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4. Zurück in alter Spur

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Jacinthe hatte ins Schwarze getroffen. Warum hatte er auf ihre Nachrichten nicht reagiert, war aber sofort zur Stelle, als ein Mord geschehen war? Woher dieses plötzliche Bedürfnis, die Glut des Schreckens neu zu entfachen? Wollte er sich bestätigen, dass das Feuer endgültig erloschen war und dass er der Versuchung widerstehen konnte?

Oder litt er, als Mensch ein Gewohnheitstier voller Widersprüche, im Gegenteil so unter Entzug, dass er hergekommen war, um sich einen Schuss zu holen?

Diese quälenden Fragen beschäftigten Victor, während er auf das Display des Handys in seiner Hand schaute, auf dem das Facebook-Profil eines Mannes zu sehen war: dunkle Augen, schüchternes Lächeln, Brille mit Stahlfassung, schütteres, blondes Haar.

Seit einigen Wochen wollte er daran glauben, dass er Fortschritte machte, brauchte er das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein und das Blatt wenden zu können. Wie dumm von ihm, dass er wie auf Kommando hier erschienen war, ohne vorher nachzudenken.

In diesem Moment, als er spürte, wie sich etwas in seiner Magengrube zusammenballte, drang leise Jacinthes Stimme zu ihm.

»Das Opfer heißt Guillaume Lefebvre, siebenunddreißig Jahre alt. Er war Investigativjournalist.«

Victor kämpfte gegen die Unruhe an, die ihn befiel, und betrachtete noch einen Moment lang das Foto des Mannes. Etwas Anrührendes ging von ihm aus, eine Art Melancholie, die Schwermut eines Menschen, der schwere Zeiten durchgemacht hatte.

Victor gab Jacinthe das Handy zurück. Sie steckte es ein, ohne von ihren Notizen aufzuschauen.

»Er war nicht irgendwer. Philosophiestudium an der Universität Montréal, Diplom in Internationalem Journalismus, von 2008 bis 2010 Büroleiter der Nachrichtenagentur AFP im Sudan, 2011 und 2012 Korrespondent in Pakistan. Anfang 2013 wechselt er zum Journal de Montréal und arbeitet in der Rechercheabteilung, wo er für eine Reportage über die Flüchtlingskrise mit dem Judith-Jasmin-Preis ausgezeichnet wird.«

Victor nahm die Informationen unbewegt zur Kenntnis und näherte sich dem Toten. Lefebvre war ein Ausnahmejournalist gewesen, von Kollegen und Lesern gleichermaßen geschätzt.

Wie zu sich selbst sagte er mit leiser Stimme:

»Ein Scharfschütze tötet einen Journalisten. Das wird Staub aufwirbeln.«

Jacinthe, der keine Silbe entgangen war, nickte.

»Verstehst du jetzt, warum ich dich hergebeten habe?«

Victors Blick wanderte von dem Loch in der Glaswand zu dem mit roter Kreide umkringelten in der Betonwand.

»Weil du dir ein Bild verschaffen willst, bevor Piché einen Bericht von dir verlangt …«

»… und weil du die Ermittlungen geleitet hast, als ein Sniper den Paten getötet hat.«

Der Boss der italienischen Mafia war 2010 in der Küche seiner Luxusvilla von einem draußen lauernden Schützen erschossen worden.

»Du weißt, worauf man achten muss … Ich habe ja mit einem Gipsbein zu Hause gelegen.«

Jacinthe hatte sich damals bei einem Motorradunfall das Schienbein gebrochen und mehrere Wochen im Dezernat Kapitalverbrechen gefehlt.

»Und nicht jeder von uns ist bei der taktischen Eingreiftruppe gewesen, Monsieur.«

Er lächelte. Die Bemerkung versetzte ihn weit in die Vergangenheit zurück.

»Das ist lange her.«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Unser Ballistiker hat seine Schwester in Rimouski besucht. Er ist unterwegs, wird aber erst in ein paar Stunden hier sein.«

Auf einmal war es so, als hätte es die letzten Wochen gar nicht gegeben, als führten sie ein Gespräch, das nie unterbrochen worden war, und hätten in die alte Spur zurückgefunden.

Victor kniff sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken.

»Okay. Dein Journalist, Guillaume Lefebvre, war er verheiratet?«

Jacinthe nickte.

»Seine Frau ist …«

Sie schaute in ihr Notizbuch, blätterte ungeduldig in den Seiten.

»… 2016 gestorben. An einer Lungenembolie. Sie hieß Constance Awa … Awashish.«

Trauer um eine geliebte Frau. Victor dachte bei sich, dass allein dieser frühe Tod ein hinreichender Grund für die Schwermut war, die Lefebvre auf dem Foto ausstrahlte.

»Awashish, das ist doch ein indianischer Name. Kinder?«

Jacinthe nickte und zog erneut ihre Notizen zurate.

»Eine Tochter, Emma. Zwölf Jahre alt. Im September in die siebte Klasse gekommen. Collège de Montréal.«

Er schluckte die Info kommentarlos. Jacinthe sprach weiter, doch er hörte nicht mehr hin. Zwölf Jahre alt. Genauso alt wie er, als sein Vater in einem Anfall geistiger Umnachtung zum Mörder geworden war.

»He, mein Bester! Bist du noch da?«

Victor fuhr aus seinen Gedanken hoch. Jacinthes Gesicht, nur zehn Zentimeter von seinem entfernt, nahm sein gesamtes Blickfeld ein.

Er straffte sich und wich einen Schritt zurück.

»Nur ein bisschen zu nah … Was hast du gesagt?«

»Die Kleine ist zu einem dreiwöchigen Fahrradcamp in Vermont. Wir haben die Familie verständigt.«

Er biss die Zähne aufeinander. Er dachte an dieses Kind, dem man bald mitteilen würde, dass es seinen Vater nie wiedersehen würde. Eine Waise, deren Leben man zerstören würde, so wie sein Vater seines zerstört hatte.

»Wen hast du zu der Familie geschickt? Den Gnom?«

Gilles Lemaire, mit Plateauschuhen eins fünfundsechzig groß, hatte zusammen mit Jacinthe ein Team gebildet, bevor Victor in die Abteilung Kapitalverbrechen zurückgekehrt war.

»Nein, Loïc. Gilles ist in die Abteilung Computerkriminalität versetzt worden.«

»Auf eigenen Wunsch?«

Jacinthe zog einen Flunsch.

»Es war wohl eher der Wunsch eines Mannes, der versucht, die Ehe mit einer Frau zu retten, die sich scheiden lassen will, obwohl sie sieben Kinder unter sechzehn haben.«

Kopfschüttelnd näherte sich Victor dem Esstisch. Es tat ihm leid für seinen alten Kollegen, dessen Beharrlichkeit er ebenso schätzte wie seinen Sinn fürs Detail.

»Gilles … Ich muss ihn unbedingt mal anrufen.«

Er deutete auf das Computernetzkabel, das in der Wand eingesteckt war. Jacinthe kam seiner Frage zuvor.

»Den Computer haben wir noch nicht gefunden. Nadja hat bei der Zeitung angerufen. Sie sind am Suchen.«

»Und sein Handy?«

»Burgers hat es in einer seiner Taschen gefunden. Lefebvre hat zum Entsperren einen Code benutzt, also weder Fingerabdruck noch die bescheuerte Gesichtserkennung. Ein Techniker sitzt dran, aber das könnte knifflig werden.«

Sie sah ihn verschmitzt an.

»Und was den Gnom betrifft: Wenn es darum geht, ihm Tipps in Sachen gemeinsames Sorgerecht zu geben, könntest du auch seine Nummer verloren haben.«

Sie hatte eine merkwürdige Art, einem mitzuteilen, dass sie sich geärgert hatte, doch Victor kannte die Tour in- und auswendig und ließ sich nichts vormachen.

»Hör bloß nicht mit deiner Therapie auf, egal was passiert. Es ist superwichtig, dass man sozialen Umgang lernt. Du wirst es schaffen, Jacinthe. Du wirst es schaffen. Und was hat die Befragung der Nachbarn ergeben?«

Sie gluckste.

»Absolut nichts. Nada.«

Sie legte ihm, nun wieder ernst, eine Hand auf die Schulter.

»Nadja hat mir von Ted erzählt. Wie es aussieht, hat er nicht mehr lange.«

Victor erstarrte. Er war noch weit davon entfernt, sich einzugestehen, dass es mit Ted zu Ende gehen könnte.

»Hat sie das zu dir gesagt?«

Jacinthe erkannte ihren Fehler und korrigierte sich.

»Vielleicht habe ich sie falsch verstanden. Na jedenfalls, wenn ich etwas tun kann …«

Gerührt über die Anteilnahme, lächelte Victor traurig.

»Danke, Jacinthe.«

Bewegt schlugen sie die Augen nieder und schwiegen eine Weile. Der Techniker war in einem Nebenraum verschwunden. Victor drehte sich um, betrachtete den Toten, der in seinem Blut lag, dann das Loch in der Glaswand.

»Wer hat ihn gefunden?«

Jacinthe deutete auf ein paar Kleidungsstücke, die in einer durchsichtigen Schutzhülle an einem Haken neben der Tür hingen.

»Das Gebäude hat einen Concierge-Service. Als Lefebvre nicht geöffnet hat, ist der Angestellte eingetreten und hat die Sachen von der Reinigung aufgehängt. Ein junger Mann. Ich habe mit ihm gesprochen. Er war, wie man so schön sagt, weiß wie ein Bettlaken.«

Sie hatte die letzten Worte besonders betont, aber Victor war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um auf ihren Scherz einzugehen.

»Ich habe auf der Etage keine Überwachungskameras bemerkt. Habe ich sie übersehen?«

»Es gibt einen altmodischen Begriff, und der lautet Privatsphäre, mein Lieber. Unten im Eingangsbereich findest du zwei Türen mit Schlüsselkarte und Kameras. Nadja hat die Aufzeichnungen angefordert.«

Victor nickte, ganz in seine Überlegungen vertieft. Jacinthe schob die Hände in die Taschen.

»In einem Punkt sind wir uns jedenfalls einig: Der Journalist ist von draußen erschossen worden.«

Er murmelte beifällig.

»Die Kugel ist unweit vom Brustbein wieder ausgetreten, richtig?«

»Sie hat das Herz knapp verfehlt. Schwere innere Verletzungen. Burgers hat mir noch mal die Sache mit der temporären Wundhöhle verklickert. Mann, wie mich das nervt, wenn er mich wie seine Praktikantin behandelt.«

Bei jeder Schussverletzung sah es der Pathologe als seine Pflicht an, ihnen zu erklären, dass es durch die Energieabgabe des Projektils an das Gewebe zu einer Ausdehnung kam, die eine Schädigung der benachbarten Knochen und Organe hervorrufen konnte, selbst wenn diese nicht im Schusskanal lagen.

Victor näherte sich wieder der Leiche.

»Was schätzt du, wie groß war Lefebvre? Eins fünfundachtzig?«

»Ja. Ungefähr.«

Er ging zur Glaswand, blieb vor dem Schussloch stehen und untersuchte es.

Jacinthe trat neben ihn.

»Glaubst du, der Schuss kam von dem Gebäude gegenüber?«

Sie deutete nach Westen auf einen noch im Bau befindlichen Wohnturm. Er war ähnlich hoch wie der, in dem sie sich befanden.

Victor schüttelte ohne Zögern den Kopf.

»Bei dieser Entfernung wäre der Höhenunterschied zwischen dem Loch in der Scheibe und dem in der Betonwand nicht so groß.«

Jacinthe schob sich eine Handvoll Sonnenblumenkerne in den Mund.

»Vielleicht wurde die Kugel im Körper abgelenkt, weil sie auf Knochen oder Organe getroffen ist.«

Er streckte ihr die gummibehandschuhte Hand hin.

»Ich würde dir gern ein paar abnehmen.«

»Ich wusste nicht, dass du ein Körnerfresser bist.«

Kurz entschlossen füllte sie ihm die hohle Hand bis zum Rand. Er schloss die Augen und schüttelte resigniert den Kopf.

»Ach ja, entschuldige, ich muss noch an meinen sozialen Kompetenzen arbeiten, richtig?«

Er verkniff sich ein Grinsen, schob ein paar Kerne in den Mund und den Rest in die Jackentasche.

»Die Kugel wurde nicht abgelenkt. Sieh dir das Loch in der Scheibe an. Er ist ungefähr auf meiner Schulterhöhe. Geschätzte eins siebzig vom Boden aus.«

Jacinthe leckte sich mit der Zunge Schalen aus dem Mundwinkel.

»Ja, schon …«

Victor führte sie zu der Betonwand, wo das Projektil seinen Flug beendet hatte und mehrere Zentimeter tief eingedrungen war. Er sank auf ein Knie und fuhr mit dem Zeigefinger über den gleichmäßigen Rand des Lochs.

»Wie hoch ist das Loch vom Boden aus? Dreißig Zentimeter, allerhöchstens.«

Jacinthes Augen bekamen wieder mehr Glanz, wie es schien.

»Okay. Und was bedeutet das, wenn die Kugel nicht abgelenkt worden ist?«

Victor zog die Stirn kraus, während er sich wieder aufrichtete.

»Kennen wir schon das Kaliber?«

Die Polizistin spuckte Schalen in ihre Hand und ließ sie in einer Tasche ihrer Cargohose verschwinden.

»Ich warte noch auf den Ballistikbericht, aber der Techniker hat von einer Patrone im Kaliber .50 gesprochen.«

Victor sah sich in seiner Vermutung bestätigt.

»Eine 50er-Patrone ist fast so lang wie meine Hand. Knappe fünfzehn Zentimeter. Das Geschoss selbst misst vier Zentimeter. Ein wahres Teufelszeug, das Metall durchschlägt. Ein militärisches Kaliber.«

Der letzte Satz zeigte Wirkung. Jacinthe sah ihm alarmiert in die Augen.

»Was siehst du, was ich nicht sehe?«

»Das Projektil wurde nicht in horizontaler Richtung abgefeuert. Die Flugbahn verläuft von oben nach unten. Die Position des Schützen war viel höher als die des Opfers.«

Nach der ersten Überraschung trat Jacinthe wieder an die Glaswand und ließ den Blick über das vor ihnen sich ausbreitende Häusermeer schweifen.

»Wir haben ein Problem, Schätzchen. Bis auf den Wohnturm gegenüber gibt es nicht sonderlich viele Gebäude, von denen aus der Schütze ausreichend freie Sicht gehabt hätte.«

»Du hast recht.«

Sie deutete auf ein Hochhaus, das unweit der Rue Peel und eines Rundpavillons der Université McGill an einem Hang lag.

»Es ist zwar weit, aber vielleicht das weiße da hinten?«

»Nicht hoch genug.«

Sauer, weil er sie herumraten ließ, kaute Jacinthe auf ihren Sonnenblumenkernen.

»Nicht hoch genug, nicht hoch genug … Du machst mir Spaß.«

Mit dem Finger dirigierte er sie zu dem Gebäude zurück, auf das sie eben gezeigt hatte.

»Hinter dem Rundpavillon, was siehst du dort?«

Sie kniff konzentriert die Augen zusammen.

»Na ja, Bäume …«

Im selben Moment schoss ihr ein verrückter Gedanke durch den Kopf, den auszusprechen ihr schwer fiel.

»Warte mal … Du glaubst doch nicht, dass …«

Sie stockte mitten im Satz, als sie seinen zustimmenden Blick sah.

»Scheiße, der Typ hat vom Mont Royal aus geschossen?!«

In die Fluten der Dunkelheit

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