Читать книгу Zweihundertneunundneunzig - Lorens Tabert - Страница 7

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Obwohl schon Vormittag, wurde es erst jetzt allmählich hell. Zudem war es frostig geworden. „Die Kaltfront.“, dachte die Schill. Sie waren vom Norden hineingekommen, den Höhenzug hinab, der den Ort wie einen Kesselring umschloss, unterm Bahndamm hindurch, am Bahnhof vorbei zum SIG. Aber schon im Anstieg zum Höhenzug hatte ihnen der Turm der Marienkirche den Weg gewiesen. „Das passt ja: Wie der Zeigerfinger eines Schülers, der sich meldet“, war Streller dazu eingefallen. „Wohl eher der Zeigefinger Gottes“, hatte Schill gekontert. „Für ersteres zu groß und für letzteres zu klein“, hatte Streller zurückgefrotzelt und war zufrieden gewesen, dass seiner Chefin darauf nichts mehr eingefallen war. Nun parkten sie auf dem Parkplatz gegenüber dem SIG. Das Schulgelände war durch eine niedrige Buchsbaumhecke nur andeutungsweise von der Umgebung abgegrenzt. Lücken zeigten die Wege, die Schüler zur Abkürzung ihres Schulweges hineingetreten hatten. Dort, wo sich die Hecke zum Eingang öffnete, stand in einem grauen Mantel und unter einem grauen Hut fröstelnd eine hagere Gestalt. „Der wartet auf uns.“, schloss Streller. Die Gestalt eilte ihnen entgegen: „Morgen! Becker, Dezernent. Sind Sie die Kriminalisten?“ Die Schill stellte sich und Streller vor, dann gingen sie - Becker voran - auf die Schule zu. Das Gebäude lag in Form eines „H“ vor ihnen, wobei die Längsstriche des Buchstabens von den zwei Schulflügeln gebildet wurden, die in West-Ost-Richtung ausgerichtet waren. Die Treppe, auf die der Weg zulief, führte zu einem glasüberdachten Lichthof hinauf, der beide Flügel verband. Becker lenkte die Schill und Streller jedoch nach links auf eine der Bänke vor dem Südflügel. „Bevor wir weitergehen - der Fundort liegt auf der Rückseite - wollte ich Sie über die besondere Lage informieren, denn die Situation gestaltet sich für uns äußerst kompliziert: Bei der toten Person handelt es sich um eine Lehrerin der Schule, eine hochverdiente Lehrerin, und die Schule hat eine lange Tradition, ist ein fester Teil der Stadt ... aber sie ist derzeit in einer heiklen Lage ... mit der Schülerzahl steht es nicht zum Besten, Sie verstehen?“ Die Schill verstand nicht: „Wir ermitteln grundsätzlich vertraulich, wir sind eine Behörde, nicht die Presse.“ Becker holte aus: „Eine Grundsatzregelung verlangt im Minimum zwei Klassen von jeweils mindestens 20 Schülern pro Jahrgang bis zur Klasse 10 ...“, „... ergibt 240 Schüler.“, stellte Streller fest. Becker nickte traurig. „Wenn die Hälfte der Zehntklässler danach in die Berufsausbildung ginge, blieben je 20 Schüler für die elfte, zwölfte und dreizehnte Klasse.“ Jetzt nickte Streller. „Wir zeigen uns aber sehr großzügig, was die Verteilung der Schüler auf die Jahrgangsstufen angeht. Nur auf die Gesamtzahl sind wir festgelegt.“ Becker schwieg und Streller fragte nach: „Die Schule hat nicht zufällig 300 Schüler?“ Becker blickte fast entschuldigend: „Ja, so ist es.“ Die Schill hakte nach: „Und was erwarten Sie nun von uns?“ Bevor Becker der Kriminalrätin Antwort geben konnte, wurden sie von einem der Kriminaltechniker mitgenommen. Der führte sie über den gefrorenen Rasen um den Südflügel herum, an Tischtennisplatten vorbei, durch ein Rondell. „Der Pausenhof“, stellte Streller fest, „im Sommer, wenn die Kastanien blühen, sicher ein lauschiges Plätzchen.“ Hinterm Gebäude flankierten zwei Container den Zugang zum Lichthof. „Offensichtlich provisorisch aufgestellte Unterrichtsräume“, merkte Streller an. Der Kriminaltechniker bog in den Durchgang zwischen den Containern ein. Von dort führte allerdings keine Treppe zum Verbindungsflügel hoch. Die in den Parterrebereich hinaufragenden Kellerwände bildeten mit den Containerrückwänden einen kleinen Hof. Links und rechts führte jeweils eine stählerne Tür unter den Nord- bzw. Südflügel in den Kellertrakt der Schule. Aber so weit kamen sie nicht, denn gleich hinter dem Ende des Containerganges öffnete sich ein Schacht. Als Streller und Schill sich vorsichtig darüber beugten, erkannten sie einen Körper, der an einem Abflussrohr lehnend in einer trüben Flüssigkeit saß. Deren Oberfläche wurde von einem dünnen Eisfilm bedeckt. Die Kriminalrätin wandte sich an den älteren der beiden Techniker, der noch mit dem Fotografieren beschäftigt war: „Was wissen wir bis jetzt?“ „Nun, es handelt sich um eine Frau. Der Hausmeister hat sie als Frau Klee identifiziert, die hier als Lehrerin arbeiten soll. Sie liegt wahrscheinlich seit Sonnabend hier, frühestens seit dem Nachmittag. Sie ist den Gang entlang, ...“ er zeigte auf den Weg, den die Schill und Streller gerade selbst genommen hatten, „... ist auf die Abdeckung des Schachtes getreten, die Deckel haben nachgegeben, sie ist hineingestürzt und dabei mit dem Hinterkopf auf das Abflussrohr geschlagen. Das dürfte ihr die tödliche Verletzung zugetragen haben. Das Rohr wurde beschädigt, sodass der Inhalt herausgesickert ist. Wenn es nicht so kalt wäre, würde es - gelinde gesagt - mächtig stinken. Soweit ist alles plausibel, aber ...“, er schwenkte bedächtig mit dem Kopf, bis Streller für ihn fortsetzte: „Warum hat sich die Abdeckung geöffnet? Was hatte sie an diesem Tag um diese Zeit hier zu suchen? Warum wurde sie bisher nicht vermisst?“ Streller holte für weitere Fragen Luft, aber die Schill wischte dies mit einer Handbewegung weg: „Ein Unfall?“ „Selbst bei einem Unfall würden sich Fragen aufdrängen. Wenn wir die Leiche geborgen und den Schacht trockengelegt haben, schauen wir uns die Deckel und Verschlüsse an. Wenn der Körper durch die Beschau ist, wissen wir noch einmal mehr. Ich rufe durch, sobald wir was herausbekommen haben.“ Streller schaute sich um: „Ist jemand von der Schule da?“ Als hätte er sich aus dem Beton der Kellerwand herausgelöst, tauchte unvermittelt Beckers grauer Mantel wieder auf. „Der Hausmeister hatte versucht, den Schulleiter zu Hause anzurufen. Weil dort niemand zu erreichen war, hat er es beim Stellvertreter versucht. Der läuft aber dieses Wochenende einen Wintermarathon oder sowas. Deshalb hat der Hausmeister den Polizeinotruf alarmiert. Die Polizei hat bei der Schulbehörde nachgesucht. Und die hat mich herbeordert. Ich habe den Hausmeister heimgeschickt und ...“, er versank einen Moment in Zögern, „… Sie erinnern sich, 300 ... wenn sich das herumspricht ... eine Lehrerin ... im Schulabwasser ... die Anmeldungen für das nächste Schuljahr. Ich will mir nicht vorstellen, was das bedeutet. Wir möchten hier gern eine öffentliche Schule halten. Verstehen Sie, Frau Schill?“ „Sie wollen, dass wir auf Ermittlungen verzichten?“ „Nein. Es würde aber helfen, wenn der Todesfall nicht gleich mit der Schule in Verbindung käme: Sie ist gestorben, plötzlich, tragisch.“ „Wir haben aber noch Fragen.“ „Können Sie die nicht ganz dezent stellen?“ Streller mischte sich ein: „Er meint wohl verdeckt.“ „Mein lieber Streller, ich weiß, was er meint. Ich weiß hingegen nicht, wie er sich das praktisch vorstellt. Es wird auffallen, wenn externe Personen den internen Fragen stellen.“ Becker schränkte ein: „Externe, ja.“ Streller bestätigte: „Eine Interne nicht.“ Die Kriminalrätin wünschte diese Debatte abzuschließen: „Intern geht nicht - ich bin doch keine Lehrerin.“ Becker verzog das Gesicht zu einem schmerzhaften Ausdruck: „Sehen Sie, die Frau Klee hat unter anderem Politik unterrichtet. Fast alle Lehrer haben irgendwann einmal Politik gegeben.“ Er fixierte die Schill: Sie haben doch studiert, oder?“ Streller, dessen Hand wie zu einer Meldung in die Höhe schnellte, ergänzte: „Sie hat sogar Kurse an der Polizeischule gegeben.“ Die Schill wich aus: „Und wer ermittelt, so ganz offiziell?“ Streller meldete sich erwartungsvoll: „Ich?“ „Da spielt das Kommissariat nicht mit.“ Becker, der das Gesicht noch etwas stärker verzog, wurde nun ganz, ganz zaghaft: „Doch ... Ihre Einwilligung vorausgesetzt, sind Sie ab sofort die Neue am SIG, Studienrätin Schill.“ Die Kriminalrätin starrte Becker sprachlos an, während der Dezernent seine Überlegungen dahingehend präzisierte, dass sie möglichst umgehend den Fundort verlassen und die weitere Befragung Streller überlassen solle, damit ihre Identität geschützt bliebe. Die Schulleitung würde über den Dienstweg offiziell informiert werden, dass eine Frau Schill zum SIG beordert würde, damit sie einen Teil der Stundenlücke schließe, die Frau Klees Abgang hinterlassen habe. Der Hausmeister würde unter dem Vorwand, dass alle Informationen über den Todesfall auf offiziellem Wege zu erfolgen hätten, angewiesen werden, keine Details preiszugeben. Und während der fröstelnde Becker die grübelnde Kriminalrätin zum Parkplatz geleitete, stürzte sich Streller in seine ersten eigenen Ermittlungen.

Zweihundertneunundneunzig

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