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17. Programm Rote Flut

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Victor nahm wieder Platz, nachdem er den ersten Schock verdaut hatte. Komarov bestellt einen Grog und er einen Kaffee. Er war nach wie vor sehr skeptisch, was die vermeintlichen Enthüllungen des Russen anging, doch er konnte sich nicht zum Gehen aufraffen, als wäre er hier festgenagelt.

Die Angehörigen eines Menschen, der einen Mord begangen hat, hoffen, selbst wenn die Beweise erdrückend sind, immer darauf, dass eine plötzliche Wendung die Fakten in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Und dass die dadurch gewonnenen neuen Erkenntnisse, wenn schon nicht die Unschuld des geliebten Menschen beweisen, so doch wenigstens eine rationale Erklärung für sein Tun liefern. Denn für die, die der Mörder zurücklässt, ist Verstehen der einzige Weg, das Dunkel zurückzudrängen.

»Deine Reaktion ist normal. Es ist schwer, dir Henri anders vorzustellen, wenn du über dreißig Jahre lang nur einen Mörder in ihm gesehen hast.«

Victors Züge verhärteten sich.

»Er war einer.«

Wieder hob der Russe beschwichtigend die Hände.

»Keine Sorge, ich habe nicht die Absicht, irgendwas von dem, was er getan hat, zu entschuldigen.«

Victor sah ihn forschend an.

»Nicht? Was wollen Sie dann?«

»Misstraust du mir, weil ich am Telefon so schnell Ja gesagt habe? Ich gebe zu, ich bin nicht aus Altruismus hier. Mir liegt zwar sehr daran, dass du die Wahrheit über Henri erfährst, aber ich selbst habe auch ein paar Fragen an dich.«

Victor wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick wurden sie vom Kellner unterbrochen. Er beäugte den Russen jetzt noch argwöhnischer, doch sie schwiegen, bis der Mann die Getränke auf den Tisch gestellt und sich wieder entfernt hatte.

Komarov hatte damit begonnen, ihm die Anfänge der Kalten Kriegs zu schildern und die Grundzüge dieses Konflikts in Erinnerung zu rufen, in dem sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion oder, weiter gefasst, die westlichen Demokratien und die kommunistischen Regime vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gegenübergestanden hatten. Victor hatte ihn gedrängt, sich kurz zu fassen, doch der Russe hatte darauf bestanden, systematisch an die Sache heranzugehen.

Jetzt endlich schien er auf den Punkt zu kommen.

»Im Kalten Krieg hatten die Mounties die Aufgabe, die Linke auszuspionieren und Listen von Personen zu erstellen, die in der Lage waren, Massenbewegungen zu organisieren. In diesem Zusammenhang hat die Regierung ein streng geheimes Programm ins Leben gerufen, das Programm Rote Flut.«

Victor lehnte sich im Stuhl zurück, verzog aber keine Miene.

»Sollte mir das etwas sagen?«

»Du könntest davon gehört haben. Es ist längst publik. In den neunziger Jahren gab es Berichte darüber, die du im Internet finden könntest.«

»Okay, aber was war der Zweck des Programms? Und warum erzählen Sie mir davon?«

»Geduld, Towarischtsch. Dazu kommen wir gleich.«

Komarov ergriff seine Tasse, aus der es dampfte, und führte sie an die Lippen, hielt aber mitten in der Bewegung inne.

»Das Ziel von Rote Flut bestand darin, Leute, die mit den Kommunisten sympathisierten, zu identifizieren und zu überwachen und im Falle eines Konflikts mit der Sowjetunion zusammen mit ihren Familien in Lagern zu internieren.«

Victor kniff die Augen zusammen und betrachtete sein Gegenüber mit wachsendem Interesse.

»Aber worüber genau reden wir hier? Über eine Art Ghetto, in das Leute gesperrt werden sollten, deren politische Ansichten nicht genehm waren?«

Der Russe trank einen Schluck und verzog das Gesicht. Der Grog war zu heiß.

»Nicht nur eines. Die Grundidee war, acht über ganz Kanada verstreute Lager zu errichten, darunter eins in Saint-Gabriel-de-Brandon. Internierung ohne vorausgehendes Verfahren und auf unbestimmte Zeit, Verlust aller Grundrechte. Wenn beide Eltern auf der Liste standen, hatten die Behörden Anweisung, auch die Kinder mitzunehmen. Bei Fluchtversuchen durften die Gesetzeshüter sogar von der Schusswaffe Gebrauch machen.«

Victor hatte Mühe, die Fülle von Informationen zu verarbeiten, und fuchtelte mit den Händen, um seinen Gesprächspartner zu einer Pause zu zwingen.

»Moment mal. Ich will sichergehen, dass ich richtig verstehe. Was Sie da beschreiben, nennt man Konzentrationslager. Die hätte es hier geben sollen, in Kanada?«

Komarov nickte ernst.

»Aber diese Lager sind nie errichtet worden.«

Der Russe stellte sein Getränk zurück.

»Nein. Zum Glück. Aber es war alles dafür vorbereitet.«

»Dann war Rote Flut ganz umsonst?«

»Faktisch kam das Programm ein einziges Mal zur Anwendung, 1970 während der Oktoberkrise. Die Regierung musste den Kreis der Verdächtigen über die Mitglieder der FLQ, der Befreiungsfront für Québec, hinaus erweitern, um die Intervention der Armee zu rechtfertigen. Also haben sie auf die Liste zurückgegriffen und dreihundert Anhänger der Kommunisten verhaftet, um der Öffentlichkeit Sand in die Augen zu streuen. Aber das ist eine andere Geschichte.«

»Und dieses Programm, existiert es noch?«

Victor zuckte zusammen, als Komarov in seine Jacke griff, atmete jedoch auf, als der nur ein vorsintflutlich anmutendes Taschentuch hervorzog.

»Es wurde im Jahr 1984 aufgelöst, als die geheimdienstliche Abteilung der Mounties durch den Service canadien du renseignement de sécurité ersetzt hat.«

Ein Zittern befiel Victors rechte Hand.

»Und besagte Liste … Ist sie der Grund, warum mein Vater …«

Er war so erregt, dass er den Satz nicht zu Ende brachte.

»Henri hat 1975 begonnen, für das Projekt Rote Flut zu arbeiten. Damals habe ich der Linken angehört, von der ich eben gesprochen habe. Ich habe mit der kommunistischen Partei sympathisiert.«

Der Russe machte eine Pause, während Victors Herz immer heftiger klopfte und sein Atem sich beschleunigte. Dann pulverisierte Komarov seine letzten Gewissheiten.

»Am Tag der Tragödie sollte Henri mir die Liste übergeben.«

In die Fluten der Dunkelheit

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