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21. Gefahrenpotenzial

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Jacinthe betrat den Konferenzraum und stellte einen Becher mit dampfendem Kaffee vor Virginie hin, neben den Aktenordner, auf den diese mit den Fingern trommelte, dann nahm sie ihr gegenüber Platz und trank einen Schluck Cola Zero.

»Okay, Schätzchen. Du hast gesagt, du hättest vielleicht etwas Interessantes?«

Die beiden Frauen hatten sich am Tag nach dem Mord an Lefebvre auf Jacinthes Bitte hin getroffen und vereinbart, dass Virginie als ihre Ansprechpartnerin bei der Zeitung fungieren und ihnen dabei helfen sollte, die berufliche Vergangenheit ihres toten Kollegen zu durchleuchten. Zwar hatten die Ermittler noch keine Spur, die darauf hindeutete, dass die Ermordung des Journalisten mit seiner Arbeit zu tun hatte, doch die Art und Weise, wie er umgebracht worden war, und sein Verhalten in letzter Zeit machten diese Maßnahme unumgänglich.

Hatte er bereits einen Artikel geschrieben, der eine Person oder eine Organisation so aufgebracht hatte, dass sie beschloss, ihn aus dem Weg zu räumen? Hatte er in den Tagen vor seinem Tod an einer Reportage über ein Thema gearbeitet, das so viel Sprengstoff enthielt, dass man ihn zum Schweigen hatte bringen wollen? War er bei seinen Recherchen und Gesprächen in den letzten Wochen auf etwas gestoßen, dessen Gefahrenpotenzial er verkannt hatte?

Virginie schob ihre überdimensionierte Brille den Nasenrücken hoch.

Mit Unterstützung eines Spezialisten vom Dezernat Computerkriminalität hatte sie vergeblich den Inhalt von Lefebvres Rechner durchforstet, einschließlich der besuchten Internetseiten. Außerdem hatte sie mit Lefebvres Chefredakteur, ihrem eigenen Chef, seinem Ressortleiter und seinen Kollegen gesprochen und die Aufträge überprüft, mit denen er die Rechercheure der Zeitung in den vorausgegangenen zwei Jahren betraut hatte.

Guillaume Lefebvre hatte unlängst eine Artikelserie über die menschlichen Aspekte der Migrationsströme abgeschlossen, die auf Erfahrungsberichten von Männern und Frauen in aller Welt beruhte.

»Sind wir uns einig, dass Guillaume, falls er heimlich an einem Artikel gearbeitet hat, ungewöhnlich vorsichtig zu Werke gegangen ist, um unter dem Radar zu bleiben?«

»Auf jeden Fall, denn mit einer so schönen Brille hättest du es sonst bemerkt.«

Jacinthe flirtete und machte sich gleichzeitig lustig. Virginie befeuchtete sich die Lippen.

»Stimmt es eigentlich, dass der Schütze auf dem Mont Royal gelauert hat?«

Die Ermittlerin verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Bitteres gekostet.

»Dazu darf ich nichts sagen.«

Die Journalistin lächelte entwaffnend.

»Einen Versuch ist es wert.«

Jacinthe zwinkerte ihr zu.

»Wem erzählst du es weiter?«

Sie erwog, das Spiel der Verführung noch weiterzutreiben, doch sie verkniff es sich, denn genau das musste es bleiben: ein Spiel, bei dem jede ihre Rolle kannte, ein Treffen, bei dem jede darauf Rücksicht nahm, welche Hindernisse zwischen ihnen standen.

Virginie ergriff den Ordner, bevor sie fortfuhr.

»Was ist beste Art, mit jemandem zu kommunizieren, ohne Spuren zu hinterlassen?«

»Das gute alte Gespräch unter vier Augen. E-Mails, Telefonate und SMS hinterlassen Spuren.«

Die Journalistin nickte: Das war die Antwort, die sie erwartet hatte.

»Ich habe mir seine Spesenabrechnungen angesehen.«

Sie zog ein paar Blätter hervor und schob sie über den Tisch: Kopien von vier Rechnungen desselben Restaurants, einer Pinte in Chinatown.

»Wenn Guillaume eine Kontaktperson zum Essen einlud, trug er normalerweise deren vollständigen Namen ein. Bei diesen vier Rechnungen steht nur ein Wort auf der Rückseite.«

Jacinthe sah sich die Datumsangaben an: 22. November, 26. November, 29. November und 2. Dezember des vergangenen Jahres. Und auf der Rückseite von allen vieren stand von Hand geschrieben Yako.

»Das ist Guillaumes Schrift, falls du dich das fragst.«

Jacinthe sah sie forschend an.

»Das ist schon eine ganze Ecke her.«

»Ich weiß. Aber es sind die einzigen von ihm als Spesen abgerechneten Essen, die sich niemand bei der Zeitung erklären oder mit einem Treffen in Verbindung bringen kann.«

Jacinthe zuckte alles andere als begeistert die Schultern und nahm eine Rechnung genauer in Augenschein.

»Was soll das bedeuten … ›Yako‹? Ist das der Deckname des Artikels, an dem er gearbeitet hat?«

»Ich bin mir nicht sicher, aber ich halte es eher für den Decknamen eines Informanten.«

»Wie etwa der Frau, die mit seinem Computer aus seiner Wohnung geflüchtet ist?«

Für Virginie lag das auf der Hand.

Jacinthe fuhr fort.

»Yako könnte auch sein Steuerberater sein.«

»Kommt es oft vor, dass du deinen Steuerberater innerhalb von zwei Wochen viermal zum Essen einlädst?«

Jacinthe zog einen Flunsch und überlegte kurz.

»Nur wenn ich mich runterziehen lassen will. Oder wenn es eine wirklich hübsche Sie ist.«

In einem Wohnwagen, der schon bessere Tage gesehen hatte, kauerte die junge, dunkelhäutige Frau unter einer dicken Wolldecke auf ihrem Bett. Den Kopf auf ein Kissen gestützt, beobachtete sie eine Kolonne Ameisen, die Überreste einer toten Maus um das Bett herumschleppten und durch einen Schlitz ins Freie beförderten. Die Natur arbeitete unablässig an ihrem kunstvollen Werk, ihrem gründlichen Vernichtungswerk.

In einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit durchlebte Yako in einer Endlosschleife immer wieder die Ereignisse der letzten Stunden, ohne zu wissen, was sie davon halten sollte. Nur in einem Punkt war sie sich sicher: Diese Augenblicke hatten ihr Leben für immer verändert. Bilder aus der Erinnerung zogen an ihr vorüber.

Nach Lefebvres Tod und ihrer Flucht in die Metro war sie an der Station Montmorency ausgestiegen, zu ihrem alten Pick-up gelaufen, der in einer angrenzenden Straße parkte, und unter sintflutartigem Regen nach L’Ascension gefahren. Schließlich hatte sie die Äste und Zweige weggeräumt, die ein Gittertor verbargen, hinter dem ein holpriger und gewundener Weg in den Wald führte.

Die ganze Fahrt über hatte Yako immer wieder besorgte Blicke in den Rückspiegel geworfen. Das war ihr zur zweiten Natur geworden. Als sie am Ende des Waldwegs endlich den Motor abstellte und die Lichtung überquerte, auf der der alte, von Rostflecken übersäte Wohnwagen stand, waren mehrere Stunden seit ihrer Abfahrt vergangen. Später am Abend war sie hinausgegangen und hatte ein Feuer gemacht. In tiefster Nacht hatten die Sterne am Himmel gefunkelt. Ihre Gespenster.

Da sie nicht schlafen konnte, setzte sie sich im Bett auf und öffnete einen Karton, der gefüllt war mit Papieren und Notizen, die sich in der Zeit ihrer Zusammenarbeit mit Lefebvre angesammelt hatten. Sie nahm den gesamten Inhalt – lose Blätter, Notizbücher, Landkarten – heraus und breitete ihn vor sich aus.

Ganz unten im Karton lag die Fotokopie eines Artikels, der einige Monate zuvor erschienen war. Die Schlagzeile lautete: »Migrantenkrise – von Geflüchteten zu Unerwünschten.« Darunter war zu lesen: »Eine Untersuchung von Guillaume Lefebvre.« Die Augen voller Tränen, das Herz voller Schmerz und Wut, durchlebte sie noch einmal den Mord.

Langsam fand sie in die Gegenwart zurück, stützte die Ellbogen auf die Knie und bettete den Kopf in beide Hände. Tiefe Verzweiflung überkam sie. Dann begann sie mit lauter Stimme zu sprechen, als stünde Lefebvre vor ihr.

»Ich hab dir gesagt, dass das böse enden würde, Guillaume. Du konntest das nicht im Alleingang machen! Ich wäre dir bis zum Ende gefolgt. Das hast du gewusst!«

In einem Wutanfall warf sie den Artikel weg. Die Blätter stoben auseinander, flatterten durch die Luft und sanken zu Boden.

»Wenn du auf mich gehört hättest, hättest du mir die Möglichkeit gegeben weiterzumachen und das, was wir angefangen haben, zu Ende zu bringen.«

Yako blieb lange reglos sitzen und hing ihren trüben Gedanken nach. Wehmütig räumte sie die Papiere in den Karton zurück, als ein Gedanke sie durchzuckte.

Könnte es sein, dass …?

Yako ist über Lefebvre gebeugt. Ihre Blicke verschmelzen.

»Oh, mein Gott! Guillaume! Bleib bei mir! Sag mir, wo ich suchen muss.«

Da stammelt er mit übermenschlicher Anstrengung ein letztes Wort, das die junge Frau ihm mehr von den Lippen abliest, als dass sie es hört.

»Ma… …man.«

Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, ein Hoffnungsfunke erglühte in ihrem Schmerz. Entschlossen stand sie auf, ergriff ihren Mantel und stieg aus dem Wohnwagen.

Das Gespräch im Konferenzraum war in vollem Gange. Virginies Augen funkelten.

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie was taugt, aber ich habe eine Theorie. Angenommen, Guillaume hat erst nach dem vierten Treffen mit ›Yako‹ erkannt, dass ihre Geschichte hochbrisant war. Vielleicht sogar gefährlich.«

Jacinthe brauchte ein paar Sekunden, bis sie den Zusammenhang sah.

»Warte … Du willst damit sagen, dass Lefebvre die ersten Treffen mit ›Yako‹ auf die Spesenrechnung setzt, weil er nicht glaubt, dass etwas dabei herauskommt. Aber danach achtet er sorgfältig darauf, dass er keine Spuren hinterlässt.«

»In der Regel sind die ersten Treffen mit einer Quelle ein Abtasten. Man fühlt sich gegenseitig auf den Zahn, bevor man beschließt, dem anderen zu vertrauen oder auch nicht.«

Jacinthe nickte. Das Bild, das die Journalistin zeichnete, deckte sich im Großen und Ganzen mit ihren Erfahrungen bei der Polizei. Es war wichtig, dass man die Beziehung zu einem Informanten pflegte. Oder aber das besaß, was sie Tante Jacinthes Sonderausstattung nannte: die Fäuste, die man brauchte, um jemandem Auskünfte zu »entlocken«.

»Okay, so weit kann ich dir folgen. Was zunächst nicht wichtig schien, ist es später geworden. Das würde bedeuten, das Lefebvre zwischen dem 22. November und dem 2. Dezember – auch kurz davor oder danach – Nachforschungen über ›Yako‹ angestellt haben muss.«

Virginie zeigte das zufriedene Lächeln von jemandem, der nur darauf wartet, seine Karten aufzudecken und den Gewinn abzuräumen.

»Davon wäre eigentlich auszugehen, aber ich habe nichts über ›Yako‹ gefunden. Allerdings …«

Sie zog ein weiteres Blatt aus dem Ordner und legte es vor Jacinthe hin. Die warf einen Blick darauf und rief so angewidert, als hätte sie Hundekacke in ihrer Cola Zero entdeckt:

»Iiih … Das sieht ja aus wie ein Pressespiegel.«

»Genau. Am 1. Dezember hat Guillaume eine Rechercheurin der Zeitung gebeten, ihm einen Pressespiegel über Cyberangriffe zusammenzustellen.«

Jacinthe kniff verwirrt die Augen zusammen.

»Das soll sein brisantes Thema gewesen sein? Cyberangriffe?«

»Das war es wahrscheinlich, woran er gearbeitet hat. Aber es verrät uns nicht, wer ihn umgebracht hat.«

»Vielleicht jemand, der gerade einen Cyberangriff durchgeführt hat.«

»Oder jemand, der einen plante.«

Jacinthe überlegte kurz.

»Gar nicht so dumm … Aber Cyberangriffe, da sind wir uns doch wohl einig, waren nicht Lefebvres Spezialgebiet, oder?«

»Manchmal wühlt man als Journalist tagelang in Sachen, die im Endeffekt irrelevant sind. Aber du hast recht, sein Spezialgebiet war es nicht.«

»Könnte es nicht sein, dass jemand von der Zeitung mit ihm darüber gesprochen hat?«

Virginie schüttelte den Kopf.

»Selbst die Rechercheurin hatte es vergessen.«

Die beiden Frauen dachten schweigend nach. Dann sagte Virginie:

»Ich habe übrigens ein paar Nachforschungen angestellt. Yako ist eine Stadt in Burkina Faso. Und in der Nouchi-Sprache wird dieser Ausdruck verwendet, um sein Mitgefühl auszudrücken.«

»Entschuldige, aber mein Nouchi ist nicht auf dem neuesten Stand.«

»Die Sprache ist ein Gemisch aus Französisch und mehreren Sprachen der Elfenbeinküste.«

Jacinthe stieß ihren Stuhl zurück, dass es knirschte, und stand auf.

»Afghanistan, Inuit, ein Inuksuk, Cyberangriffe und jetzt die Elfenbeinküste, Burkina Faso und Yako. Wirst du daraus schlau?«

Sie begann im Raum auf und ab zu laufen. Die Journalistin senkte den Kopf und grübelte lange, bevor sie verneinte. Geraume Zeit verstrich, ohne dass eine das Gespräch wieder aufnahm.

Dann schloss Jacinthe mit verschwörerischer Miene die Tür, zog einen USB-Stick aus der Tasche und hielt ihn Virginie hin.

»Was ist das?«

»Das Dossier über Piché, um das du mich gebeten hast. Aber ich glaube nicht, dass es zusammen mit dem, was ich dir schon gegeben habe, genügt, um deinen Chefredakteur zu überzeugen.«

Die Journalistin steckte den Stick ein. Die Ermittlerin und sie hatten sich seit Victors überraschender Kündigung schon mehrmals getroffen.

»Alles wäre viel einfacher, wenn wir einen direkten Beweis dafür hätten, dass Piché von Tanguays Treiben gewusst und beide Augen zugedrückt hat.«

»Er hat mit Sicherheit davon gewusst! Und wenn jemand in einer Organisation krumme Sachen macht, trägt letztlich immer der Chef dafür die Verantwortung.«

Virginie nickte und stand auf.

»Mal sehen, was dabei herauskommt. Ich halte dich auf dem Laufenden. Auch was Guillaume angeht.«

Jacinthe blieb noch lange im Konferenzraum, nachdem Virginie gegangen war. Sie saß am Tisch und starrte nachdenklich auf das Wort, das sie in ihr Notizbuch geschrieben hatte: Yako.

Dann blickte sie auf ihre Uhr, und ihr wurde bewusst, wie lange Nadja schon überfällig war. Sie griff zu ihrem Handy und schickte ihr mit einem ärgerlichen Seufzer eine SMS: »Wo ist dein süßer kleiner Arsch abgeblieben, Chiquita?«

In die Fluten der Dunkelheit

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