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3. Time to rock and roll

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Eine Stunde vor dem Mord

Seit Tagesanbruch lauern die beiden Männer, mit schwarzen Overalls bekleidet und mit Knie- und Ellbogenschützern versehen, im dichten Gestrüpp auf einem Geländevorsprung. Der Schütze liegt auf dem Bauch, eine Sonnenbrille auf der Nase, das Präzisionsgewehr auf eine Unebenheit im Boden gestützt. Er lässt das Zielfernrohr von Stockwerk zu Stockwerk wandern. Der Beobachter, der rechts hinter ihm kniet, macht seine Messgeräte fertig.

»Ziel auf zwölf Uhr, Messiah. Gesehen?«

Der Schütze nickt, ohne den Blick zu heben. Der Beobachter zieht einen Militärcomputer zurate, der auf seinen Oberschenkeln liegt. Dann stellt er das Objektiv seines Fernrohrs ein.

»Okay. Sind wir so weit?«

Der Schütze dreht leicht an einer Stellschraube, um das Zielfernrohr scharfzustellen.

»Wir sind so weit, Black Dog.«

Der Beobachter fährt in roboterhaftem Ton fort.

»Wenn es Probleme gibt, treffen wir uns am Treffpunkt. Rückzugsmöglichkeit über die Kuppe oder den Wanderweg. Verstanden?«

»Roger. Time to rock and roll.«

Im Glastower ziehen Bilder aus dem Bewohneralltag an den Augen des Schützen vorüber. Im sechsten Stock ist ein Paar im Aufbruch begriffen, zweifellos um zur Arbeit zu gehen. Im vierzehnten machen Teenager die Nacht zum Tag und lassen eine Flasche Alkohol kreisen. Im zwanzigsten dient die Glaswand dem Liebesakt zweier schlaffer Körper mit ergrautem Haar als Stütze.

Messiah atmet tief ein. Im einunddreißigsten verharrt er bei einem Mann, der einem kleinen Mädchen vorliest.

Black Dogs Stimme knistert in seinem Ohrhörer.

»Noch keine Bewegung im Sektor Bravo.«

Aber Messiah hört ihn nur wie durch Watte. Beim Anblick des Kindes hat sein Herz zu klopfen begonnen. Um seinen Atem und seine Angst wieder unter Kontrolle zu bringen, lässt er das Gewehr sinken und hält kurz inne. Und dann, emotional aufgewühlt, erinnert er sich.

Afghanistan, 2011. Er liegt auf dem Dach eines Hauses in Schussposition. Die sengende Sonne blendet ihn. Er muss in einer belebten Straße eine Zielperson erschießen. Seine Beobachterin, eine junge Frau namens Iba Khelifi, liegt neben ihm. Ohne das Auge vom Okular ihres Spektivs zu nehmen, nervt sie ihn.

»Die Typen, mit denen du zusammen bist, lachen dich doch bestimmt aus, wenn sie sehen, dass du mit einer Araberin zusammen arbeitest. Wie hältst du das aus? Warum hast du darum gebeten, mit mir zu arbeiten?«

Messiah antwortet im selben sarkastischen Ton.

»Weil du am besten einen bärtigen Taliban von einem anderen bärtigen Taliban unterscheiden kannst.«

Iba lächelt spöttisch.

»Das stimmt … Neulich mit Marchessault hast du danebengeschossen.«

Aber Messiah schaut weiter in sein Zielfernrohr.

»Ich schieße niemals daneben. Aber ich möchte nie wieder auf das falsche Ziel schießen, weil mein Beobachter Mist gebaut hat.«

»Gut. Ich schätze dich für deine Fähigkeiten. Du schätzt mich aus demselben Grund. Ich behandle dich mit Respekt … Ich überlasse es dir, die Gleichung zu vervollständigen.«

Messiah fällt keine Antwort darauf ein. Sichtlich zufrieden mit ihrer Schlagfertigkeit, fasst Iba an ihren Ohrhörer, aus dem es zu quäken beginnt.

»Es wird im Sektor A passieren. Die vier Fenster oben rechts. Bezugspunkte 1, 2, 3 und 4. Im Uhrzeigersinn. Verstanden?«

Messiah bestätigt und ändert seinen Schusswinkel. Iba stellt ihre Geräte ein. Die Warterei geht weiter, unerbittlich. Die brütende Hitze setzt ihnen zu.

Seit Stunden liegen sie reglos da. Messiah ist schweißgebadet und dehydriert. Nicht mehr lange, und er wird kollabieren. Zwei amerikanische F-15-Jagdbomber donnern mit hoher Geschwindigkeit über sie hinweg. Der Lärm ihrer Triebwerke lässt seinen Brustkorb vibrieren und die Mauern erzittern. Dann ertönt Ibas Stimme in seinem Ohrhörer. Endlich ist der Befehl da.

»Der Mann im blauen Kaftan. Er ist gerade herausgekommen …«

Iba Khelifi nimmt mit einem ihrer Geräte eine Messung vor.

»Zielfernrohr auf 1,3. Elevation beibehalten. Spin-Drift 3,4 Zentimeter.«

Messiah nimmt die Korrekturen sorgfältig vor.

»Verstanden. Eingestellt.«

»Feuer frei.«

Der Scharfschütze wischt sich den Schweiß von der Stirn. Die Zielperson schlendert in einer dichten Menge. Er holt tief Luft, dann nimmt er das bewegliche Ziel ins Visier.

Ibas Stimme drängt.

»Der Mann im blauen Kaftan. Worauf wartest du, Messiah?«

Als sein Zeigefinger den Abzug berührt, bleibt die Zeit stehen. Die Detonation zerreißt die Stille, und die Kugel beginnt pfeifend ihren Flug in Richtung Ziel. Dann durchfährt ein Zucken den Mann im blauen Kaftan, seine Arme werden nach hinten gerissen, und sein Körper sackt leblos in die Knie.

»Zielperson am Boden. Good kill, Messiah!«

Er schließt die Augen und beginnt wieder zu atmen. Doch Ibas Stimme holt ihn ans Zielfernrohr zurück.

»Oh nein! Scheiße!«

Die junge Frau bemüht sich um einen sachlichen Ton.

»Kollateralopfer …«

Machtlos beobachtet Messiah durch sein Zielfernrohr eine Szene schieren Grauens: Das Projektil hat die Zielperson durchschlagen und ein kleines Mädchen getroffen, das hinter ihr an einer Mauer gesessen hat. Jetzt liegt es auf dem Boden, mit dem Gesicht nach unten, den Kopf im Staub.

Iba wendet sich ihm zu.

»Das konnten wir nicht ahnen.«

Messiah steht bereits.

»Wir müssen runter. Nachsehen.«

Sie hält seinen Blick fest und schüttelt den Kopf.

»Das ist keine gute Idee. Hier wimmelt es von Taliban.«

Aber Messiah will nicht hören.

»Ich habe gesagt, wir müssen runter, Khelifi! Das ist ein Befehl.«

Messiah kehrt langsam in die Gegenwart zurück. Er zieht einen blauen, ins Violette spielenden Stein aus der Brusttasche, betrachtet ihn und legt ihn vor sich hin. Diese einfache Geste hilft ihm, sich zu beruhigen. Wieder gefasst und Herr seiner Gefühle, nimmt er seine alte Position ein und sucht weiter die Stockwerke des Glastowers nach seiner Zielperson ab.

Gleich darauf ertönt Black Dogs Stimme. Sie klingt wie ein Knattern in der Luft.

»Sektor Bravo. Die beiden Fenster links. Das Licht ist gerade angegangen. Gesehen?«

»Die beiden Fenster links, Sektor Bravo. Gesehen.«

Im vierundvierzigsten Stock erscheint ein Mann mit blondem Haar und stahlgefasster Brille vor seinem Zielfernrohr. Der Mann, den es zu liquidieren gilt.

»Kontakt. Zielperson am ersten Fenster. Bewegt sich nicht. Gesehen?«

Messiah trommelt mit den Fingern der linken Hand auf den Gewehrkolben, um sie zu lockern.

»Gesehen.«

Sie beobachten den Mann eine Weile schweigend, dann sagt Black Dog:

»Ich sende die letzte Nachricht.«

Er tippt ein paar Wörter in seine Tastatur. Unterdessen behält Messiah die Zielperson im Auge. Hellwach und hochkonzentriert, hört er nur noch das regelmäßige Schlagen seines Herzens. Sein Atem geht langsam und tief.

Black Dog studiert Graphiken, die er auf seinen Bildschirm geladen hat.

»Wir haben Gegenwind aus Ost. Korrigiere auf 2.1.«

Messiah dreht an einem Rad am Gewehr. Zwei Klicks sind zu hören.

»Okay. Korrigiert.«

Das Auge am Fernrohr, murmelt der Beobachter:

»Sieht so aus, als ob er mit jemandem spricht.«

»Ich kann den hinteren Teil des Raums nicht einsehen.«

Black Dog späht noch eine Weile durchs Fernrohr.

»Ich auch nicht. Toter Winkel. Okay. Wir bleiben auf der Zielperson. Hast du sie noch?«

»Die ganze Zeit.«

Ohne ihn anzusehen, spricht Black Dog dann die schicksalhaften Worte.

»Feuer frei.«

Den Zeigefinger am Abzug, atmet Messiah tief ein und hält die Luft an.

In die Fluten der Dunkelheit

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