieben. Mit den Aufräumarbeiten auf dem Friedhof hast du genug Arbeit."
"Das schaffe ich schon, Herr Pfarrer. Ich bitte meinen Sohn, mir zu helfen, die Grabsteine aufzurichten, Sonst kriege ich es wieder im Kreuz. Mein Vater kann die Pflanzen richten. Er wird froh sein, etwas um die Ohren zu haben. Und dann ist hier ruckzuck alles wieder in Ordnung."
Jasons Vater Vincent, um die neunzig, war ein Mann vom alten Schlag, zäh, hart arbeitend, geradeaus. Mit seinem Sohn, nebst Enkel Ben, wohnte er in einer bestens organisierten Männer-WG. Jason Frau verschwand vor Jahren auf Nimmerwiedersehen. An einer Neuen hegte sein Sohn keinerlei Interesse, obwohl Betty Carter ihn vehement vom Gegenteil zu überzeugen versuchte. Und so übel war sie nicht, fand er. Der Älteste dieser WG erledigte notgedrungen die Hausarbeiten. Der Jüngste der Gemeinschaft führte jetzt die Tischlerei. Bisweilen half Jason, wenn die Aufträge überhandnahmen, was leider zu selten vorkam. Zu oft stand er bloß im Wege, fühlte sich nutzlos, überflüssig, bis der vorherige Küster starb, dessen Aufgabe er hocherfreut übernahm. Es bereitete ihm Freude, die Messe vorzubereiten. Endlich durfte er die Glocken läuten, was er als Kind brennend gern getan hätte. Die Pflege des Friedhofs, die Stille dort, schenkten ihm Ruhe und Zufriedenheit.
Rick riss den Blick vom Horizont, zwang sich realistisch zu sein:
"Okay, dann gehe ich an die Arbeit. Leute befragen, ob ihnen was aufgefallen ist und dergleichen. Sagt mir Bescheid, wenn euch noch etwas einfällt."
Gemeinsam strebten sie dem Ausgang zu, Noah und Rick vorweg. Ein paar Schritte zurück folgte Jason. Rick schreckte aus seinen Gedanken hoch. Hinter ihm telefonierte der Küster lautstark. Grinsend schauten die beiden Männer einander an. Jason wiederholte sich ständig, was darauf schließen ließ, dass es mit dem Hörvermögen seines Vaters nicht zum Besten stand.
Rick warf einen schmunzelnden Blick zurück, stutzte, das Lächeln verschwand. Hatte er nicht zehn zerstörte Steine gezählt? Jetzt sah es nach mehr aus. Er wollte Jason oder Noah lieber nicht fragen, ob sie das Gleiche sahen.
Am Friedhofsausgang verabschiedete sich Noah von Rick. Mit
geneigtem Haupt und hängenden Schultern ging der Priester in Richtung Pfarrhaus. Irritiert schaute Rick ihn nach. So niedergedrückt kannte er den Kirchenmann, der stets Lebensfreude und Optimismus ausstrahlte, gar nicht.
Kurz vor dem Pfarrhaus, verhielt Noah den Schritt. Schwerfällig wandte er sich um. Seine fragenden Augen blickten auf das Gotteshaus und dann schlug er den Weg dorthin ein. Er wollte Gottes Nähe spüren. An diesem Ort ist dessen Anwesenheit am deutlichsten präsent. Der Friedhof mit den geschändeten Gräbern, dem bedrohlich anmutenden Wald, dazu die ungewöhnliche Kälte gaben ihm mehr zu denken, als er vor den Männern zugab. Die Zeichen des Satans erfüllten ihn mit Sorge. Die Befürchtung, dass etwas Furchterregendes auf sie zukam, ergriff von ihm Besitz.
Er musste Gottes Hilfe und Beistand für den Ort erflehen.