Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 15

10. #IchrettedirwiederdenArsch

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Als Victor aus dem Schlafzimmer zum Tatort zurückkehrte, musste er daran denken, wie leicht er zu alter Routine zurückgefunden hatte. Der bloße Gedanke erschreckte ihn. Während seiner Zeit im Dezernat Kapitalverbrechen hatte er Nadja gegenüber immer wieder behauptet, dass er sich keineswegs über den Beruf des Ermittlers definiere. Er könne jederzeit aussteigen, so wie man mit dem Rauchen aufhöre. Worauf sie amüsiert gekontert hatte, dass ihm genau das eben noch nicht gelungen sei.

Mit zunehmendem Alter fällt es immer schwerer zu sagen, welchen Teil von sich man als unabänderlich ansehen kann. Victor versuchte sich in Erinnerung zu rufen, wie optimistisch er am ersten Morgen nach seiner Kündigung gewesen war und wie beseelt von der Hoffnung, sein Leben zu ändern und sich neu zu erfinden. Doch zum jetzigen Zeitpunkt wusste er nicht mehr, ob er sich in die eigene Tasche gelogen und etwas zusammenphantasiert hatte oder ob er einfach nur vor der Wahrheit die Augen verschlossen hatte. Eins war jedenfalls sicher: Den Job, den er im Casino ergattern konnte, wollte er nicht für den Rest seines Lebens machen.

Eine Idee war ihm gekommen, nämlich Vorträge zu halten vor jungen Leuten, die Straßengangs angehörten, um sie dafür zu sensibilisieren, dass Gewalt eine Sackgasse war, und ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie sie davon loskommen konnten. Nadja hatte die Idee genial gefunden, doch er hatte sie schon bald wieder auf Eis gelegt, und zwar unter dem Vorwand, dass ihm die nötige Kompetenz fehle. Was nicht stimmte: Kaum jemand wäre geeigneter und dabei glaubwürdiger gewesen, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen.

Jacinthe lief in ihrem wiegenden Gang vor ihm her. Als ihr Telefon klingelte, begann sie es in den zahlreichen Taschen ihrer Cargohose zu suchen.

Ein Grinsen ging über Victors Lippen.

»Vielleicht in deinem Tanga?«

Ohne sich umzudrehen, zeigte sie ihm den Mittelfinger. Schließlich fand sie das Gerät in der Brusttasche ihres Hemdes und schaltete es in den Freisprechmodus.

»Na endlich, Loïc! Sag jetzt nicht, dass du zur Abwechslung mal was tust für dein Geld.«

Loïcs Stimme drang verhalten aus dem Lautsprecher. Er flüsterte. Victor vermutete, dass die Eltern des Journalisten hinter ihm unter Schock auf dem Sofa saßen.

»Ich habe deine Nachrichten abgehört. Wenn du mich anrührst, beschwere ich mich bei der Internen.«

»Wenn ich dich anrühre, mein Freund, gehst du eine Weile breitbeinig.«

Sie zwinkerte Victor zu und versetzte ihm, stolz auf ihre Antwort, einen Klaps, der ihm fast die Schulter auskugelte. Sie hörten Loïc am anderen Ende der Leitung leise kichern.

»Ich habe gerade mit Lefebvres Eltern gesprochen. Sie sind untröstlich. Sein Vater wird zu der kleinen Emma ins Ferienlager fahren, um ihr zu sagen, was passiert ist.«

Victor schlug die Augen nieder, und Jacinthe verzog das Gesicht.

»Hör zu, Kid … Hast du sie das gefragt, worum ich dich gebeten habe?«

»Ja, ja. Sie haben ihren Sohn am Wochenende das letzte Mal gesehen. Er hat vorbeigeschaut, um ein Buch zurückzubringen, das ihm sein Vater geliehen hatte. Auf Drängen seiner Mutter ist er zum Abendessen geblieben. Sie fanden nicht, dass er gestresster war als sonst.«

Damit Loïc ihn nicht hören konnte, flüsterte Victor Jacinthe ins Ohr:

»Er soll sie fragen, ob ihr Sohn Freunden manchmal Schlüsselkarten gegeben hat.«

Sie gab die Frage an Loïc weiter.

»Okay. Ich werde sie gleich fragen. Wer war das im Hintergrund? Paul?«

Victor warf Jacinthe einen vernichtenden Blick zu.

»Nein, nur ein Techniker … Sieh zu, dass du auch eine Liste von Lefebvres engsten Freunden von ihnen bekommst. Okay? Ich mach jetzt Schluss, da kommt noch ein Anruf. Halt mich auf dem Laufenden.«

Victor wartete, bis sie aufgelegt hatte, dann explodierte er.

»Scheiße! Ich hab dir doch gesagt, dass die Sache auffliegt.«

»Tja, du hättest einfach den Mund halten sollen.«

Sie wollte weiterreden, doch jetzt klingelte Victors Telefon. Es war Nadja. Er stellte auf Freisprechen um.

»Ich habe mir die Aufnahmen angesehen. Wir haben eine Frau in einem grünen Mantel und mit Rucksack. Sie ist dreiundfünfzig Minuten vor Entdeckung der Leiche ins Haus gekommen und nach zwanzig Minuten wieder rausgestürmt. Und falls ihr fragen wollt: Nein, ihr Gesicht ist von einer Kapuze verdeckt.«

Jacinthe fuhr sich mit den Fingern durchs kurze Haar.

»Und falls wir fragen wollen: Hatte sie einen Laptop dabei?«

Nadja ließ eine Sekunde verstreichen, um es spannend zu machen.

»Allerdings.«

Sie dankten ihr und baten sie, eine Kopie der Aufnahmen zu besorgen.

»Na also, du hast eine Zeugin, Jacinthe. Das ist doch was.«

Sie strafte Victor mit ihrem vernichtendsten Blick.

»Soll ich jetzt Freudensprünge machen? Ich rufe dich an, um einen kleinen Mord aufzuklären, und was habe ich jetzt am Hals? Scharfschützen auf dem Mont Royal, einen Investigativjournalisten, den jemand zum Schweigen bringen wollte, und eine flüchtige Zeugin.«

Sie legte die Hand aufs Herz.

»Danke, mein Lieber. Meinen allerwertesten Dank! Weißt du was? Im Casino bist du mir lieber.«

Er musste schmunzeln. In meckerndem Ton setzte sie hinzu:

»Hättest du Lust, nachher einen Burger essen zu gehen?«

Während Victor mit einem »Vielleicht« antwortete, das so viel wie »Ja« bedeutete, ging die Wohnungstür halb auf und der draußen postierte Streifenpolizist winkte Jacinthe. Sie ging zu ihm und verschwand auf dem Korridor.

Sie grinste albern, als sie wenig später wiederkam.

»Du hast ein Problem, mein Lieber.«

»Ich? Was für ein Problem denn?«

Er runzelte verdutzt die Stirn.

»Eins von der Sorte Superfrau mit Angelina-Jolie-Mund. Sie schiebt Panik, weil ihr Freund tot ist, und will dich sprechen.«

Victor brauchte einen Moment, ehe er begriff, und konnte seine Überraschung nicht verhehlen.

»Virginie Tousignant?«

»Ja. Deine kleine Journalistin. Du musst versuchen, mehr aus ihr herauszubringen, denn als Mademoiselle spitzgekriegt hat, dass du da bist, hat sie die Konversation mit mir eingestellt.«

»Aber woher weiß sie denn, dass …«

Mit der einen Hand scheuchte sie ihn fort, mit der anderen drückte sie ihr Telefon ans Ohr.

»Ich sorge dafür, dass deine Freundin nicht gleich wieder raufkommt, Loverboy. Hashtag IchrettedirwiederdenArsch.«

Ungläubig und mit weit aufgerissenen Augen machte er ein paar Schritte in Richtung Tür und drehte sich dann um.

»Du wirst mir noch erklären müssen, woher sie …«

Sie spitzte die Lippen und warf ihm mit einem lauten Schmatz einen Kuss zu.

»Ich dich auch.«

Er seufzte. Heute lief gar nichts so, wie er es sich vorgestellt hatte.

In die Fluten der Dunkelheit

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