Читать книгу Pädagogische Psychologie - Marcus Hasselhorn - Страница 53

Was beeinträchtigt den längerfristigen Zugriff auf erworbenes Wissen?

Оглавление

Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass einmal erworbenes Wissen in der »Bibliothek« unseres Langzeitgedächtnisses kaum mehr verloren geht. Allerdings wird es in einer die Zugänglichkeit beeinträchtigenden Weise deaktiviert, je länger wir es nicht mehr benutzt haben. Die Folge davon ist, dass wir immer wieder in Situationen geraten, in denen der Zugriff (Accessibility) auf einmal erworbenes und prinzipiell vorhandenes Wissen (Availability) nicht mehr gelingt. In solchen Situationen sprechen wir umgangssprachlich davon, die relevante Information vergessen zu haben. Was aber ist Vergessen? Weshalb gelingt es mit zunehmendem Zeitabstand zum Lernen immer weniger gut, die einmal gelernten Sachverhalte zu erinnern?

Dass sich der Zugriff auf einmal erworbene Wissenselemente mit der Zeit verschlechtert, ist schon seit den Anfängen der experimentellen Gedächtnisforschung im 19. Jahrhundert bekannt. Bereits im ersten erfahrungswissenschaftlichen Buch über das Gedächtnis berichtete Hermann Ebbinghaus (1885) über Selbstversuche, in deren Verlauf er lange Listen sinnarmer Silben lernte, bis er sie korrekt reproduzieren konnte. In unterschiedlichen Zeitabständen von 21 Minuten bis zu 31 Tagen versuchte er die Silbenlisten erneut aufzusagen und stellte fest, dass ihm dies fehlerfrei kaum mehr gelang. Die Erinnerungseinbußen waren anfangs sehr groß und wurden mit zunehmender Zeit immer geringer. Wie in Abbildung 1.4 dargestellt, ließ sich das Verhältnis von noch erinnerbarer Information und verstrichener Zeit durch eine Exponentialfunktion beschreiben: Die Geschwindigkeit des Vergessens folgt einer logarithmischen Funktion zur Basis ½. Seit den Pionierarbeiten von Ebbinghaus sind immer wieder aufs Neue Vergessenskurven für unterschiedliche Gedächtnisinhalte und über unterschiedlich lange Zeitintervalle sowie mit verschiedenen Methoden der Behaltensprüfung ermittelt worden. Obwohl Ebbinghaus offenkundig ein vergleichsweise stark ausgeprägtes Vergessensverhalten aufzeigte, bestätigen die Folgeversuche immer wieder den gleichen Verlaufstyp des Vergessens mit der Zeit.

Wodurch aber kommt es zu Vergessen? In der empirischen Gedächtnisforschung geht man davon aus, dass es wenigstens drei Arten von Mechanismen gibt, die zum Vergessen beitragen können. Dabei handelt es sich a) um den Zerfall von Gedächtnisspuren im Langzeitgedächtnis, b) um die wechselseitige Hemmung von Gedächtnisinhalten durch Überlagerung sowie c) um das Scheitern des Zugriffs beim versuchten Abruf mangels geeigneter Hinweisreize.


Abb. 1.4: Die klassische Vergessenskurve nach Ebbinghaus (1885), modifiziert nach Baddeley (1986)

Die Theorie des Spurenzerfalls (Trace Decay) kommt dem naiven Alltagsverständnis des Vergessens wahrscheinlich am nächsten. Muskeln, die nicht benutzt werden, atrophieren, das heißt, sie verlieren an Umfang und an Kraftpotenzial. Tierspuren auf dem Waldboden werden von Tag zu Tag weniger deutlich zu sehen sein – und eine starke Sonneneinstrahlung bleicht farbliche Strukturen aus. Genau so können auch die Repräsentationen erworbenen Wissens mit der Zeit undeutlicher und schwächer werden. Obwohl derzeit weder die physikalischen, noch die biochemischen Mechanismen, die einen derartigen Spurenzerfall von Repräsentationen im Gedächtnis auslösen könnten, hinreichend bekannt sind, ist es doch denkbar, dass es aufgrund neuronaler Prozesse zu einem zeitabhängigen Verblassen mentaler Repräsentationen kommen kann.

Darüber hinaus ist seit den Arbeiten von McGeogh (1932) bekannt, dass Ausmaß und zeitlicher Verlauf des Vergessens auch davon abhängig sind, was direkt vor oder nach der kritischen (d. h. nicht mehr erinnerbaren) Wissenseinheit gelernt wurde. Diese Erkenntnis ist die Grundlage der sogenannten Interferenz- bzw. Überlagerungstheorie (Interference) des Vergessens. Durch Prozesse des Wissensabgleichs bei der Verarbeitung neuer Informationen kann es zu wechselseitig hemmenden Einflüssen schon vorhandenen Wissens auf die neue Information (proaktive Hemmung bzw. Interferenz) kommen. Es können aber auch die neuen Informationen Irritationen verursachen, indem sie die bereits vorhandenen Wissensrepräsentationen beeinträchtigen (retroaktive Hemmung bzw. Interferenz). Indem wir ständig neue Informationen verarbeiten, sind derartige Überlagerungs- oder Hemmungsprozesse auch ständig am Werk. Um diese Formen des Vergessens modellhaft zu erklären, ist ein Rückgriff auf biochemische Prozesse gar nicht unbedingt erforderlich. Einen guten Überblick über die kognitionspsychologischen Erklärungsansätze solcher Interferenzprozesse gibt Anderson (2000).

Wenn wir ein einmal erworbenes Wissen nicht mehr abrufen können, muss dies nicht unbedingt die Folge von Spurenzerfall oder Interferenz sein. Möglicherweise fehlt uns nur der notwendige Schlüssel (die Signatur), also ein geeigneter Abrufhinweis, um die relevanten Repräsentationen hinreichend stark zu aktivieren, damit sie im Arbeitsgedächtnis bewusst werden. Dies ist die Grundannahme der Theorie des fehlenden Abrufhinweises (Retrieval Cue), die auf dem von Tulving und Thomson (1973) erstmals beschriebenen Prinzip der Enkodierungsspezifität basiert:

Was gespeichert wird, ist determiniert durch das, was wahrgenommen wurde und wie es enkodiert wurde; gleichzeitig wird dadurch auch bestimmt, welche Abrufhinweise effektiv sind, um später Zugriff auf das zu erlangen, was gespeichert ist. (Tulving & Thomson, 1973, S. 353)

Daraus folgt, dass der Zugriff auf erworbenes Wissen umso besser gelingt, je mehr Hinweise aus der Lernsituation, in der das Wissen einstmals erworben wurde, auch in der Abrufsituation verfügbar sind. Ein gutes Beispiel für das Prinzip der Enkodierungsspezifität ist die von Lehrpersonen nicht selten berichtete Beobachtung, dass ihre Schülerinnen und Schüler in Prüfungen dann bessere Leistungen zeigen, wenn diese auch in dem Raum stattfinden, in dem der Prüfungsstoff erarbeitet wurde. Offenkundig bieten Merkmale des räumlichen Kontexts einer Lernepisode bereits Hinweisreize, die beim späteren Wissensabruf hilfreich sind (Herz, 1997).

Pädagogische Psychologie

Подняться наверх