Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 6

1. Leere Versprechungen

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Victor öffnete die Glastür und trat hinaus in die Kälte des Tages. Sein Herz pochte bis in die Schläfen, als er der Blutspur hin zum Ende des langen Gebäudevorsprungs folgte.

Der Mann lehnte mit aufgeschnittenen Pulsadern am Geländer und sah ihm entgegen. Der kupferfarbene Himmel rahmte seine schmächtige Gestalt. Das Messer, das er in der zitternden Hand hielt, blitzte in der Sonne, während er einen Blick über die Schulter warf. Sechs Stockwerke tiefer, auf dem überfüllten Parkplatz des Casino de Montréal, strömte eine Menge von Schaulustigen zusammen. Zwischen kurzen Atemstößen rief er Victor etwas zu. Seine helle, angsterfüllte Stimme hallte vom Beton wider.

»Ich springe, wenn du noch näher kommst.«

Victor blieb stehen und hob die Hände, zog seinen Ohrstöpsel heraus und ließ ihn am Kabel baumeln. Dann lockerte er seine Krawatte und streifte sie über den Kopf, ohne den Knoten zu lösen. Vier Meter und eine Mauer des Schweigens trennten die beiden Männer.

Victor musterte den anderen, der sich mit dem Unterarm die Stirn abwischte und dabei Blut ins Gesicht schmierte: Mitte fünfzig, graues Haar, eine hagere Gestalt in schlackernden, abgewetzten Jogginghosen. Der Mann sah ihn seinerseits prüfend an.

Victor kannte diesen Blick. Es war nicht nur der eines Spielers, der zu viele Stunden an den Casinotischen zugebracht hatte. Es war der erloschene Blick eines Menschen, für den gewinnen oder verlieren keinerlei Bedeutung mehr hatte.

Victor klopfte an eine Tasche seiner Jacke.

»Ich will nur meine Zigaretten rausholen.«

Der andere nickte. Victor steckte sich eine an, dann hielt er ihm das Päckchen hin. Der Mann verzog angewidert das Gesicht und lehnte kopfschüttelnd ab.

Victor stieß den Rauch langsam aus und fuhr dabei mit der flachen Hand über seinen Bürstenschnitt. Der Anflug eines Lächelns kräuselte seine Augenwinkel.

»Sie haben recht, irgendwann bringt mich das noch um.«

Der Mann fand Victors Galgenhumor nicht witzig, wurde aber ein wenig lockerer.

»Das ist meine letzte. Versprochen.«

Der Spieler spähte traurig zum Parkplatz hinunter.

»Leere Versprechungen. Das ist das Problem.«

Er blickte wieder zu Victor und entzifferte das Namensschild an seinem Revers.

»Victor Lessard. Es ist das erste Mal, dass ich dich hier sehe …«

»Ich arbeite auch noch nicht lange im Casino.«

»Was hast du vorher gemacht?«

Victor strich über seinen dichten Bart und senkte den Blick seiner grünen Augen in die des Mannes.

»Polizei. Kapitalverbrechen. Und Sie? Wie heißen Sie eigentlich?«

In seiner Schwermut gefangen, ließ der andere die Frage unbeantwortet und spann seinen Gedanken weiter.

»Ich hatte gesagt, dass damit Schluss wäre. Sechs Monate ist das jetzt her.«

Seinem kreidebleichen Gesicht und der Blutlache nach zu urteilen, die sich zu seinen Füßen sammelte, schätzte Victor, dass der Mann nur noch eine Stunde zu leben hatte, wenn er nicht schleunigst ins Krankenhaus gebracht wurde, vielleicht weniger.

»Leere Versprechungen?«

Der Mann schlug die Augen nieder.

»Mein Sohn hatte mir Geld geliehen. Ich hatte meine Schulden damit bezahlt. Aber nein! Ich musste wieder herkommen! Warum?«

Victor zuckte mit den Schultern und beäugte einen Moment lang seine Zigarette.

»Es ist eine Sucht.«

Er nahm noch einen Zug, dann zerdrückte er die Kippe mit dem Schuh. Der Mann sprach weiter.

»Das wird mir mein Sohn niemals verzeihen. Diesmal nicht. Ich kann nicht länger lügen.«

Zehn Meter hinter Victor flog die Glastür auf, und heraus stürmte ein athletisch gebauter Mann mit kahl rasiertem Schädel, der einen weinroten Anzug trug.

Bei seinem Anblick kletterte der Verzweifelte auf das Geländer.

»Wer bist du? Verzieh dich!«

Victor beschwichtigte ihn mit ruhiger Stimme.

»Ich regle das. Einen Moment bitte.«

»Ich springe, wenn er nicht verschwindet!«

Ein Passagierflugzeug durchschnitt mit lautem Getöse den Himmel. Ohne sich umzudrehen, gab Victor seinem Vorgesetzten, dem Sicherheitschef, ein Zeichen, stehen zu bleiben.

»Alles in Ordnung, Dionne. Wir unterhalten uns. Sorg dafür, dass wir nicht mehr gestört werden.«

Dionne nickte, als er die Situation erfasst hatte, machte nach kurzem Zögern kehrt und entfernte sich. Victor wartete, bis die Glastür sich wieder geschlossen hatte, dann setzte er das Gespräch behutsam fort.

»Ihr Sohn wird Ihnen verzeihen, ganz gleich, was Sie getan haben.«

»Nein! Es gibt Dinge, die sind einfach unverzeihlich.«

Victor zupfte an seiner Krawatte.

»Sie können sich ändern. Man kann sich immer ändern.«

Der Spieler schüttelte den Kopf, dann legte sich ein Zug von Bitterkeit um seine Lippen.

»Wenn du dich splitternackt ausgezogen hast, weißt du, wer du wirklich bist.«

Er bedachte Victor, dessen Handy in diesem Moment in der Tasche vibrierte, mit einem zerknirschten Lächeln.

»Aber danke, dass Sie mir zugehört haben.«

Dann ging alles ganz schnell. Während Victor seine Einsneunzig in Bewegung setzte und nach vorn hechtete, schloss der Mann die Augen und ließ sich in die Tiefe fallen.

Die Spätnachmittagssonne hüllte ihre vollschlanke Gestalt in goldenes Licht, und während sie von einem Bein auf das andere trat und an die Scheibe trommelte, hielt sie die linke Hand weiter ans Ohr gedrückt.

Ihr Blick strich über das Stadtzentrum weit unten, in dem es wimmelte wie in einem Bauch, der von Maden aufgefressen wird, wanderte die Rue University hinauf, mäanderte durch das McGill-Ghetto und verlor sich dann am Mont Royal. Der Hügel trug bereits sein Herbstkleid. Durch das Loch, das die Kugel in die Scheibe gebohrt hatte, hörte sie das Rauschen des Verkehrs und das Hupen der Taxis.

Stöhnend vor Ungeduld wartete Jacinthe Taillon, bis Victors Stimme verstummte und der Piepton erklang, dann sprach sie ins Handy:

»Hallo, mein Lieber. Tja, ich bin’s schon wieder. Äh … entschuldige, ich weiß, ich sollte dich eigentlich nicht bei der Arbeit stören …«

Sie musste grinsen.

»He, ich stelle mir gerade vor, wie du ganz entspannt mit deiner kleinen Thermoskanne Kaffee im Casino sitzt und dir die Bilder deiner Überwachungskameras anschaust …«

Sie wurde wieder ernst. Der Anblick ihres Gesichts, dessen erschlaffte Züge sich im Fenster spiegelten, verdross sie. Sie hielt die Hand davor, wobei der Silberring an ihrem Mittelfinger klickend gegen die Scheibe stieß.

»Jedenfalls würde ich gern mit dir über etwas reden. Über etwas anderes …«

Die Frau, die im Kollegenkreis »die dicke Taillon« genannt wurde, drehte sich in den Raum um, in dem Techniker von der Spurensicherung um eine Leiche herumwuselten.

»Und übrigens, ich langweile mich null. Natürlich wirst du jetzt sagen, das liegt daran, dass meine neue Partnerin viel sexyer ist als du …«

Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Nadja Fernandez, die junge Ermittlerin südamerikanischer Abstammung, die gerade mit Jacob Berger, dem Pathologen, sprach. Ihr schwarzes Haar brachte ihre makellosen Züge und ihre Lippen noch besser zur Geltung.

»Ruf mich aber auf jeden Fall zurück.«

Sie legte auf. Trotz des Spotts in ihrer Stimme ging ein Ausdruck tiefer Traurigkeit über ihr Gesicht. Mit wenigen Schritten trat Nadja zu ihr. Sie hielt ein Notizbuch in der Hand.

»Mit wem hast du gesprochen?«

»Äh … mit der Leichenhalle. Sie kommen.«

Die junge Frau sah sie an, halb verdutzt, halb amüsiert.

»Na klar. Ich habe sie ja angerufen …«

Jacinthe überging die Bemerkung und richtete ihre Aufmerksamkeit auf Jacob Berger, der zu ihnen herüberkam. Ein verschmitztes Lächeln spielte um ihre Lippen.

»Hallo, Burgers!«

Der Pathologe verdrehte die Augen. Er wusste, dass sie seinen Nachnamen mit Absicht verballhornte, aber es nervte ihn immer wieder aufs Neue, als wäre es das erste Mal.

Ohne die Handschuhe auszuziehen, griff Jacinthe in die Tasche ihrer Cargohose, brachte eine Handvoll Sonnenblumenkerne zum Vorschein und schob sie unter dem missbilligenden Murren Bergers in den Mund. Grinsend leckte sie das Salz ab, das an ihrem Mittelfinger klebte.

»Delaney ist wieder da, Burgers …«

Tatsächlich war der Commandant der Abteilung Kapitalverbrechen soeben von einer mehrwöchigen Reise mit seiner unheilbar krebskranken Frau zurückgekehrt.

Berger zeigte ihr offen seine Verachtung.

»Ich sehe da keinen Zusammenhang, Taillon.«

»Ach nein? Du wirst ihn anrufen und dich beschweren, falls du auf dem Fußboden Sonnenblumenkerne findest.«

Auf dem Casinoparkplatz waren alle Blicke auf die beiden Gestalten gerichtet, die sich sechs Stockwerke höher am Rand des Gebäudevorsprungs damit abmühten, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen. Dem einen, der versucht hatte, sich das Leben zu nehmen, war der Schrecken am Gesicht abzulesen.

»Ich will nicht sterben!«

Der Mann baumelte über dem Abgrund und hielt mit blutleeren Fingern die Krawatte umklammert, die Victor, gegen das Geländer gestemmt, mit beiden Händen festhielt.

Dann sah Victor, wie die Finger des Mannes an dem Stoff entlang nach unten glitten. Sein Gesicht wurde puterrot, und die Adern an seinem Hals traten noch stärker hervor, als er in einem letzten verzweifelten Versuch die Muskeln anspannte und mit aller Kraft zog, um ihn zu sich hochzuhieven.

In der Ferne begann eine Sirene zu heulen, doch sie klang wie aus einer anderen Welt. Und selbst wenn man gegen Angst und Einsamkeit nie etwas tun kann, so verschmolzen jetzt die Blicke der beiden Männer und wurden eins.

In die Fluten der Dunkelheit

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