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16. Towarischtsch

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Der alte Saab parkte zehn Meter oberhalb der Terrasse der Datcha Zakouski, eines der ältesten russischen Restaurants in Montréal. Victor saß noch im Wagen und sah sich auf dem Telefon das Profil an, das er vorhin geschickt bekommen hatte. Obwohl er den Inhalt kannte, überflog er ihn noch einmal. Sein Interesse galt speziell einer Reihe von Fotos, die er durchscrollte. Fotos eines Mannes in verschiedenen Phasen seines Lebens.

Victor blickte auf seine Hamilton. Das Warten wurde ihm zu lang. Er wollte sich gerade noch eine Zigarette anstecken, da tauchte der Mann von den Fotos im Rückspiegel auf. Er trug einen tadellosen, aber altmodischen Anzug und näherte sich mit elastischen Schritten der Terrasse. Victor musterte ihn: klein und stämmig, graues, an den Schädel geklatschtes Haar, gestutzter dünner Schnurrbart, dunkle Augen.

Das auf seinen Wunsch erstellte Profil enthielt nur wenige Informationen: Nikolaï Komarov stammte ursprünglich aus dem russischen Sankt Petersburg und war sechsundsechzig Jahre alt. Er hatte sich 1973 in Québec niedergelassen und wenige Jahre später die kanadische Staatsbürgerschaft erhalten.

Der Mann hatte in einem Jazzquartett gespielt, das in seiner besten Zeit einigen Erfolg gehabt hatte und um die ganze Welt getourt war. Seit zwanzig Jahren gab der Russe in seiner Wohnung in der Rue Notre-Dame Est private Klavierstunden. Keine Vorstrafen. Auch keine Auffälligkeiten in seinen Vermögensverhältnissen. Als kinderloser Junggeselle schien er ein ruhiges Leben zu führen.

Komarov erklomm die Stufen zu der Terrasse, die zwei Meter über der Straße lag. Sie war durch eine Markise geschützt und von einer Balustrade aus Zedernholz umschlossen, auf der Pflanzkübel mit Farnen standen.

Der Kellner begrüßte Komarov, und die beiden umarmten sich wie alte Bekannte. Sie hielten einen kurzen Plausch, dann deutete der Kellner auf die gläserne Eingangstür. Für Herbstanfang war es ein ziemlich kühler Tag, doch der Russe gab zu verstehen, dass er lieber auf der verwaisten Terrasse Platz nehmen wollte. Der Kellner nickte, und Komarov setzte sich an einen hinteren Tisch, gleich neben dem Durchgang, der das Restaurant vom Nachbargebäude trennte.

Victor wartete noch einen Moment und suchte mit den Augen die Umgebung ab. Als er sich überzeugt hatte, dass alles in Ordnung war, stieg er aus dem Wagen, steuerte auf das Restaurant zu und stieg die Stufen zur Terrasse hinauf. Der Kellner kam ihm eilfertig entgegen, doch Victor deutete auf den einzigen belegten Tisch. Der Mann verneigte sich und ging wieder hinein.

»Monsieur Lessard?«

Nikolaï Komarov hatte sich erhoben. Ein Lächeln sträubte seinen Schnurrbart. Er stand aufrecht und würdevoll da und reichte Victor eine kräftige Hand, in die dieser einschlug.

»Danke, dass Sie so kurzfristig Zeit für mich gefunden haben.«

Victor hatte lange das Für und Wider erwogen, nachdem ihm Albert Adresse und Telefonnummer des Russen gegeben hatte. Sein Instinkt hatte ihm geraten, lieber nicht an der Vergangenheit zu rühren, dann hatte ihn aber doch die Neugier gepackt und nicht mehr losgelassen.

»Das ist doch selbstverständlich, ich bitte Sie.«

Die beiden Männer glichen Boxern, die sich gegenseitig taxieren und die Schlagdistanz abschätzen.

Victor hatte ihn achtundvierzig Stunden zuvor angerufen. Zu seiner großen Überraschung brauchte er weder Ted noch seine eigene Geschichte zu erwähnen. Komarov erklärte sich sofort zu einem Treffen bereit, als hätte die bloße Nennung seines Namens genügt.

Der Mann hatte lediglich einen Wunsch geäußert, den er jetzt wiederholte.

»Am Telefon hast du versprochen, mir zu sagen, wie du mich gefunden hast.«

Mit argwöhnischem Blick kam Victor dem Wunsch nach.

»Ted Rutherford, sagt Ihnen das was?«

Komarov runzelte die Stirn und zuckte mit den Schultern, als könnte er sich nicht erinnern.

»Er hat Sie vor einigen Jahren wegen einer Familientragödie kontaktiert. Sie haben es abgelehnt, mit ihm zu sprechen.«

»Rutherford … Ist das der pensionierte Polizist, der auf eigene Faust Ermittlungen angestellt hat?«

Victor nickte.

»Ich wollte keinen Ärger. Ich konnte nicht wissen, ob er lautere Absichten hatte und wirklich der war, für den er sich ausgab.«

»Er ist der beste Mensch, den ich kenne.«

Komarov starrte ihn an, als versuchte er ihn zu durchschauen.

»Daran habe ich keinen Zweifel. Aber lass mich dir eine andere Frage stellen. Warum willst du mich nach all der Zeit sehen? Warum jetzt?«

»Wir haben Ted gerade beerdigt. Bevor er starb, hat er mir Ihren Namen genannt. Wir hatten nie über meinen Vater gesprochen, seit …«

Victor ließ den Satz unvollendet.

»Sudba. Nikuda ne deneschsja – Das Schicksal. Man entrinnt ihm nicht.«

Komarov, der Victors Verwirrung bemerkte, wechselte das Thema.

»Es ist verrückt, wie du mich an deinen Vater erinnerst, Towarischtsch.«

Victor fuhr in die Höhe, rot im Gesicht. Abgesehen von dem Blut, das in seinen Adern floss, hatte er mit dem Mann, der seine Familie ermordet hatte, nichts gemeinsam.

»Ich fürchte, unser Gespräch ist bereits zu Ende.«

Der Russe wedelte beschwichtigend mit den Händen.

»Towarischtsch bedeutet auf Russisch ›Kamerad‹.«

Victor wollte auf dem Absatz kehrtmachen und verschwinden.

»Warte. Ich habe dir eine Geschichte zu erzählen. Ich finde, du solltest sie hören.«

Victor hielt in der Bewegung inne. Ein seltsames Gefühl überkam ihn. Der Russe sprach zu ihm wie zu einem alten Freund, als wären sie gut miteinander bekannt.

Er wollte entgegnen, dass er nicht interessiert sei, doch Komarov kam ihm zuvor.

»Vorher würde ich gerne wissen, woran du dich erinnerst. Was weißt du noch von Henri?«

Hass blitzte in Victors Augen auf.

»Nicht viel. Ich habe so gut wie alles vergessen. Außer, dass er uns geschlagen hat.«

»Er hat euch geschlagen? Aber doch nur am Schluss, nicht wahr? So im letzten Monat vor der Tragödie?«

Zu aufgebracht, um einen klaren Gedanken zu fassen, wischte Victor die Frage mit einer Handbewegung beiseite.

»Ich weiß es nicht mehr genau … Was macht das für einen Unterschied?

Komarov stellte jede Frage, als führte er ein Verhör.

»Und wenn ich dir sage, dass Henri davor nie gewalttätig war?«

Obwohl Fachmann auf dem Gebiet, ließ sich Victor von der Wendung, die das Gespräch nahm, verunsichern.

»Vor was? Was meinen Sie damit?«

»Ein paar Wochen vor der Tragödie ist etwas geschehen, das alles verändert hat. Ein traumatisches Ereignis, das sein Verhalten erklärt.«

In der Annahme, dass Komarov auf das anspielte, was Ted keine Ruhe gelassen hatte, erwiderte Victor:

»Die einzige Erklärung, die die Ermittler geliefert haben, ist der Verlust seines Arbeitsplatzes. Und in diese Richtung haben sie nicht weiter ermittelt.«

Der Russe rutschte auf seinem Stuhl vor und verschränkte die Hände unter dem Kinn.

»Vielleicht weil sie den Befehl bekommen hatten, keine weiteren Fragen zu stellen.«

Langsam verlor Victor die Geduld.

»Befehl von wem?«

Zum ersten Mal legte Komarov mehr Kraft in seine Stimme.

»Für wen hat Henri gearbeitet?«

»General Electric.«

»Das hat er deiner Mutter und seinen Freunden und Bekannten weisgemacht.«

Victor schüttelte unwirsch den Kopf.

»Dummes Zeug.«

»Ach ja? Erinnerst du dich, was er bei General Electric gemacht hat? An den Namen eines einzigen Kollegen? Hast du ihn jemals in seinem Büro besucht? Oder deine Mutter?«

Er stutzte und kramte in seinem Gedächtnis.

»Nein … Ich …«

Komarov formulierte seine Fragen immer schärfer und bedrängte ihn regelrecht.

»Lass mich raten: Er hat ungern über seine Arbeit gesprochen. Er hat zu euch gesagt, er wolle seine Sorgen im Büro lassen und euch nicht damit behelligen. Liege ich falsch, Towarischtsch

Victor schwieg. Der Russe hatte ins Schwarze getroffen.

»Und wenn ich dir nun sage, dass Henri an einem streng geheimen Projekt der Regierung im Kalten Krieg mitgearbeitet hat? Wenn ich dir sage, dass er nicht entlassen, sondern suspendiert worden ist?«

Er hatte dies alles in einem Atemzug vorgebracht. Doch es schien so weit hergeholt, dass Victor nur den letzten Punkt aufgriff.

»Suspendiert? Ach ja? Aus welchem Grund?«

»Weil gegen ihn ermittelt wurde.«

Victors Gedanken überdrehten und glitten ins Irrationale ab.

»Ermittelt? Weswegen denn?«

Komarov sah ihn an, als sei er im Begriff, ihm den Todesstoß zu versetzen.

»Spionage und Hochverrat.«

Victor starrte den Russen an und wartete darauf, dass er zusammenklappte. Doch der andere zuckte nicht mit der Wimper.

Zehn Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, erschienen die Gesichter Victors und seines Gesprächspartners vergrößert im Sucher eines Fotoapparats, der mit einem starken Teleobjektiv ausgestattet war. Der Zeigefinger eines Mannes betätigte den Auslöser und hielt ihn gedrückt. Die Klicksalve zerriss die Stille im Innenraum des Saab.

In die Fluten der Dunkelheit

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