Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 21

15. Ein alter Baseballhandschuh

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Victor hatte die Lederjacke über die Stuhllehne gehängt und saß jetzt, die Ellbogen aufgestützt, den Kopf zwischen den Händen, wie unter Schock am Tisch. Er konnte den Blick nicht von den vor ihm ausgebreiteten Papieren losreißen, die er gerade durchgesehen hatte, Seiten aus dem Ermittlungsbericht über die Tragödie, die seine Familie zerstört hatte. Bis zu diesem Moment hatte er nie einen Blick hineinwerfen dürfen und auch nie in Erwägung gezogen, darum zu bitten.

Die Fotos seiner Brüder, die leblos und blutüberströmt neben seiner Mutter lagen, hatten den Schmerz wieder aufleben lassen, den zu bändigen er Jahre gebraucht hatte. Im Übrigen hatte er gewusst, dass der Inhalt des Kartons ihn erschüttern würde, und ihn deshalb nach der Beerdigung bei Albert gelassen, um das gemeinsame Zuhause mit Nadja nicht damit zu vergiften.

Er wandte sich nun den Plastikbeuteln mit den diversen Beweisstücken zu und nahm sie in Augenschein. Mehrere enthielten blutverschmierte Kleidungsstücke, die seine Angehörigen im Augenblick der Tragödie getragen hatten. Ebenfalls darunter war der Revolver im Kaliber .38, mit dem sein Vater sie erschossen hatte. So verpackt mutete das Mordinstrument lächerlich an.

Er sah weiter die Beutel durch und stieß auf einen Gegenstand, der ihm hier fehl am Platz erschien: seinen alten Baseballhandschuh, den er in der Hand gehalten hatte, als er das Blutbad im Wohnzimmer entdeckte. Wahrscheinlich hatte er ihn neben den Toten fallen lassen, und die Polizei hatte angenommen, er gehöre Raymond. Er erschauerte. All das Blut. All die ausgelöschten Leben.

Das Foto seines auf dem Bett liegenden Vaters, der sein Jagdgewehr gegen sich selbst gerichtet hatte, verstörte ihn noch mehr. Er hatte ihn im Sterben liegend vorgefunden und ihm den Rest gegeben, indem er ihn eigenhändig erwürgte.

Er hatte nicht aus Mitgefühl gehandelt. Er hatte auf das Grauen mit Wut reagiert. Und wenn es ihm auch gelungen war, die Scham tief in seinem Innern zu begraben, so wusste er doch, dass er sie niemals würde vergessen können. Obwohl sein Vater das Allerschlimmste getan hatte, hatte es ihm keine Genugtuung verschafft, als er spürte, wie dessen Leben unter seinen Händen zu pulsieren aufhörte. Zum damaligen Zeitpunkt besaß er noch nicht die nötige Reife, um zu verstehen, was sich abgespielt hatte. Erst viel später war ihm klar geworden, dass er, indem er ihn getötet hatte, selbst zum Mörder geworden war.

Er hob den Blick zu den Wandregalen, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Sie quollen über von Büchern und alten Gegenständen, die sich im Lauf eines Lebens angesammelt hatten. In der Wohnung an der Place Sir-George-Étienne-Cartier war dieses Zimmer Teds Refugium gewesen, der Ort, an dem er in den letzten Jahren die meiste Zeit verbracht hatte.

Seine Abwesenheit hinterließ in der Realität ebenso ihre Spuren, wie es seine Anwesenheit getan hatte. Victor hatte das Gefühl, überall seinen Geist umherstreichen zu sehen.

Hier sein Rollstuhl, den man in eine Ecke gestellt hatte, dort ein Rollator, unter dessen Füßen Tennisbälle klemmten. Und hinter der Tür sein alter, grauer Trenchcoat, den er immer bei ihren gemeinsamen Ermittlungen getragen hatte. Viel hätte nicht gefehlt, und Victor wäre aufgestanden, um Teds Geruch einzuatmen.

Victor holte tief Luft, raffte die Fotos zu einem Stapel zusammen und schob sie in ihre Schutzhülle zurück. Dann verstaute er die Blätter des Ermittlungsberichts wieder in der Kartonmappe.

Er schlug einen Malblock auf, der seinem Bruder Raymond gehört hatte und an dessen Deckblatt getrocknetes Blut klebte. Er betrachtete gerade die Zeichnung eines Mannes mit einem schwarzen Zahn, der ein Spielzeugflugzeug in der Hand hielt, als hinter ihm eine Stimme ertönte.

»Ted hat es sehr bedauert, dass wir dich nicht bei uns behalten konnten.«

Victor klappte den Block zu und drehte sich um. Albert stand in der Tür. Er trug eine naturfarbene Wolljacke und schien in zehn Tagen um zehn Jahre gealtert zu sein.

»Ja, ich weiß.«

Nach der Tragödie war Victor in einem Heim untergebracht worden, aus dem er öfter ausriss, als gut für ihn war. Gewöhnlich landete er nach mehreren Tagen auf der Straße bei Albert und Ted, die ihm so lange Unterschlupf gewährten, wie sie konnten, ohne dass es den Behörden auffiel. Leider war es in den 1970-er Jahren noch undenkbar, dass ein schwules Paar ein Kind adoptierte oder in Pflege nahm.

»Er hat dich sehr bewundert. Er hat gesagt, du wärst der Beste. Viel besser als er.«

Victor machte eine abwehrende Geste.

»Er hat mir alles beigebracht.«

Albert kannte ihn und wusste, dass diese Bescheidenheit aufrichtig war und dass er zu der Sorte Mensch gehört, die immer das Gefühl hatte, nicht genug getan zu haben.

Der alte Mann deutete auf den Ermittlungsbericht.

»Er hat auch gesagt, dass du dahinterkommen würdest, was da nicht stimmt und was die Ermittler versäumt haben.«

»Mein Vater hatte einige Wochen vor der Tragödie seine Arbeit verloren. Der Bericht kommt zu dem Schluss, dass ihn das in eine Depression gestürzt habe. Und dass er seine Familie umgebracht hat, weil er sich außerstande gefühlt habe, für ihr Auskommen zu sorgen.«

Albert knüllte die Tüte zusammen, in der ihm Victor Lebensmittel gebracht hatte.

»Glaubst du nicht daran?«

»Die Ermittler haben weder mit seinem Chef noch mit seinen ehemaligen Kollegen gesprochen. Auch wenn die Faktenlage klar zu sein schien, hätte das routinemäßig zuallererst gemacht werden müssen.«

Albert zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Ted ist es nie gelungen, die ehemaligen Arbeitskollegen deines Vaters bei General Electric ausfindig zu machen. Das hat ihm keine Ruhe gelassen. Er sagte, Henris Name habe zwar in den Unterlagen des Unternehmens gestanden, aber niemand habe sich an ihn erinnert.«

»Das kann kein Versehen sein. Entweder haben die Ermittler geschlampt, oder sie hatten die Anweisung wegzusehen. Aber wie auch immer, wir werden sie nicht fragen können.«

»Warum? Sind sie tot?«

Victor nickte. Beim Durchschauen der Akte hatte er die Namen der beiden Männer sofort wiedererkannt.

»Ein paar Monate nach der Tragödie haben sie im Zuge einer Observation mit hoher Geschwindigkeit den Wagen eines Geistlichen gerammt, der gerade einparkte. Im Dezernat ist es eine Art Mantra geworden, das man Neulingen bis heute bei der Einweisung vorbetet: ›Schnallt auch an, wenn ihr nicht wie Trudel und Phaneuf enden wollt.‹«

Die beiden Männer tauschten ein verhaltenes Lächeln, dann fuhr Victor fort.

»Hat Ted dir eigentlich erzählt, wie er an die Akte aus dem Archiv herangekommen ist?«

Albert kramte in seinem Gedächtnis und schüttelte dann den Kopf.

»Wenn du mich fragst, hat er sie ohne Erlaubnis hergebracht.«

Victor nickte. Er war derselben Meinung.

»Hat er manchmal mit dir darüber gesprochen?«

»Sehr selten … Aber jedes Jahr hat er den Karton hervorgeholt und sich damit stundenlang, manchmal sogar tagelang, hier eingeschlossen.«

Der alte Mann machte eine Pause, wie um sich genauer zu erinnern.

»Einmal, das muss zehn Jahre her sein, habe ich gemerkt, dass er aufgeregt war. Er hatte jemanden aufgespürt.«

»Den Mann, dessen Namen und Adresse du mir am Tag der Beerdigung gegeben hast.«

Er nickte. Er hatte Victor den Zettel zusammen mit dem Karton, der die Ermittlungsakte enthielt, in die Hand gedrückt, ihn aber ihn nie gefragt, ob er den Mann kontaktiert hatte. Dazu war er viel zu diskret.

»Später, als er krank wurde, ist der Karton im Schrank geblieben. Ich musste ihm versprechen, nicht mit dir darüber zu reden. Er sagte: Wenn du keine Fragen stellst, dann deshalb, weil du noch nicht bereit bist, die Antworten zu hören.«

Sie schwiegen eine Weile. Dann standen sie auf, und Victor nahm Albert in die Arme.

»Ich kann dir nie auch nur ein Hundertstel von dem zurückgeben, was ihr für mich getan habt. Nächsten Dienstag schaue ich wieder vorbei, aber du kannst mich jederzeit anrufen, völlig egal weswegen.«

Victor öffnete den Kofferraum des Saab und verstaute den Karton darin. Die Sonnenstrahlen blinzelten zwischen den kahlen Ästen hindurch, und abgefallene Blätter wirbelten im Wind. Er ging ein paar Schritte auf dem Gehweg und spähte zu dem Brunnen und seiner Rotunde, die mitten auf dem Platz thronten. Kleine Kinder schrien und hüpften in einem Laubhaufen, während ihre Eltern sich unterhielten und dabei ein behütendes Auge auf ihre Sprösslinge hatten.

Victor zündete sich eine Zigarette an, denn er hatte Mühe, seine Gedanken zu bändigen.

Weiter entfernt, am Nordende des Parks, vor dem jetzt geschlossenen Schwimmbad, warfen ein Vater und sein Sohn einander einen Ball zu.

Alte Erinnerungen kamen hoch, und auf einmal war es ihm, als könnte er sich dabei sehen, wie er mit seinem Vater dasselbe tat. Und er dachte, dass dieses Ballwerfen einst wie ein Band zwischen ihnen gewesen war, doch er riss sich sofort wieder zusammen.

In seinen Augen kam jede Form von Nostalgie oder Mitgefühl im Zusammenhang mit dem Schlächter einem Verrat an seiner Mutter und seinen Brüdern gleich. Er konnte nicht anders reagieren. Sobald seine Wachsamkeit erlahmte, regte sich etwas in ihm und erinnerte ihn daran, dass das, was sein Vater getan hatte, unverzeihlich war.

Er zog ein letztes Mal an der Zigarette und zerdrückte sie mit dem Absatz. Wieder beim Wagen, klappte er den Kofferraum auf und hob den Deckel des Kartons.

Nach kurzem Zögern griff er nach dem Plastikbeutel mit seinem alten Baseballhandschuh und packte ihn aus. Er drehte ihn eine Weile in den Händen und zog ihn schließlich an. Wie um dem Gegenstand die bösen Geister auszutreiben, ballte er die rechte Faust und schlug mit aller Kraft in das Webbing.

Er legte den Handschuh gerade in den Karton zurück, als das Handy in seiner Tasche vibrierte.

»Hast du, worum ich dich gebeten habe? (…) Okay, super. Ich bin in zwanzig Minuten dort. (…) Nein, besser nicht. Wir treffen uns danach.«

Er legte auf und setzte sich ans Steuer. Als er mit dem Saab auf der Rue Notre-Dame Ouest in Richtung Innenstadt fuhr und an der Ampel neben der Église Saint-Zotique hielt, hatte sich, von ihm unbemerkt, ein schwarzer Wagen an ihn drangehängt.

In die Fluten der Dunkelheit

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