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5. Die Kunst des Krieges

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Sechs Minuten nach dem Mord

Die beiden Männer bereiten sich darauf vor, den Schutz der Bäume zu verlassen. Mit geübter Hand montiert Messiah das Zielfernrohr ab, zerlegt das Präzisionsgewehr und verstaut die Einzelteile in den Fächern seines Rucksacks. Jede Bewegung ist wohlüberlegt: Er will keine Sekunde verlieren.

Neben ihm schält sich Black Dog aus dem schwarzen Overall, unter dem er Shorts und T-Shirt trägt, und stopft ihn zu seiner übrigen Ausrüstung. Auch Messiah zieht seinen aus, verharrt dann einen Moment und stiert ins Leere.

»›Töte einen, um tausend zu warnen …‹«

Black Dog würdigt das Zitat mit Kennermiene.

»Die Kunst des Krieges von Sunzi.«

Messiah nickt.

»Du formatierst den Computer der Zielperson neu?«

»Ist schon so gut wie erledigt.«

Black Dog tippt seit mehreren Minuten auf seinem Laptop, als er aus dem Augenwinkel bemerkt, wie Messiah, ein Knie auf dem Boden, die Patronenhülse, die sein Gewehr ausgeworfen hat, zwischen seinen Fingern betrachtet. Die Hülse, die das Projektil enthielt, das Lefebvres Leben beendet hat.

Er ahnt, was in ihm vorgeht, und versucht ihn zu beruhigen.

»Er hat es verdient. Du hast keine Wahl gehabt.«

Mit bedrückter Miene richtete sich Messiah schließlich auf und schultert den Rucksack. Black Dog arbeitet weiter am Laptop.

»Noch zwei Minuten. Dann bin ich durch.«

Aber Messiah hört nicht hin. Er zieht noch mehr blaue Steine aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Boden. Bilder und Stimmen steigen in seiner Erinnerung auf.

Afghanistan, 2011. Die Waffen im Anschlag, die Nerven zum Zerreißen gespannt, rücken Messiah und Iba auf der Straße vorsichtig vor. Die junge Frau ruft den Schaulustigen, die sie mit hasserfüllten Blicken und Beschimpfungen empfangen, auf Arabisch Befehle zu.

»Platz da! Los!«

Der Anblick ihrer Waffen und Messiahs entschlossener Miene überzeugen schließlich auch die Widerspenstigen. Die Menge teilt sich vor ihnen. Bald verschwinden die letzten Passanten im Gewirr der engen Gassen. Sie gelangen an die Stelle, wo das Mädchen gestorben ist.

Erschüttert geht Messiah zu dem kleinen Körper, der auf dem Boden im Staub liegt. Das Mädchen muss fünf oder sechs Jahre alt gewesen sein. Wäre da nicht der Blutfleck, der auf der Höhe des Herzens ihr Kleid besudelt, könnte man meinen, sie schlafe friedlich.

Iba legt ihrem Partner mitfühlend die Hand auf die Schulter.

»Wir können nichts mehr tun. Wir müssen hier weg.«

Mit feuchten Augen schluckt Messiah den Kloß hinunter, der sich in seinem Hals gebildet hat. Er will sich gerade abwenden, da fällt sein Blick auf etwas Glänzendes in der rechten Hand des Kindes. Ein blauer Stein. Er bückt sich, geht runter auf ein Knie und streckt die Hand danach aus. Noch weiß er es nicht, aber der Stein ist mit einem Draht verbunden, der im Ärmel des Pullovers des Mädchens verborgen ist.

Erst als er den Stein mit den Fingern berührt, wittert Iba die Gefahr.

»Nicht!«

Ihre Warnung kommt zu spät. Messiah erkennt seinen Fehler, als er ein Klicken hört. Iba wirft sich gegen ihn, um ihn von dem toten Mädchen wegzustoßen. Im selben Moment gibt es eine heftige Explosion. Wie Puppen werden sie weggeblasen und in einer Wolke aus menschlichen Körperteilen, Blut, Sand und Staub nach hinten geschleudert.

Black Dogs ernste Stimme reißt Messiah jäh aus seinen Erinnerungen und holt ihn in die Gegenwart zurück.

»Neuformatierung … abgeschlossen.«

Er klappt den Laptop zu und lässt ihn in seinen Rucksack gleiten. Messiah sieht ihn finster an.

»Jetzt können wir nicht mehr zurück.«

Black Dog nickt und berührt ihn an der Schulter.

»Wir treffen uns am Pick-up.«

Ohne ein weiteres Wort macht er sich im Laufschritt auf den Weg. Messiah wirft einen letzten Blick in die Runde, um sich zu vergewissern, dass sie keine verräterischen Spuren zurücklassen.

Andächtig betrachtet er die blauen, ins Lila spielenden Steine, die er im Gedenken an den Mann, der soeben durch ihn gestorben ist, zu einem Inuksuk aufgeschichtet hat.

Er schließt die Augen. Eine Stimme hallt durch seinen Kopf und vermischt sich mit dem Bild und dem Pfeifen eines Stocks, der durch die Luft auf ihn niedersaust. Wie jedes Mal, wenn er an die Kendostunden denkt, schmeckt er wieder den Schmerz und die Wut auf der Zunge. »Immer Respekt vor dem Gegner haben. Beweg dich!«

Sein Vater. Der Mann, den er mehr als jeden anderen liebt und hasst. Er nimmt die Sonnenbrille ab und setzt seine Augen dem Licht aus.

Bei der Explosion der selbst gebauten Bombe in Afghanistan, die Iba Khelifi und ihn fast das Leben gekostet hätte, ist sein linkes Auge in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Iris hat eine starke Depigmentierung erfahren und sieht inzwischen wie verwaschen, fast wie gebleicht aus. »Immer in Bewegung bleiben! Mach schon!«

Er setzt die Sonnenbrille wieder auf und schlägt den Weg zur Straße ein. Der Hang ist hier steil, von Gestrüpp überwuchert und unwegsam. Aber sein Laufstil wirkt geschmeidig und kraftvoll. In diesem Augenblick erinnert Messiah nicht an eine zum Töten gedrillte Kampfmaschine, sondern an einen Jogger, der jeden Tag auf dem Mont Royal Dutzende anderer überholt.

In die Fluten der Dunkelheit

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