Читать книгу Zweihundertneunundneunzig - Lorens Tabert - Страница 8
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ОглавлениеAm Abend klingelte das Telefon das zweite Mal. Becker war dran und gab bekannt, dass die Schill von der Polizei offiziell an die Schulbehörde ausgeliehen sei. Man habe sogar eine Wohnung für sie angemietet. „Am Sonntag?“, hatte sie sich vergewissert. „Ja, im Städtchen geht das. Dort ist es ohnehin üblich, dass man am Schulort wohnt ... Residenzpflicht.“ Er bat sie, sich am nächsten Morgen um acht Uhr der Schulleitung vorzustellen. Direktor Friedrich werde bis dahin eine amtliche Mitteilung vorliegen. „Ist der denn wieder aufgetaucht?“, warf die Schill erstaunt dazwischen. „Ihr Stellvertreter hat ihn aufgespürt. Aber eines noch, Frau Schill, wenn Sie Fragen haben oder vor Problemen stehen, vergessen Sie bitte nie, niemals: Sie sind jetzt eine Lehrerin. Im Zweifelsfall wenden Sie sich bitte direkt an mich!“ Er diktierte ihr eine Telefonnummer, unter der er jederzeit - und zwar wirklich jederzeit - für sie erreichbar sein würde und schwor sie noch einmal eindringlich auf die Wahrung ihrer Rolle ein. Während sie noch darüber nachdachte, was schlimmstenfalls passieren könnte, falls sie auffliegt, klingelte der Apparat schon wieder. Streller überbrachte Neuigkeiten: Die Spurensuche am Fundort hatte keine weiteren Hinweise ergeben. Deshalb hatte er den Hausmeister beide Kellertüren öffnen lassen. Die rechte führte in einen Gymnastikraum, der - weitgehend leer und nur mit grünem Teppich ausgelegt - hauptsächlich von einer Tanzgruppe genutzt wurde. „Die linke Tür - Sie werden es nicht glauben ...“ Pause. Die Schill sah einen stolz-strotzenden Streller vor sich. „Nun?“ „Sie ließ sich nicht öffnen, das Schloss war von innen blockiert. Der Hausmeister hat es aufbohren müssen und ...“ Wieder eine Pause. „Streller!“ mahnte die Schill den Mitarbeiter. „Als wir die Tür endlich geöffnet hatten, stand der Schulleiter dahinter. Er gab an, dass er am Sonnabendmorgen infolge der Zeugniskonferenzen noch Verwaltungskram erledigt habe. Dazu sei er mit einem Karton Aktenordnern ins Archiv gegangen. Er behauptet, den Schlüssel von innen ins Schloss gesteckt zu haben, damit er ihn beim Rausgehen nicht vergesse, weil die Tür von außen keine Klinke habe. Als er gegen Mittag mit der Arbeit fertig war, will er den Karton innen auf die Türklinke gestützt haben, um den Schlüssel aus dem Schloss zu ziehen. Dabei sei ihm der Karton abgerutscht und habe den Schlüssel, der hochkant im Schloss steckte, um 90 Grad gedreht. Im weiteren Fallen habe der Karton den Schlüssel abgebrochen, weshalb sich das Schloss nicht mehr öffnen lassen habe.“ Die Schill wollte wissen, warum er sich nicht bemerkbar gemacht habe, durch ein Mobiltelefon, durch Klopfen an der Tür oder durch ein Fenster und warum er nicht vermisst worden sei. Aber Streller führte für jeden Einwurf eine plausible Erklärung an: Der Schulbau fiel in die Zeit des Kalten Krieges, weshalb der nördliche Kellertrakt als Schutzraum ausgelegt worden war, hermetisch abgeschlossen, ohne Fenster, mit einer zentimeterdicken Stahltür, die kein Klopfen in Schwingungen versetzen kann. Die Wände bestehen aus bombenfestem Stahlbeton, der keine Funkwelle passieren lässt. Nachdem die Schutzfunktion nicht mehr benötigt worden war, hatte man darin alle Verwaltungspapiere nebst einem Arbeitsplatz untergebracht. Die Ehefrau des Schulleiters sei für zwei Wochen zur Kur gefahren und hatte ihren Gatten daher nicht vermissen können. Ungläubig fasste Wiebke Schill zusammen: „Da war der arme Mann also im Luftschutzbunker eingeschlossen, als eine Untergebene vor der Kellertür zu Tode kam und er wäre dort möglicherweise irgendwann unvermisst verhungert, wenn der Tod der Frau Klee nicht zu seinem Auffinden geführt hätte. Er hat natürlich nichts bemerkt?“ „Wenn Sie Herrn Friedrich persönlich kennenlernen, werden Sie seine Glaubwürdigkeit selbst beurteilen können.“ Der Ton in Strellers Stimme ließ sie ahnen, dass er während seiner Prophezeiung grinste. Sie machte ihm aber nicht die Freude, deswegen nachzufragen. Ihre Neugier wurde zudem schnell von Unruhe und Ungewissheit verdrängt, weil die Kriminalrätin Schill sich nicht vorstellen konnte, was die Studienrätin Schill am nächsten Tag im Städtchen und in der Schule erwarten würde. Sie begann zu packen.