Читать книгу Zweihundertneunundneunzig - Lorens Tabert - Страница 9
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ОглавлениеAm Montagmorgen bewegte sich Wiebke Schill über die Bahnhofsstraße auf das Schulgebäude zu. Dabei blickte sie auf die Fensterfront im Hochparterre der Stirnseite des Nordflügels. Dort verbarg sich die SIG-Verwaltung: Links das Schulleiterbüro, mittig das Sekretariat und rechts außen der stellvertretende Schulleiter. Dahinter erstreckte sich das Lehrerzimmer, dessen Fensterreihe nach Norden wies und das daher von der Straße aus nicht einzusehen war. Zum Lichthof aufgestiegen, hielt sie sich zweimal rechts und klopfte an die geöffnete Tür des Sekretariats: „Schill, ich ...“ Sie wurde unterbrochen: „Borke, Sekretärin.“ Und mit einem angedeuteten Lächeln weiter: „Seien Sie so gut und klopfen einmal nebenan! Der Herr Direktor erwartet Sie bereits.“ Auf ihr Klopfen vernahm die Schill ein gepresstes „Jaa!“ und nachdem sie eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, fiel ihr ein Mann am anderen Raumende in den Blick, der auf einem rollengelagerten Drehstuhl stand und sich über einen mit Papierstapeln übersäten Schreibtisch beugte - offensichtlich um das Fenster zu öffnen. Die Schill konnte kaum: „Das ist aber gefährlich ...“, zu Ende denken, als der Drehstuhl auch schon vom Tisch wegrollte. Der hagere Mann wirkte dem entgegen, indem er sich reflexhaft am Fenstergriff festklammerte. Das führte dazu, dass der entriegelte Flügel aufschwang und sich die Fahrt vom Mann und Stuhl unvermindert fortsetzte. Mit dem linken Arm wie ein Rodeo-Reiter rudernd, rollte er weiter, bis das Fenster vollständig geöffnet war. Er rollte immer noch weiter, bis auch der haltende Arm vollständig gestreckt war. Von hier ab fuhr der Stuhl alleine weiter, bis er unter den Füßen weggerollt war, sodass der Männerkörper in voller Länge auf den Boden aufschlug. Die Schill lief bis an den Besprechungstisch, der den Raum trennte: „Haben Sie sich verletzt?“ „Friedrich!“ stöhnte es zurück. Die Schill rief noch einmal lauter: „Wie geht es Ihnen?“ Der Herr, der sich unterdessen auf alle Viere aufgerappelt hatte, wiederholte: „Friedrich, Schulleiter! Frau Schill, nicht wahr? Nehmen Sie doch bitte Platz!“ Dabei nickte er zu den Stühlen, welche die Kriminalrätin aufgehalten hatten. Noch während sie sich setzte, wurde die Verbindungstür zum Sekretariat aufgerissen. Der dadurch entstehende Luftzug ließ sofort alle losen Blätter vom Schreibtisch wie Herbstlaub bis an die Zimmerdecke tanzen und danach zu Boden schweben, wobei auch Blätter auf Kopf und Rücken des Schulleiters zu liegen kamen. Frau Borke zeigte sich von dem chaotischen Bild unbeeindruckt: „Ich hab’s poltern hören. Ist was passiert?“ „Danke, danke, Frau Borke, alles unter Kontrolle“, jammerte Friedrich. Die Borke drückte - völlig unbewegt - ihre Erleichterung darüber aus und zog sich in ihr Büro zurück. Friedrich schaute traurig auf seine Besucherin. Dann ließ er den Blick erklärend über die Verwüstung gleiten: „Eigentlich wollte ich Ihnen jetzt Ihren Stundenplan aushändigen. Den muss ich aber erst mal wiederfinden. Vielleicht lassen Sie sich solange von Herrn Strecker durch die Schule führen.“ Sie erhoben sich: Friedrich unter Ächzen und nach jenen Blättern greifend, die in seiner Reichweite am Boden lagen; die Schill auf dem Weg zu Strecker.