Читать книгу Ius Publicum Europaeum - Kaarlo Tuori - Страница 26

b) Art. 159 der Verfassung: die Einrede der Rechtswidrigkeit

Оглавление

6

In Art. 159 der Verfassung hat der Verfassunggeber einen weiteren wichtigen Mechanismus vorgesehen. Dieser verlangt, dass die ordentlichen Gerichte „die allgemeinen, provinzialen und örtlichen Erlasse und Verordnungen nur an[wenden], insoweit sie mit den Gesetzen in Übereinstimmung stehen“. Zwar wurde dieser Artikel zunächst restriktiv ausgelegt, was wohl an einem engen Verständnis des Gewaltenteilungsgrundsatzes lag,[6] Rechtslehre und Rechtsprechung erweiterten später aber seine Tragweite.[7] Eine dieser Erweiterungen betrifft den Maßstab für die Kontrolle von Verwaltungsakten, die gemäß französischer Tradition auch allgemeiner und abstrakter Natur sein können und daher Norm- und Verordnungscharakter haben.[8] Denn in Art. 159 wird festgehalten, dass die Gerichte solche Rechtsakte nur insoweit anwenden, als sie gesetzeskonform sind. In der heutigen Zeit wird der Begriff „Gesetz“ dahingehend ausgelegt, dass es sich bei dem anzulegenden Kontrollmaßstab nicht nur um Normen mit Gesetzesrang handelt,[9] sondern um jede höherrangige Norm.[10] Diese Auslegung macht die Überprüfung eines Verwaltungsakts anhand der Verfassung möglich.[11]

7

Entsprechend sind die Gerichte verpflichtet, die Anwendung eines Verwaltungsaktes zu verweigern, wenn dieser mit einer höheren Norm unvereinbar ist. Auch wenn es sich nicht um eine wirkliche Aufhebung handelt (die Norm gilt weiter), führt diese Nichtanwendung in casu zweifellos zu einer Sicherung der Verfassungsmäßigkeit.

8

In Belgien wurde also von Beginn an durch den Kassationshof eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit gerichtlicher Entscheidungen gewährleistet. Auch kam es, in Anwendung von Art. 159 der Verfassung, schon bald zu einer entsprechenden Kontrolle von Rechtsverordnungen. Dass darüber hinaus in der Verfassung keine weitergehende Verfassungskontrolle geregelt ist, erscheint als Ausdruck der Weigerung, eine Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzesnormen einzuführen oder zu erlauben.[12] Diese Auslegung entspricht dem Mythos des unfehlbaren Gesetzgebers als Erbe der Französischen Revolution, der zum Zeitpunkt der Gründung des belgischen Staates noch sehr verbreitet war. Der Kassationshof hat sich dieser Auffassung ausdrücklich angeschlossen, indem er in einem Entscheid[13] vom 23. Juli 1849 festhielt, dass: „die in ihrem Bereich unabhängige gesetzgebende Gewalt alleine über die Verfassungsmäßigkeit der Gesetze befindet [… Es] obliegt also nicht der rechtsprechenden Gewalt, die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes zu untersuchen“[14].

§ 96 Der belgische Verfassungsgerichtshof › I. Entstehung und Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit in Belgien › 2. Die weitere Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg

Ius Publicum Europaeum

Подняться наверх