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7. Mir ist so traurig ums Herz

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Acht Minuten vor dem Mord

Bekleidet mit einem langen, grünen Wollmantel, einen Rucksack auf dem Rücken, die Haare und die obere Gesichtshälfte unter der Kapuze verborgen, tritt die junge, dunkelhäutige Frau geräuschlos in die Wohnung Guillaume Lefebvres.

Während sie die Schlüsselkarte einsteckt, merkt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. Eine Jacke, Schuhe, eine Ledertasche und Schlüssel liegen auf dem Fußboden verstreut. Sie begreift, dass sie gegen die Regel verstoßen hat und ungelegen kommt, und will gerade kehrtmachen, als er im Flur auftaucht, seinen Laptop in der Hand. Er ist barfuß, trägt eine schwarze Jogginghose und ein graues T-Shirt.

Die Besucherin nimmt ihre Sonnenbrille ab, und die beiden sehen einander herausfordernd an. Der Journalist wird hochrot im Gesicht, die Adern an seinen Schläfen schwellen an.

»Was willst du hier?«

Obwohl auf den anrüchigen Straßen Abidjans sozialisiert, senkt sie leicht den Kopf, um einen Streit zu vermeiden, doch sie antwortet mit fester Stimme.

»Du bist nicht zu unserer Verabredung gekommen. Da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Er geht zu der Glaswand und blickt auf die Stadt, die weit unten pulsiert. Ohne sich umzudrehen, giftet er:

»Ich dachte, wir hätten das geklärt. Du solltest den Kartenschlüssel nur im Notfall benutzen. Du hättest dich ankündigen müssen.«

»Kein Handy, kein Telefon, kein Internet. Wir waren uns doch einig!«

»Ich muss weg. Jetzt gleich.«

Lefebvre tut es bereits leid, dass er aus der Haut gefahren ist. Er will sich gerade entschuldigen, als das Mailprogramm seines Rechners mit einem Piepton den Eingang einer Nachricht meldet.

Ärgerlich beißt die Frau die Zähne zusammen.

»Du willst Schluss machen, stimmt’s?«

Sie ballt die Fäuste, ringt um Fassung.

»Du willst Schluss machen, aber du hast nicht den Mut gehabt, es mir ins Gesicht zu sagen.«

Die Augen auf den Bildschirm gerichtet, kehrt ihr Lefebvre immer noch den Rücken zu. Als er sich umdreht, sieht er so aus, als wäre ein anderer in seine Haut geschlüpft.

»Was ist los, Guillaume?«

Sie fragt ihn, dabei weiß sie, warum die Dinge aus dem Ruder gelaufen sind, warum der Journalist sich zurückgezogen und abgekapselt hat. Sie mustert ihn im weißlichen Gegenlicht der Glaswand. In einem solchen Zustand hat sie ihn noch nie gesehen.

»Ich habe dir doch gesagt, dass du gehen sollst. Du hast hier nichts verloren.«

»So kann das nicht weitergehen, Guillaume. Du musst damit aufhören, denn …«

Er unterbricht sie.

»Glaubst du etwa, ich habe Angst? Glaubst du, ich lasse mich einschüchtern?«

Da dämmert ihr, dass etwas Schlimmeres im Gang ist, als sie vermutet hat.

»Was ist? Hast du Drohungen erhalten. Von ihnen?«

Wieder piept das E-Mail-Programm. Lefebvre blickt auf den Bildschirm. Und als er wieder zu ihr aufschaut, sind seine Züge von Angst verzerrt.

»Verschwinde! Und zwar …«

Er beendet den Satz nicht. Das Geräusch von splitterndem Glas ertönt, ein Pfeifen, dann das dumpfe Klatschen des Projektils, das sein linkes Schulterblatt durchschlägt.

Entsetzt sieht die junge Frau, wie Lefebvres Körper sich aufbäumt und sein Brustkorb explodiert. Fleisch- und Gewebefetzen wirbeln durch die Luft. Der Journalist kippt vornüber, stößt einen Schwall Luft aus und sackt mit dem Gesicht voraus zu Boden. Wie mit Verzögerung beginnt das Blut zu spritzen.

Die Frau fällt auf den Hintern. Sie ist starr vor Angst. Dann findet sie die Kraft, zu ihm zu kriechen. Lefebvre hat den Kopf in ihre Richtung gedreht. Sie sieht ihm in die Augen.

»Wo ist es, Guillaume? In deinem Computer? Guillaume?!«

Sie spricht zu ihm, aber der Journalist hört sie nicht.

Zu dumm, Emma, ich weiß, dass ich sterbe, aber alles, woran ich mich erinnere, ist das Gedicht über die Raubvögel, das du geschrieben hast, als Constance gestorben ist.

Es handelte von einem Falken, der zu den Sternen fliegen und mit den Toten sprechen kann. Ich erinnere mich noch. Es hieß ›Mir ist so traurig ums Herz‹.

Die junge Frau bemerkt plötzlich, dass sie Blut an den Händen hat. Sie möchte schreien, aber es gelingt ihr, Ruhe zu bewahren und sich dem Sterbenden zuzuwenden.

»Bleib bei mir, Guillaume! Sag mir, wo ich suchen muss.«

Doch Lefebvre versinkt bereits in tintenschwarzem Wasser und fühlt, dass er untergeht wie ein ölverschmierter Vogel. Seine reglose Hand liegt auf dem Boden in seinem Gesichtsfeld. Mit geschärftem Blick betrachtet er die Adern, die unter der Haut verlaufen, die Textur der Epidermis, wird sich jeder Linie bewusst, die seine Handfläche durchzieht.

Eine endlose Sekunde lang staunt er über dieses grenzenlose Labyrinth, dieses verschlungene, pulsierende Netz, und er wird von einer Erkenntnis durchdrungen, die ihn beruhigt: Man hat die Unendlichkeit täglich vor Augen, man muss sich ihr nur nähern und hinsehen.

Und darum bemüht er sich jetzt: Er bewundert das viele Blut, in dem seine Hand liegt, wie angespült von der Flut.

»Wer wird sich um mich kümmern, wenn du mal stirbst?«

Das hast du mich immer wieder gefragt, wenn du deine Panikattacken hattest, Emma. Anstatt das zu tun, was alle Eltern tun, wenn sie ihr Kind zu beruhigen suchen, und dir beispielsweise zu sagen, dass du schon alt sein wirst, wenn es geschieht, habe ich dich in die Arme genommen und dir erklärt, dass das Leben so schnell vergeht, dass nichts an ihm festhalten kann. Weißt du noch?

»Du bist das Schönste, was mir das Leben geschenkt hat, Emma. Ich bin da. Du kannst ruhig schlafen.«

Das habe ich zu dir gesagt, mein Mädchen. Gemeinsam haben wir über eine Eigenschaft der Dinge gesprochen, die dich trösten und dir helfen könnte, auch nach dem Tod deiner Mutter weiterzuleben: die Vergänglichkeit.

Alles ist unablässig in Bewegung. Es stimmt, das erkenne ich jetzt, wo mir vieles klar wird. All die Zeit, die ich verloren habe, Emma. Und dass ich dich nun verliere.

Guillaume Lefebvre spürt, wie er langsam dahingleitet, und es ist ein angenehmes, fast berauschendes Gefühl. Ein letztes Mal nimmt sein Bewusstsein Kontakt zu dieser Wirklichkeit auf, die er gleich für immer verlassen wird.

Er verspürt keinen Schmerz, aber Hände rütteln ihn. Eine schwarze Frau beugt sich über ihn, das Gesicht in Tränen gebadet. Er lächelt sie an, voller Mitgefühl, weil sie weiter ihren Weg gehen muss.

Er bemerkt, dass ihre Lippen sich bewegen. Sie spricht zu ihm.

»Oh, mein Gott! Guillaume! Bleib bei mir! Sag mir, wo ich suchen muss.«

Da stammelt er unter übermenschlicher Anstrengung ein letztes Wort, das die junge Frau ihm mehr von den Lippen abliest, als dass sie es hört.

»Ma… …man.«

Als der Journalist die Augen verdreht und ein letztes Röcheln von sich gibt, erstickt ein Schrei in ihrer Kehle, und ihr Herz ballt sich zusammen wie eine Faust. Guillaume Lefebvre ist tot. Im Sterben hat er nach seiner Mutter gerufen.

Sie springt auf, trocknet die Tränen mit dem Ärmel und wäscht sich am Spülbecken das Blut von den Händen. Dann wischt sie mit einem Lappen Hahn und Anrichte ab.

Sie ist nicht aktenkundig, aber ihr Leben lang hat sie die Spuren ihrer Anwesenheit verwischt. Sie sammelt sich, ergreift den Computer und riskiert dann einen Blick auf den Korridor. Niemand zu sehen.

Jetzt erst wird ihr bewusst, wie unvorsichtig sie gewesen ist, und sie begreift, dass ein zweites Geschoss auch sie hätte treffen und töten können. Und dass sie ihr Leben möglicherweise nur dem Umstand verdankt, dass sie in der Diele geblieben und dann zu Lefebvre gekrochen ist.

Sie wischt den Türgriff ab und eilt den Korridor hinunter. Sie hat einen unbändigen Lebenswillen. Vor allem aber möchte sie, dass alle Welt davon erfährt.

In die Fluten der Dunkelheit

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