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12. Ein Unbehagen namens Begehren

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Victor trat auf den Korridor hinaus. Virginie Tousignant stand vor den Aufzügen, mit dem Rücken zu ihm. Er bat den Polizisten, der am gelben Absperrband wachte, sie allein zu lassen. Der Mann ging in die Wohnung und schloss die Tür hinter sich. Die junge Journalistin drehte sich um. Eine Haarsträhne fiel ihr in die grünen Augen. Sie tauschten einen langen, bedeutungsvollen Blick, während sie auf ihn zukam.

Sie wirkte klein in dem riesigen Flur und verströmte die Verletzlichkeit einer Frau, deren Erinnerung an den Tod wieder aufgelebt war.

»Ich bin sofort gekommen, als ich gehört habe, wer das Opfer ist.«

Virginie arbeitete als Reporterin für dieselbe Zeitung wie Lefebvre. Victor hatte sie unter tragischen Umständen kennengelernt, und zwar bei der Untersuchung eines Falls, in den ihr Vater verwickelt gewesen war.

Trotz der traumatischen Erfahrung, die die junge Frau damals durchgemacht hatte, bestand zwischen ihnen eine Spannung, die auf gegenseitiger Anziehung beruhte.

»Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?«

»Ich habe es nicht gewusst. Deiner Partnerin ist es herausgerutscht.«

Jacinthe hatte ihn also absichtlich in die Löwengrube geschickt. Victor unterdrückte die Wut, die in ihm hochstieg, und konzentrierte sich auf Virginie. Sie sah niedergeschlagen aus.

»Wie geht es dir?«

Sie biss sich auf die Lippe und hielt die Tränen zurück.

»Guillaume war ein sehr guter Freund. Er war es, der mich dazu bewegt hat, in den investigativen Journalismus zu wechseln, als mein Vater …«

Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Er begriff, dass sie in dieser Tätigkeit eine Mischung aus Läuterung und Wiedergutmachung suchte, so wie auch er in dem Beruf, den er gewählt hatte.

»Er war einfach brillant. Absolut integer, völlig unerschrocken …«

Plötzlich überkam Victor das Verlangen, bis ans Ende der Welt zu flüchten, um sich nicht mehr dem Schmerz und der Verzweiflung der anderen aussetzen zu müssen, deren bitteren Kelch er jedes Mal bis zur Neige leerte.

»Das tut mir aufrichtig leid.«

Die junge Frau legte die Hände an die Wangen.

»Das muss ein Versehen sein. Ich kann nicht glauben, dass ihm jemand etwas Böses wollte.«

Sie holte tief Luft und schloss die Augen, um sich zu beruhigen. Als sie sie wieder öffnete, sah Victor ihr an, dass sie ihre Gefühle wieder einigermaßen im Griff hatte.

»Was kannst du mir sagen?«, fragte sie.

»Ist es die Journalistin oder die Freundin des Opfers, die mich das fragt?«

»Macht das einen Unterschied?«

Das war ein kluger Konter, und Victor sah ein, dass er es nicht über sich brachte, ihr eine Abfuhr zu erteilen.

»Ich dürfte gar nicht hier sein. Ich muss dich also um Diskretion bitten.«

Sie nickte, und er wusste, dass er ihr vertrauen konnte.

»Hat er gelitten?«

»Nein«, versicherte er ihr. Er hatte den Eindruck, dass sie im Stillen Fragen formulierte, um dann zu erkennen, wie hohl sie waren. Er baute ihr eine Brücke.

»Wann hast du ihn das letzte Mal gesehen?«

Sie hob den Kopf. Ein belustigtes Funkeln stahl sich in ihre Augen.

»Ist es der ehemalige Ermittler oder der einfache Bürger, der mich das fragt?«

»Macht das einen Unterschied?«

Virginie lächelte, dann kehrte wieder Schweigen ein, diesmal jedoch ein anderes, bedrücktes.

»Ich bin Guillaume diese Woche begegnet, aber wir hatten keine Zeit, miteinander zu reden. Wir waren beide zu eingespannt. Vor zwei oder drei Wochen haben wir das letzte Mal zusammen gegessen.«

»Ist er dir verändert vorgekommen?«

»Ja, seit einem Monat fand ich ihn irgendwie reserviert. Er kam nur noch selten in die Redaktion.«

»Hast du ihn darauf angesprochen?«

Die Journalistin überlegte nicht lange.

»Er sagte, er sei in einer schwierigen Phase.«

»Habt ihr miteinander geschlafen?«

In dem Moment, als er die Frage stellte, hätte er sie am liebsten zurückgenommen und anders formuliert.

»He … Seit wann interessiert dich mein Sexleben?«

Ihr Verführungsinstinkt hatte die Oberhand gewonnen, wich aber sofort der Scham darüber, dass sie unter diesen Umständen auf einen solchen Gedanken gekommen war. Sie wurde wieder ernst.

»Es ist hin und wieder passiert. Aber mein Herz war nicht frei. Und seines auch nicht …«

Victor nickte und ließ einen Augenblick verstreichen.

»Hat er sich in letzter Zeit mit einer anderen getroffen?«

»Ich glaube nicht.«

»Weißt du, woran er gerade gearbeitet hat?«

»Guillaume war sehr verschwiegen. Er sprach selten über eine Story, an der er dran war. Aber wenn du willst, kann ich mich schlaumachen. Wo erreiche ich dich, wenn ich etwas finde?«

»Jacinthe und ihre neue Partnerin schmeißen den Laden.«

»Richtig. Ihre neue Partnerin … Ist sie deine Freundin?«

Das Unausgesprochene stand in ihren und seinen Augen, doch Victor brach den Bann.

»Hast du eine Idee, wo wir seinen Laptop finden könnten?«

»Abgesehen von seiner Wohnung und der Redaktion, nein. Warum? Ist er verschwunden?«

Aus Gewohnheit wich Victor aus. »Kennst du seine Tochter?«

Virginies Fassung geriet ins Wanken.

»Die arme Emma. Wieso?«

Er gab ihr die einzige Antwort, die unter den gegebenen Umständen möglich war, obwohl er wusste, dass sie etwas anderes hören wollte.

»Nur so, Virginie.«

Sie sah ihn aus geröteten Augen an.

»Ich habe gespürt, dass es ihm nicht gut ging. Ich hätte versuchen müssen, etwas zu tun …«

Die Tür von Lefebvres Wohnung ging auf, und heraus kamen zwei Männer, die eine Rollbahre schoben. Darauf lag ein schwarzer Leichensack, unter dem sich die Gestalt des toten Journalisten abzeichnete.

Nun war es um Virginies Fassung endgültig geschehen. Victor nahm sie in die Arme und murmelte tröstende Worte, während sie um ihren toten Freund weinte.

Versteckt hinter der Ecke, hatte Nadja jedes Wort des Gesprächs mitgehört. Beschämt rief sie den Aufzug und fuhr wieder nach unten.

Unterdessen war Jacinthe zu Victor und Virginie herausgekommen und stellte Letzterer noch ein paar Fragen. Als alles gesagt war, verabschiedete sich die Journalistin. Berührt von ihrer Trauer, sah das ehemalige Ermittlerteam ihr nach, wie sie am Ende des Korridors verschwand.

»Das hätten wir hinter uns …«

Jacinthe hatte es ohne Sarkasmus und mit betroffener Miene gesagt.

»Ich muss jetzt los …«

»Moment«, protestierte Jacinthe. »Wir sind noch nicht fertig. Wir müssen zwei Scharfschützen zur Strecke bringen.«

»Ich gehöre nicht mehr zum Verein, Jacinthe. Du hast jetzt eine Partnerin. Du brauchst mich nicht.«

Sie bemühte sich vergeblich, ihre Wut zu kaschieren.

»Natürlich brauche ich dich nicht. Geh wieder zu deiner Bande von Losern, die beim Blackjack Geld waschen! Inzwischen wird sich meine Wenigkeit um die Mörder kümmern.«

Sie fuhr auf dem Absatz herum und knallte die Wohnungstür zu. Victor senkte den Kopf. Er hatte sich noch nicht zum Gehen entschließen können, als das Handy in seiner Tasche klingelte. Beim Blick auf das Display wusste er, dass sein Leben von diesem Augenblick an nicht mehr dasselbe sein würde.

In die Fluten der Dunkelheit

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