Читать книгу Zweihundertneunundneunzig - Lorens Tabert - Страница 5

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Die Straßenlaternen streuten ohne Freude blassgelbes Licht vor die Schule. In diesem Halbgedämmer musste es so scheinen, als würden Menschenschatten vom offenen Maul des Gebäudes eingesaugt: Das Kollegium eilte zu den Zeugniskonferenzen, dem halbjährlichen, ungeliebten Ritual. Immer, wenn eine Sitzung beendet war, wurden die Teilnehmer vom Besprechungszimmer ausgespuckt, um mit den Teilnehmern der nächsten Konferenz zu kollidieren, die bereits in den Raum gerufen wurden. Die allerletzte Konferenz stand an. Während Direktor Friedrich noch über seinem Folianten kauerte, eroberte die Klee den Platz im Türrahmen und schnarrte in Richtung des Lehrerzimmers: „Schmitt, Neumann, Pöllner, Hubarth ...“, hinter „Hubarth“ stockte sie und setzte mit gedeckter Stimme fort: „Berthold, Ahrens, Mutze!“ Als sich die Gerufenen eingefunden hatten, lupfte sie die Augenbrauen: „Herr Friedrich, woll’n wir?!“ Sein Nicken schnitt sie mit einer Ankündigung ab: Es sei leider noch Wichtiges zu besprechen. Sie müsse deshalb um Verständnis bitten, dass es trotz später Stunde länger dauern werde. Es folgte eine Pause, die sie hielt, bis sich alle Blicke auf sie gerichtet hatten. Überraschenderweise verschob sich ihre Tonlage ins Gemütliche, als sie sich dem ersten Namen auf der Notenliste zuwandte: „... ein leistungsbereites Kind, gutes Haus, weiß jemand, was der Vater zur Zeit arbeitet? Naja, egal, jedenfalls war die Mutter schon bei uns. Ich kenne sie noch, wie sie im Kleidchen und mit langen Zöpfen über den Schulhof getobt ist. Erinnerst du dich, Regina?“ Die Mutze bestätigte das Bild, indem sie die Augen schloss und den Kopf wippen ließ. Die Klee referierte weiter: „Die Schülerin Ahlen ist natürlich auch fleißig und gut erzogen. ... Das zeigen ja auch die Zensuren, nicht wahr?“ Während sie die Zeugnisnoten der einzelnen Fächer verlas, vergewisserte sie sich mit einem kurzen Blick bei den jeweiligen Lehrern der Zustimmung: „Religion - sehr gut, Mathematik - gut, nur gut? Na, Deutsch - wieder sehr gut. Englisch - sehr gut mit einem Sternchen - hervorragend - toll! Oh! ...“, sie stoppte und blätterte in den Unterlagen. „Einige Fächer springen da leider raus ...“ Der Kopf blieb gesenkt, als müssten die getönten Brillengläser die ertappten Noten festhalten. Dann schwappte der Blick übers Gestell und wanderte langsam die Runde entlang. Die Stimme kroch ins Leise, Eindringliche: „Meine eigenen Kinder hatten ja auch bei fast allen von unseren alten SIGgis Unterricht. Da gab es Lehrer, bei denen sie viel gelernt haben, aber in einer kalten Atmosphäre, und es gab Lehrer, da haben sie vielleicht nicht so viel gelernt, aber sie haben sich wohlgefühlt." Katja Ahrens, eindeutig zu jung, um eine alte SIG-ianerin zu sein, hakte nach: „Was willst du uns sagen?“ Die Klee ruckelte sich auf dem Stuhl zurecht: „Ich habe am Schuljahresbeginn eine Einladung von Eltern erhalten.“ „Davon weiß ich ja gar nichts,“ unterbrach sie Friedrich, „Elterneinladungen sollen der Schulleitung gemeldet werden ...“ „Die Eltern und ich hielten das für besser. Es geht hier schließlich um Vertrauen … um Vertrauen, das die Eltern zu einigen von uns haben und zu anderen nicht. Einige Kinder kommen mit manchen Lehrern nicht zurecht. Sie lernen und lernen und bekommen dann trotzdem schlechte Noten. Sie werden unter Druck gesetzt, wenn sie sich nicht so benehmen, wie diese Kollegen sich das wünschen. Da werden Kinder ... kaputtgemacht.“ Der Ton forderte Stellungnahme. Frau Mutzes hohe Stimme wollte nach dem Faden greifen: „Dabei ...“ aber die Klee schnitt sie ab: „... wäre es so einfach: Kleinschrittig arbeiten, Stoff vermitteln, der sich gut einprägen lässt, motivierende Methoden einsetzen - Partnerübungen oder Lernplakate. In den Klassenarbeiten stellt man dann eine Aufgabe, die zuvor ordentlich geübt worden ist ... dann bekommt man auch ordentliche Ergebnisse.“ Die Zuhörer reagierten verhalten: In Bertholds Gesicht zog Ungläubigkeit die Augenbrauen in die Höhe, während bei Schmitt Skepsis die Mundwinkel abwärts krümmte. Neumann wollte wohl das Wort ergreifen, blieb aber stecken, weil die Klee schon weiterdozierte: „... und weil wir hier nun einmal alle beisammensitzen und weil bisher keine Besserung eingetreten ist, möchte ich jedem einzelnen noch einmal ins Gewissen reden, damit er sich prüfe, ob er nicht die Messlatte zu hoch hängt, ob er berechenbar für die Kinder ist, ob ...“ „Stopp!“ Pöllner hatte mit der flachen Hand auf den Tisch geschlagen. Das überraschte alle, denn sonst kannte man den 60-Jährigen nur als freundlich und besonnen. „So geht das nicht. Das ist kein Stil. Wenn Beschuldigungen auf den Tisch gelegt werden, dann sind auch Ross und Reiter zu benennen: Wer beschuldigt hier wen?“ Die Klee zog die Stimme noch einmal schärfer an: „Wenn Eltern um Vertrauen bitten, dann ist mir das Verpflichtung … auch um für die Schule Kanäle aufzuhalten ...“ Neumann unterstützte Pöllner: „Welche Eltern denn? Welche Lehrer denn? Irgendwas Konkretes dürfte es schon sein.“ Mit einem entschiedenen: „So!“ knallte die Klee den Kugelschreiber auf den Tisch. Sie krümmte die Finger der freigewordenen Hand derart ein, dass die Knöchelspitzen weiß heraustraten. „Neumann! Wenn Sie schon so Fragen, Ihr Name taucht immer wieder auf.“ „Dir ist aber schon klar, dass wir über eine sehr spezielle Klasse reden?“ brummte Schmitt, während Neumann, den Körper weit nach vorn gebeugt, mit dem Zeigefinger auf die Klee zielte: „Lass deine Spielchen, du ...“ Er rang nach Luft, kam aber nicht weiter, weil die Ahrens an seinem Arm zog und Friedrich sich erhoben hatte: „Kollegen! Liebe Kollegen! Besonnenheit! Wir ziehen doch am selben Strang. Frau Klee, dürfte ich Sie bitten, sich auf die kritischen Einzelfälle zu beschränken? Herr Schmitt, Herr Neumann, darf ich auf sachliche Einwände hoffen? Frau Klee, bitte!“ Es war spät, als die letzten Gestalten endlich das Schulgebäude verließen. Weil die Straßenlaternen bereits abgeschaltet waren, mussten sie im Dunkeln den Weg zu ihren Wagen finden.

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