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Einleitung
ОглавлениеDie Uhr tickt
»Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.«
Harper Lee, Wer die Nachtigall stört
Wir schreiben das Jahr 2030.
In Westeuropa ist es von Paris bis Berlin ungewöhnlich heiß. Das Ende der Rekordtemperaturen dieses Sommers ist nicht in Sicht, und die internationale Presse gibt sich zunehmend alarmiert. Rehema ist gerade in ihrer Heimatstadt Nairobi gelandet. Sie kommt aus London, wo sie zwei Wochen bei entfernten Verwandten verbracht hat. Da sie Großbritannien durch die Augen von Einwanderern sehen konnte, erhielt sie einen faszinierenden Einblick in die Vielfalt der Welt, die sie dort umgab. Während sie durch den Flughafen läuft, sinniert sie darüber, wie sehr sich ihre Heimat von jenem Land unterscheidet, das vor noch nicht einmal einem Jahrhundert zu den unangefochtenen Kolonialmächten auf dem Kontinent zählte. Sie war schockiert, als sie sah, dass die Briten immer noch Bargeld benutzen. In Kenia ist das Bezahlen mit Smartphones lange schon die Regel, das Smartphone hat die Brieftasche ersetzt. Auf der Heimfahrt scherzt sie mit dem Taxifahrer über die seltsamen Reaktionen der Briten, wenn sie davon sprach, dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr zusammen mit ihren Nachbarskindern eine Online-Schule »besucht« hatte.
Tausende Kilometer entfernt wartet Angel im John-F.-Kennedy-Flughafen von New York auf ihre Zollabfertigung. In zwei Wochen will sie an der New York University einen zweijährigen naturwissenschaftlichen Magisterstudiengang beginnen. Während sie wartet, liest sie die aktuelle New York Times, die mit einem Artikel darüber aufmacht, dass in den Vereinigten Staaten zum ersten Mal in der Geschichte mehr Großeltern als Enkelkinder leben – eine Wirklichkeit, die für Angel in starkem Gegensatz zur Situation zu Hause auf den Philippinen steht. Wie sich herausstellt, vermieten Zehntausende ältere amerikanische Bürger, die sich im Alltag von Robotern unterstützen lassen, einzelne Zimmer in ihren Eigenheimen, um über die Runden zu kommen – vor allem seit die Renten ihnen keine finanzielle Sicherheit mehr garantieren, wie dies so viele Jahre selbstverständlich war. Angel blättert zu einem ziemlich reaktionären Gastkommentar, der sich darüber beklagt, dass amerikanische Frauen mittlerweile einen höheren Anteil am Gesamtvermögen im Land besitzen als Männer, ein Trend, den der Autor des Artikels mit Blick auf die Zukunft der US-Wirtschaft beunruhigend findet. Angel hat viel Zeit. Sie kann fast die ganze Zeitung lesen, da die Schlange für Ausländer lang ist und sich nur langsam bewegt. Gleichzeitig werden US-Bürger und Menschen mit Aufenthaltserlaubnis zügig durch die Kontrollen geschleust. Angel schnappt das Gespräch zweier Männer auf, die sich darüber unterhalten, wie Amerikaner sich bei der Einreise eine ausgeklügelte Blockchain-Technologie zunutze machen. Sie erlaubt es ihnen, die Umsatzsteuer auf Waren, die im Ausland erworben wurden, geltend zu machen und gleichzeitig ein selbstfahrendes Auto zu bestellen, das kurz nach der Gepäckaufnahme bereitsteht.
***
2020: »China wird in allem die Nummer eins sein.«
Diesen Satz hört man heute oft. Ein weiterer lautet, dass die Vereinigten Staaten und China in absehbarer Zukunft um die globale Vorherrschaft streiten werden. In beiden Behauptungen steckt jeweils ein Körnchen Wahrheit, doch sie zeigen kaum das ganze Bild. Im Jahr 2014 verblüffte Indien die Welt, als es erfolgreich eine Raumsonde in die Umlaufbahn des Mars brachte. Dieses Kunststück war noch keinem Land im ersten Anlauf gelungen. Seit Beginn des Weltraumzeitalters war weniger als die Hälfte aller von den Vereinigten Staaten, Russland und Europa gestarteten Missionen erfolgreich, was Indiens Leistung wirklich herausragend erscheinen lässt. Noch dazu erzielte die indische Weltraumforschung diesen Erfolg mit einem Budget von nur 74 Millionen US-Dollar.
Um einige Vergleichszahlen zu bemühen: Eine einzige Space-Shuttle-Mission verbrennt gut und gerne 450 Millionen US-Dollar. Die Produktion des Films Interstellar verschlang 165 Millionen US-Dollar, und immerhin 108 Millionen US-Dollar waren nötig, um Der Marsianer in ein Kino ganz in Ihrer Nähe zu bringen.
Die Inder bewiesen, dass auch sie über The Right Stuff verfügen, um mit einem Buchtitel von Tom Wolfe zu sprechen. Sie zeigten, dass sie eine technologische Macht von Weltformat sind. Die Marsmission war kein Glückstreffer. Tatsächlich war es bereits das zweite Mal, dass Indien an den etablierten Supermächten der Welt vorbeigeprescht war. 2009 erbrachte seine erste Mondmission erstmalig den Beweis, dass es auf dem Erdtrabanten Wasser gibt, »offensichtlich konzentriert auf die Pole und womöglich von Solarwinden gebildet«, wie der Guardian berichtete. Die NASA benötigte zehn Jahre, um Indiens Ergebnisse unabhängig zu bestätigen.
Die meisten von uns wuchsen in einer Welt auf, in der die Erforschung des Kosmos ein kostspieliges Unterfangen war, das von Raketenwissenschaftlern entworfen, von den beiden Supermächten, den USA und der UdSSR, mit enormem Aufwand finanziert und von heroischen Astronauten sowie fähigen Spezialisten durchgeführt wurde. Die vergleichsweise komplexe und kostspielige Natur von Raumfahrtmissionen wurde als gegeben hingenommen (wie auch, welche Länder die notwendigen Kapazitäten hatten). Doch diese Wirklichkeit ist heute Geschichte.
Es war einmal eine Zeit, in der die Welt nicht nur fein säuberlich in wohlhabende und rückständige Volkswirtschaften aufgeteilt war, sondern in der es auch viele Kinder gab, in der die Arbeiter die Rentner zahlenmäßig weit übertrafen und Menschen danach strebten, Häuser und Autos zu besitzen. Unternehmen mussten sich nicht mit den Märkten jenseits von Europa oder den Vereinigten Staaten befassen, um erfolgreich zu sein. Gedrucktes Geld war das gesetzliche Zahlungsmittel für alle Schulden, ob öffentlich oder privat. In der Schule hatten wir gelernt, dass es gewisse Spielregeln zu beachten galt. Wir wuchsen in der Annahme auf, dass sich die Regeln dieses Spiels nicht ändern würden, und in diesem Bewusstsein traten wir unsere ersten Jobs an, gründeten Familien, sahen unsere Kinder das Haus verlassen und gingen in Rente.
Diese uns vertraute Welt verschwindet zusehends. Wir sehen uns mit einer verwirrenden neuen Wirklichkeit konfrontiert. Schon bald wird es in den meisten Ländern mehr Großeltern als Enkelkinder geben; in ihrer Summe werden Mittelschichtmärkte in Asien jene in den Vereinigten Staaten und Europa zusammen übertreffen; Frauen werden mehr Vermögen besitzen als Männer; und wir werden feststellen, dass es mehr Industrieroboter als Arbeiter geben wird, mehr Computer als menschliche Gehirne, mehr Sensoren als menschliche Augen und mehr Währungen als Länder.
Das wird die Welt von 2030 sein.
Ich habe in den letzten Jahren darüber geforscht, wie die Welt in einem Jahrzehnt aussehen wird. Als Professor der Wharton School sorge ich mich nicht nur um den künftigen Zustand der Wirtschaft, sondern auch darum, wie Arbeiter und Konsumenten von der Lawine an Veränderungen, die auf uns zurollt, betroffen sein könnten. Ich habe viele Vorträge zu den in diesem Buch vorkommenden Themen gehalten – vor leitenden Angestellten, politischen Entscheidungsträgern und Führungskräften, aber auch vor Studenten und Schülern. Ich habe zudem zu Zehntausenden von Menschen über Social-Media-Kanäle und in Online-Kursen gesprochen. Und immer haben die Menschen mit einer Mischung aus Verwirrung und Angst auf die Zukunftsaussichten reagiert, die ich vor ihnen ausbreitete. Dieses Buch bietet einen Fahrplan, mit dem man gut durch die vor uns liegenden Turbulenzen kommt.
Niemand weiß mit Sicherheit, was die Zukunft bringen wird. Falls Sie es wissen, lassen Sie es mich wissen – wir werden zusammen richtig viel Geld verdienen. Doch wenn Vorhersagen auch nie hundertprozentig exakt sein können, so können wir doch eine Reihe von relativ sicheren Annahmen darüber aufstellen, was im kommenden Jahrzehnt passieren wird. So ist zum Beispiel die Mehrheit der Menschen, die von den Vorhersagen in diesem Buch betroffen sind, bereits geboren. Wir können ganz allgemein beschreiben, was wir von ihnen als Konsumenten in Abhängigkeit von ihrem voraussichtlichen Bildungsabschluss oder den gegenwärtigen Mustern ihrer Social-Media-Aktivitäten erwarten. Wir können auch mit angemessener Genauigkeit berechnen, wie viele Menschen achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Und wir können vielleicht sogar mit ausreichender Überzeugung vorhersagen, dass ein bestimmter Prozentsatz an Senioren eine Pflegekraft benötigen wird – ob dies ein Mensch oder ein Roboter sein wird, sei dahingestellt. Was Letzteren anbelangt, so können Sie davon ausgehen, dass er verschiedene Sprachen mit mehreren Akzenten sprechen wird, dass er keine Vorurteile hegen, keinen Urlaub nehmen und seine Patienten weder finanziell noch anderweitig ausnutzen wird.
Die Uhr tickt. Das Jahr 2030 ist nicht irgendein ferner Punkt in einer unvorhersehbaren Zukunft. Es wartet gleich um die Ecke, und wir müssen uns sowohl auf die Möglichkeiten, die es bietet, als auch auf die Herausforderungen, vor die es uns stellt, vorbereiten. Um es in einem Satz zusammenzufassen: Die Welt, wie wir sie heute kennen, wird bis 2030 verschwunden sein.
Für viele von uns ist diese Entwicklung nicht nur verwirrend, sondern zutiefst beunruhigend. Bedeutet sie unseren Niedergang? Oder ist sie der Anfang einer neuen Blütezeit? Dieses Buch will dabei helfen, einen Überblick zu gewinnen über die Fülle an Variablen, die für diese Entwicklung verantwortlich sind. Grundsätzlich gilt: Jedes Ende markiert einen Neuanfang und steckt voller Möglichkeiten zum Besseren. Wir können daher optimistisch in die Zukunft blicken – wenn wir lernen, die Trends zu antizipieren, uns zu engagieren, statt uns abzuwenden, wenn wir es wagen, wirksame Entscheidungen für uns, unsere Kinder, Lebenspartner, künftigen Familien, Firmen und so weiter rechtzeitig zu fällen. Denn die Veränderungen betreffen uns alle.
***
Es ist hilfreich, sich epochale Transformationen als langsame Prozesse vorzustellen, bei denen jede winzige Veränderung uns so lange einem Paradigmenwechsel näherbringt, bis plötzlich alles ganz anders ist. Wir vergessen gerne, dass diese kleinen Veränderungen kumulativ sind. Stellen Sie sich vor, wie ein Gefäß sich tropfenweise füllt und das tropf-tropf-tropf ein Gefühl davon vermittelt, wie die Zeit vergeht. Wenn schließlich mit einem Mal das Wasser überfließt, fühlen wir uns überrumpelt.
Man bedenke, dass um 2030 Südasien (Indien, Bangladesch, Pakistan, Bhutan u.a.) und Subsahara-Afrika um den Titel der bevölkerungsreichsten Region der Welt wetteifern werden. In den letzten Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, als Ostasien (China, Südkorea, Japan u.a.) diese Auszeichnung für sich beanspruchte, sah das noch ganz anders aus. Es stimmt, dass mit der Zeit in Ländern wie Kenia und Nigeria weniger Kinder geboren werden, doch kommen sie dort im Vergleich zu anderen Erdteilen immer noch in weitaus größerer Zahl zur Welt. Gleichzeitig erhöht sich die Lebenserwartung der Menschen in diesen Regionen beträchtlich.
Man könnte ins Feld führen, dass die reinen Bevölkerungszahlen nicht viel besagen. Aber multiplizieren wir diese zusätzlichen Menschen einfach mit dem Geld, das diese Menschen in den kommenden Jahren vielleicht in ihren Taschen haben werden, dann zeigt sich, dass um 2030 herum asiatische Märkte – selbst wenn man Japan nicht mitrechnet – so groß sein werden, dass das gesamte Gravitationszentrum des globalen Konsums sich nach Osten verlagern wird. Unternehmen werden also keine andere Wahl haben, als sich an den Markttrends in diesem Teil der Welt zu orientieren. Dabei werden die meisten neuen Produkte und Dienstleistungen die Vorlieben asiatischer Konsumenten widerspiegeln.
Halten wir einen Augenblick inne und denken wir darüber nach. Was wäre, wenn wir diesen Trend an ein paar weitere, miteinander in Verbindung stehende Entwicklungen koppeln. Weniger Kinder in den meisten Teilen der Welt bedeuten, dass wir dort kontinuierlich auf eine schnell alternde Bevölkerung zusteuern. Ein Großteil dieses demographischen Wandels wird von der Tatsache befördert, dass immer mehr Frauen einen Schulabschluss machen, einer geregelten Arbeit (und nicht nur einem einfachen Job) nachgehen – und weniger Kinder bekommen. Es wird schon bald mehr Millionärinnen als Millionäre geben. Zudem wird der Wohlstand urbaner werden: Die Bevölkerung von Städten wächst jede Woche um 1,5 Millionen Bewohner. Obwohl Städte nur 1 Prozent der weltweiten Landfläche bedecken, leben in ihnen 55 Prozent der Weltbevölkerung, die 80 Prozent des weltweiten Energieverbrauchs (und des CO2-Ausstoßes) verursachen. Deshalb werden Städte an vorderster Front gegen den Klimawandel kämpfen.
Gleichzeitig haben die verschiedenen Generationen sehr verschiedene Sehnsüchte und Erwartungen. Als Hauptvertreter der sogenannten »Sharing Economy« gelten die »Millennials«, also die um die Jahrtausendwende Geborenen, die dem Gedanken von Besitz und Eigentum kritisch gegenüberstehen. Doch die Aufmerksamkeit, die ihnen gewidmet wird, scheint mir unangemessen. Innerhalb eines Jahrzehnts werden die über Sechzigjährigen die zahlenmäßig größte Generation darstellen. Sie besitzen heute schon 80 Prozent des Vermögens in den Vereinigten Staaten. Das wird zum Aufstieg eines »Marktes der Grauhaarigen« führen – der größten Verbrauchergruppe überhaupt. Große wie kleine Unternehmen sollten ihre Aufmerksamkeit auf ältere Bürger richten, wollen sie in den kommenden Jahren nicht an Relevanz verlieren.
Sehen wir uns Abbildung 1 an. Sie zeigt einen Prozess zusammenhängender kleiner Veränderungen. Isoliert betrachtet wird keine von ihnen zu einem Wandel von wahrhaft globalen Ausmaßen führen. Wir werden wahrscheinlich mit jeder einzelnen dieser Veränderungen gut leben können, solange wir sie von den anderen getrennt halten. Menschen verstehen es hervorragend, Dinge mental aufzuspalten. Dies ist ein unbewusster Abwehrmechanismus. Wir benutzen ihn, um kognitive Dissonanzen – das Unwohlsein und die Ängste, die durch sich widerstrebende Trends, Ereignisse, Wahrnehmungen oder Gefühle verursacht werden – zu vermeiden. Die mentale Spaltung hat vor allem den Zweck, die Dinge voneinander getrennt zu halten, damit wir durch ihr Zusammenspiel nicht überfordert werden.
Eine alternde Bevölkerung wird sowohl in Amerika als auch in Westeuropa zum Normalfall. Gleichzeitig treiben jüngere Generationen den Aufstieg der Mittelschicht in den Schwellenländern voran. Diese unterscheidet sich in ihrer Art radikal von allen Konsumentengruppen, wie wir sie bislang gekannt haben. So ist sie zum Beispiel viel mehr auf den sozialen Aufstieg bedacht. Breitet diese Mittelschicht sich aus, häufen immer mehr Frauen Wohlstand an. Männer und Frauen nehmen urbane Lebensweisen an und lösen in Städten auf der ganzen Welt die größten Migrationsströme aus, die die Welt je gesehen hat.
In diesen Städten wird es gleichzeitig immer mehr Erfinder und Unternehmer geben, die an neuen Technologien arbeiten, die traditionelle Technologien »disruptiv« vom Markt verdrängen. Ganz neue Möglichkeiten des Wohnens und Arbeitens, des Produzierens und Konsumierens werden sich eröffnen. Woraus sich wiederum alternative Bezahlkonzepte entwickeln, die dezentraler verwaltet werden und einfacher zu verwenden sind. Einige dieser Trends sind bereits heute zu beobachten, doch werden sie erst um 2030 voll durchschlagen. (Sie alle beschleunigen und verstärken sich jedoch, wenn ein unvorhersehbares Ereignis wie die Covid-19-Pandemie eintritt, auf die ich im Nachwort genauer eingehen werde.)
Nun erhalten wir aus dieser linearen Darstellung der Veränderungen, die um uns herum stattfinden, zwar eine ordentliche und praktische Kapitelreihenfolge für dieses Buch – doch so funktioniert die Welt in der Realität natürlich nicht.
Von Anthropologen und Soziologen wissen wir, dass wir die Komplexität der Welt immer und zwangsläufig reduzieren, indem wir sie auf einige wenige Kategorien herunterbrechen. Nur so können wir eine Übersicht gewinnen, um Entscheidungen zu fällen und Strategien zu entwickeln, die letztlich unser Überleben sichern.
Auch Firmen und Organisationen denken so. Sie sortieren die Überfülle an Informationen in eine übersichtliche Anzahl von Kategorien. Sie stecken Kunden in Schubladen wie »Innovatoren«, »Early Adopters« (»Frühe Anwender«) und »Laggards« (»Nachzügler«). Sie klassifizieren Produkte nach ihrem gegenwärtigen Marktanteil und potenziellem Wachstum als »Stars«, »Cash Cows«, »Dogs« oder »Question Marks« (»Fragezeichen«). Und sie betrachten ihre Angestellten als »Team-Player« oder »Karrieristen«, beurteilen sie nach ihren Einstellungen, ihrem Verhalten und ihrem Potential. Doch wer immer und ausschließlich in den ewig gleichen Kategorien denkt, ist blind für neue Möglichkeiten.
Um ein Beispiel zu nennen: Neben der Glühbirne, dem Telefon und dem Automobil war die Erfindung des »Ruhestands« eine der großen Errungenschaften des späten neunzehnten Jahrhunderts – ein Lebensabschnitt, in dem wir uns unseren Hobbys und unserer Familie widmen und die Gelegenheit haben zu ernten, was wir im Leben gesät haben. Aus dieser Epoche stammt unsere Vorstellung vom Leben als einer Folge von unterschiedlichen Stadien – Kindheit, Arbeit, Ruhestand –, die wir hoffentlich alle zu ihrer Zeit genießen werden.
Mit dem Geburtenrückgang und dem neuen Kräftespiel der Generationen muss unsere künftige Gesellschaft sich mit dieser traditionellen Vorstellung neu auseinandersetzen. Auch Senioren sind Konsumenten mit unterschiedlichen Lebensstilen, und sie können neue Technologien mindestens genauso schnell annehmen wie Millennials. Denken wir an die virtuelle Realität, an künstliche Intelligenz oder Roboter und wie diese Technologien unseren Lebensabend revolutionieren werden. Womöglich müssen wir die traditionelle Vorstellung von den Lebensstadien ganz aufgeben. Anders als in der Vergangenheit kann es sein, dass wir vor der Rente noch mehrmals zurück in die Schule gehen und neue Fertigkeiten erwerben müssen. Man denke an die Schlagzeile, mit der 2019 die New York Times aufmachte: »Wegen Mangel an Kindern – Südkoreanische Schule nimmt analphabetische Großmütter auf«.
Ich empfehle, dass wir ein lineares, zuweilen »vertikal« genanntes Denken wie in Abbildung 1 vermeiden. Stattdessen sollten wir Veränderungen »lateral« betrachten. Der Erfinder und Berater Edward de Bono entwarf das Konzept des lateralen Denkens, dem es nicht darum geht, »mit bereits existierenden Elementen zu spielen, sondern das versucht, ebendiese Elemente zu verändern«. Im Wesentlichen geht es darum, Fragen in einen neuen Zusammenhang zu stellen und Probleme »seitwärts« anzugehen. Durchbrüche kommen nicht zustande, indem man sich innerhalb der etablierten Paradigmen bewegt, sondern indem man vorgefasste Meinungen aufgibt und Regeln ignoriert – kurz: wenn man kreativ wird. Pablo Picasso und Georges Braque erfanden den Kubismus, indem sie in ihrer Malerei die allgemein anerkannten Regeln der Perspektive und der Anatomie über Bord warfen. Le Corbusier hob die moderne Architektur erst aus der Taufe, als er Mauern wegließ, um riesige offene Räume zu schaffen, Fenster über die volle Länge einer Fassade laufen ließ und Stahl, Glas und Beton in ihrer eigenen Eleganz zur Schau stellte, statt sie hinter Fassaden zu verstecken. »Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht«, schrieb Marcel Proust, »sondern dass man mit neuen Augen sieht.«
Tatsächlich kann laterales Denken durch eine solche »periphere Wahrnehmung« noch erweitert werden – ein Konzept, das meine Kollegen an der Wharton School, George Day und Paul Schoemaker, entwickelt haben. Wie das menschliche Sichtvermögen können auch Firmen und andere Organisationsformen nicht effektiv sein, solange sie die schwächeren Signale aus der Peripherie ihres unmittelbaren Zentrums weder bemerken noch interpretieren.
So machte etwa das 1888 gegründete Unternehmen Kodak im zwanzigsten Jahrhundert mit dem Verkauf von Filmmaterial riesige Gewinne. Zu Beginn der 1990er Jahre erkannten seine Ingenieure die ungeheuren Möglichkeiten der Digitalfotografie, doch die Führungsebene des Unternehmens dachte kurzfristiger und glaubte, die Menschen würden auch in Zukunft gedruckte Bilder bevorzugen. Das Ergebnis? Im Jahr 2012 meldete Kodak Konkurs an. Die Firma fiel einem Phänomen zum Opfer, das Richter Taylor in Harper Lees Roman Wer die Nachtigall stört mit den Worten auf den Punkt bringt: »Die Leute sehen gewöhnlich das, was sie sehen wollen, und hören das, was sie hören wollen.« Für das Unerwartete, das Ungewöhnliche sind sie blind.
In Abbildung 2 sehen wir eine alternative graphische Darstellung dessen, was auf der Welt vor sich geht:
Die breiten Pfeile, die im Uhrzeigersinn verlaufen, entsprechen der linearen Darstellung der miteinander verbundenen Trends, repräsentieren also im Wesentlichen das in Abbildung 1 Dargestellte, nur in Kreisform. Es wäre ein Fehler, wenn man sich nur auf diese linearen Verbindungen konzentrieren würde. Denn jeder Trend in den acht »Blasen« beeinflusst die anderen sieben. Ich werde jede dieser lateralen Verbindungen in den folgenden Kapiteln untersuchen und zeigen, wie diese Trends auf der ganzen Welt im Entstehen begriffen sind – und vor allem, wie sie sich bis 2030 vereinen werden.
Hier ein praktisches Beispiel von lateralem Denken: Das Online-Portal Airbnb steht im Wettstreit mit Hotels. Gleichzeitig versucht es, den Banken die Kunden wegzuschnappen. Wie das? Viele Rentner merken irgendwann, dass ihre Ersparnisse für einen sorgenfreien Ruhestand nicht ausreichen werden. Viele von ihnen besitzen allerdings eine wichtige Wertanlage: ihr Eigenheim. Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, das eigene Haus zu Geld zu machen, ohne es zu verkaufen. Der traditionelle Ansatz wäre, eine Hypothek aufzunehmen, was allerdings bedeutet, dass man künftig Schulden hat und zu monatlichen Zahlungen verpflichtet ist. Eine weitere Möglichkeit wäre es, gegen eine Leibrente eine Umkehrhypothek aufzunehmen, doch dann würden die Kinder das Elternhaus nicht mehr erben können.
Hier kommt Airbnb ins Spiel. Eltern erwachsener Kinder können leerstehende Zimmer an Reisende vermieten, die sich für eine bestimmte Zeit in der Region aufhalten. Dieses Arrangement ist für beide Seiten – Eltern wie Kinder – von Vorteil. Die Eltern könnten öfter ihre Kinder besuchen oder auf Reisen gehen und in dieser Zeit das ganze Haus an Urlauber vermieten. So oder so verdienen sie Geld und können ihr Haus behalten. Airbnb wäre nicht so erfolgreich, wenn das Unternehmen nicht auf mehrere, sich miteinander verbindende Trends reagieren würde: die abnehmende Geburtenrate, die längere Lebenserwartung, die unsichere Rente, den weltweiten Gebrauch von Smartphones und Apps sowie das wachsende Interesse daran zu teilen, statt zu besitzen. Wir werden alle diese miteinander verwobenen Trends kennenlernen und sehen, wie sie sich bis 2030 entwickeln.
Die Welt von morgen wird eine Welt neuer Möglichkeiten, aber auch neuer, unbekannter Gefahren sein, die uns alle, Individuen, Firmen und Organisationen, vor große Herausforderungen stellt. Im Schlusskapitel werde ich zeigen, dass wir diese Herausforderungen ganz anders angehen müssen, als wir dies in der Vergangenheit getan haben, und ich werde Ihnen, den Leserinnen und Lesern, ganz konkrete Tipps und Ratschläge an die Hand geben, wie Sie mit lateralem Denken die neuen Trends für sich nutzen können.
Und denken Sie daran, dies alles wird in unserer Lebenszeit stattfinden. Die neue Welt wartet bereits an der nächsten Ecke.