Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 13

8. Eine Geschichte endet, eine andere beginnt

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Einmal ausgesprochen, nistete sich Victors Hypothese so in seine Gehirnwindungen ein, dass er sie unmöglich beiseiteschieben konnte. Er war sich in der Sache keineswegs sicher, aber seine Unruhe wuchs mit jeder Sekunde, als hätte sein Inneres Alarm geschlagen.

Jacinthe und er hatten sich zu Nadja begeben, die noch mit der Durchsuchung von Lefebvres Schlafzimmer beschäftigt war. Auch dort bot eine Glaswand eine atemberaubende Aussicht auf die Stadt und den Mont Royal. Jacinthe schloss eine Kommodenschublade, dann rief sie ihrem ehemaligen Partner zu:

»He, Lessard, wenn dir noch mehr Blut in den Kopf schießt, bleibt nichts mehr für den Rest.«

Er konnte die Füße nicht stillhalten und tigerte ruhelos im Zimmer auf und ab.

»Ich habe mit den Technikern eine Runde gedreht«, sagte Nadja. »Wir haben keinen Hinweis darauf gefunden, dass sich zum Tatzeitpunkt noch jemand in der Wohnung aufgehalten hat.«

Victor blieb stehen und sah ihr in die Augen.

»Abgesehen davon, dass sein Computer verschwunden ist.«

Sie nickte, doch Jacinthe korrigierte:

»Dass sein Computer möglicherweise verschwunden ist.«

Victor rasselte in einem Zug herunter, was als Nächstes zu tun war.

»Wir müssen uns die Aufnahmen der Überwachungskamera unten ansehen. Wir suchen jemanden mit einem Computer. Und wir müssen herausfinden, ob Lefebvre eine Verabredung hatte. Es gibt keine Einbruchspuren. Wem könnte Lefebvre eine Schlüsselkarte gegeben haben? Wer kannte seinen Terminkalender?«

Er verstummte, als er merkte, dass er sich so verhielt, als ob er das Dezernat Kapitalverbrechen nie verlassen hätte. Auch Jacinthe war es aufgefallen.

»Ich setze dir sofort ein Empfehlungsschreiben auf, wenn du zurückkommen willst.«

Ein leichtes Grinsen umspielte ihre Lippen. Sie amüsierte sich schon jetzt darüber, was er antworten würde.

»Auf keinen Fall.«

Das Feuer brannte noch und würde immer brennen, aber Victor wollte es nicht zugeben. Mit einem Räuspern brachte sich Nadja den beiden in Erinnerung.

»Ich gehe runter und sehe nach den Aufnahmen.«

Victor nickte. Sie entfernte sich ohne ein weiteres Wort. Jacinthe, die Victors Theorie nach wie vor skeptisch gegenüberstand, weihte ihn in ihre eigene ein.

»Wenn der Schütze tatsächlich auf dem Mont Royal war, kann er anschließend unmöglich hierhergekommen sein. Er muss einen Komplizen im Gebäude gehabt haben. Und als Lefebvre erschossen wird, kommt der Typ rein, schnappt sich den Computer und verschwindet.«

»Wenn zum Zeitpunkt des Mordes jemand hier war, heißt das nicht unbedingt, dass er ein Komplize der Schützen war.«

Jacinthe verzog das Gesicht und ließ ein übellauniges Knurren vernehmen.

»Okay, aber warum haben sie dann nicht auch ihn erschossen?«

»Aus dieser Entfernung konnten sie mit dem Zielfernrohr vielleicht nicht den ganzen Raum einsehen.«

»Du meinst, der andere ist in einem toten Winkel gewesen?«

Victor nickte. Jacinthe tippte auf ihrem Handy herum und hielt es sich ans Ohr.

»Scheiße, Kid! Kannst du mir mal verraten, wieso du nicht ans Telefon gehst? Ich habe doch nicht verlangt, dass du die Atomcodes aus dem Weißen Haus besorgst!«

Victor musste schmunzeln, als sie eine Nachricht absetzte, in der sie Loïc »Tritte in den Hintern« und »eine Abreibung« androhte, falls er nicht in den nächsten Minuten zurückrief. Sie legte auf. Ihr Gesicht war knallrot und glühte regelrecht.

»Wenn dir noch mehr Blut in den Kopf schießt, bleibt nichts mehr für den Rest, Jacinthe.«

Der Scherz brachte sie nur noch mehr in Rage.

»Das macht er andauernd mit mir. Schaltet sein Handy aus, wenn er bei ›Kunden‹ ist. Geht’s noch? Er verkauft doch keine Versicherungen, der Blödmann.«

Sie beruhigte sich und führte den Gedankengang fort, den ihr Expartner angestoßen hatte.

»Okay. Und warum ist der Besucher abgehauen, ohne die Polizei zu verständigen?«

Victor überlegte ein paar Sekunden.

»Ich würde sagen, weil er Angst hatte.«

Jacinthe steckte sich den kleinen Finger ins Ohr und pulte darin herum.

»Demnach wäre er geflohen, um den Schützen zu entkommen.«

Victor nickte und trat an die Glaswand.

»Angenommen, es war gar nicht geplant, mit Lefebvres Computer zu verschwinden, es hat sich einfach so ergeben. Wer ist bei ihm gewesen? Was verbindet die beiden? Das ist die entscheidende Frage.«

Jacinthe sah ihn forschend an.

»Die einzige Verbindung, die ich sehe, ist seine Arbeit. Guillaume Lefebvre war einer großen Sache auf der Spur, hatte die Absicht, einen Artikel darüber zu veröffentlichen, und dann … bum!«

Victor nickte, ohne sich umzudrehen, und betrachtete nachdenklich die sich rot färbende Masse des Mont Royal. In der Ferne begannen Kirchenglocken zu läuten.

»Genau. Man wollte ihn zum Schweigen bringen …«

Diesmal erhob Jacinthe keinen Einwand. Sie vertraute auf den Instinkt des Mannes, den sie, ohne es ihm jemals gesagt zu haben, für den besten Ermittler hielt, der ihr jemals begegnet war. Und den sie, aber auch das würde sie ihm niemals sagen, als ihren besten Freund ansah.

In die Fluten der Dunkelheit

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