Читать книгу Zweihundertneunundneunzig - Lorens Tabert - Страница 23
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ОглавлениеSie hatte in der zwölften Klasse die Hausaufgabe schriftlich kontrolliert. Schmitt hatte ihr das angeraten: „Solchen Aufgaben entziehen sich die Schüler gern. Dann wird auf dem Weg zum Unterricht noch schnell der Nebenmann befragt oder die Zusammenfassung auf der Rückseite des Buchdeckels gelesen oder irgendetwas aus dem Netz gezogen oder einfach nur geraten. Am besten ist es, Fragen zum Inhalt zu stellen, die sich nur nach eigener Textlektüre beantworten lassen.“ Dem war sie gefolgt und hatte fünf einfache Fragen an der Tafel festgehalten: „1) Wer hat das Drama verfasst? 2) Wo spielt die zweite Szene? 3) Warum schlägt Simon seine Frau? 4) Warum werden vom ersten, zweiten und dritten Bürger nicht die Namen angegeben? 5) Welcher Konflikt wird in der zweiten Szene dargestellt?“ Jetzt saß sie neugierig im Lehrerzimmer. Sie wollte das Ergebnis sehen. Sie griff nach dem obersten Blatt auf dem Stapel: Die Löcher zum Abheften waren herausgerissen. Den Vornamen konnte sie kaum entziffern und der Nachname war nach dem Anfangsbuchstaben abgekürzt. Weder Datum noch eine Überschrift waren angegeben. Das Geschriebene zog sich randlos von der linken bis zur rechten Blattkante durch: „Das Drama wurde von Danton verfasst. Danton ist ein französischer Dichter. Die zweite Szene spielt deshalb wahrscheinlich in Frankreich oder an einem Handlungsort. Simon erschlägt seine Frau weil er wütend ist. Die Bürger tragen keine Namen weil Danton wusste wahrscheinlich gar nicht wie sie heißen oder sie wollten sich nicht zu erkennen geben. In Dramen treten immer Konflikte auf die sich entwickeln. Der Konflikt könnte damit zu tun haben das Simon die Frau schlägt.“ Die Schill blätterte nervös den Lösungsstapel durch. Auf den ersten Blick reichte das Spektrum von der sauberen und äußerlich strukturierten Niederschrift über umfängliches Geschmiere bis hin zum fast leeren Blatt: „Ich hatte leider keine Zeit, die zweite Szene zu lesen. Sorry!“ Eine Lösung fiel ihr ins Auge, weil sie nur aus Fließtext ohne Aufgabennummerierung bestand: „Georg Büchner wurde am 17.10.1813 in Goddelau geboren. Goddelau ist ein Dorf in Hessen, in dem Büchners Vater als Bezirksarzt tätig war. 1816 wurde er nach Darmstadt versetzt. »Dantons Tod« entstand 1835 und ist eine mit scharfem Realismus und visionärer Ausdruckskraft gestaltete Revolutionstragödie.“ Sie sackte in ihrem Stuhl zusammen. Neben die Traurigkeit zwängte sich der Schlafmangel der letzten Nacht. So saß sie versunken im Grundgeräusch des Lehrerzimmers. Kollegen gingen ein und aus, setzten sich, schrieben, lasen oder plauderten. Wiebke Schill nahm daran nicht teil. Sie brauchte Zeit, um sich aufzuraffen, ihre erste Prüfung zu benoten.