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14. Ein Hauch Unausgesprochenes

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Acht Stunden nach Teds Tod

Victor saß mit nacktem Oberkörper auf der Bettkante und betrachtete durchs Fenster den wolkenverhangenen grauen Himmel. Das Zimmer war leer, da der Flur jedoch wie ein Resonanzkörper wirkte, breiteten sich die leisesten Geräusche von der Küche in der ganzen Wohnung aus. Nadja bereitete sich auf ihren Tag vor.

Er stand auf, strich die Bettdecken glatt und klopfte die Kopfkissen zurecht. Dann nahm er die Jogginghose vom Haken hinter der Tür und schlüpfte hinein. Schließlich warf er einen Blick auf seine Uhr, eine alte Hamilton 505, die Ted bis zu seinem Tod getragen hatte. Sie zeigte 7.32 Uhr.

Seine Muskeln und Adern traten deutlich unter der Haut hervor, als er in die Küche ging. Seine Geliebte hantierte an der Anrichte. Sie hörte ihn kommen und drehte sich um. Ihr Lächeln ließ den Raum erstrahlen.

»Salut, Victor Lessard.«

Wie viel Zärtlichkeit in ihrer Stimme schwang. Sie umarmten sich, dann gab sie ihm einen Kuss und hielt ihm eine Tasse mit dampfendem Kaffee hin. Er deutete auf den Aktenstapel auf dem Esstisch.

»Noch immer nichts über die Frau im grünen Mantel?«

Sie verneinte. Mit Hilfe mehrerer Überwachungsvideos hatten sie ihren Weg von Lefebvres Hochhaus bis zur Metrostation Lucien-L’Allier verfolgen können, dort aber ihre Spur verloren, als sie in einem dichten Pulk von Fahrgästen in einen Wagen stieg. Wegen der tief in die Stirn gezogenen Kapuze war ihr Gesicht nicht zu sehen.

Victor pustete in seinen Kaffee und trank einen Schluck.

»Und der Jogger?«

Den Ermittlern war auf den Überwachungsbildern der Metro ein Mann aufgefallen. Er hatte die Station wenige Minuten nach der Frau im grünen Mantel betreten. Zwar schaffte er es nicht rechtzeitig in den Wagen, in den sie geschlüpft war, doch wie es aussah, hatte er ein Foto von ihr gemacht. Außerdem war zu sehen, wie er anschließend den Laptop, den sie benutzt hatte, unter einer Bank hervorzog. Der Mann wusste offensichtlich, was er tat: Er präsentierte sein Gesicht den Kameras nie in einem Winkel, der seine Identifizierung ermöglicht hätte.

»Bisher nichts … Wir gehen immer noch davon aus, dass er einer der Schützen ist. Nach dem Video vom Bahnsteig zu urteilen, sind er und die Frau alles andere als Komplizen.«

Das Dezernat Kapitalverbrechen hatte die Aufnahmen veröffentlicht und die Bevölkerung um Mithilfe bei der Suche nach diesen »Verdächtigen« gebeten. Sie hatten zwar gewisse Hinweise erhalten, denen sie nachgingen, aber noch fehlte von der Frau im grünen Mantel und dem Jogger jede Spur.

Victor öffnete einen Schrank, nahm eine Kunststoffbox heraus und hielt sie Nadja hin. Sie löffelte den Salat, den sie sich gerade zubereitet hatte, hinein und sah Victor dann verschmitzt an.

»Sonst alles zu Ihrer Zufriedenheit, Sergent-Détective?«

Die Bemerkung stieß bei ihm auf ein größeres Echo, als er sich eingestand.

»Du hast recht, ich werde mich da nicht mehr einmischen. Diesmal habe ich euch noch geholfen, aber mach Jacinthe klar, dass ich versuche mich zu entwöhnen.«

Nadja wurde wieder ernst.

»Sie ist auch auf Entzug.«

Die Anspielung war klar. Er nickte.

»Was steht bei dir heute auf dem Programm?«, fragte Nadja, während sie Gemüseabfälle in den Kompost warf. Victors Antwort kam etwas zu schnell.

»Nichts Besonderes …«

Sie hakte mit einem Blick nach. Er gab klein bei und lieferte Details.

»Ich werde Albert besuchen. Und dann muss ich beim Notar vorbeischauen. Deswegen habe ich mir freigenommen.«

Die Beerdigung lag vier Tage zurück. Alle seine alten Kollegen waren gekommen und hatten ihre Anteilnahme zum Ausdruck gebracht: Jacinthe Taillon, Paul Delaney, Loïc Blouin-Dubois und Gilles Lemaire.

Victor hatte ein paar Tränen verdrückt, bevor die Trauerfeier begann – Ted hatte das Gebet und die Kirchen wertgeschätzt und das Pfaffentum verabscheut –, doch er hatte sich wieder gefasst und souverän seine Rede gehalten.

»Wirst du als Testamentsvollstrecker viel zu tun haben?«

Victor trat ans Fenster, ließ den Blick über die Straße schweifen und nippte an seinem Kaffee.

»Keine Ahnung. Ich hab so was noch nie gemacht.«

Seine Tochter Charlotte, die eigens zu diesem Anlass aus Paris angereist war, und Marie, seine Ex, waren ihm ebenfalls eine unschätzbare Hilfe gewesen. Martin, der noch unter den Folgen eines Reitunfalls litt, wollte die Reise nicht riskieren, aber sie hatten über FaceTime miteinander gesprochen.

Tatsächlich hatte Martin seit Teds Tod regelmäßig angerufen, um zu erfahren, was es Neues gab. Diese Anrufe hatten ihm vor Augen geführt, wie sehr ihm sein Sohn fehlte.

Nadja kam zu ihm ans Fenster. Ihre schlanken Finger wanderten sein Rückgrat hinauf bis zu seinem Nacken.

»Und danach?«

»Ich werde damit anfangen, ein wenig Ordnung in Teds Sachen zu bringen.«

Nadja hätte ihn gern gefragt, ob er damit den Karton meinte, den ihm Albert in seiner Wohnung gezeigt hatte, in der sich nach der Beerdigung nahe Angehörige und Freunde versammelt hatten, bezähmte diesmal aber ihre Neugier. Tatsächlich hatte sie ihm schon einmal zu entlocken versucht, ob er ihn mit nach Hause gebracht hatte, doch er war nicht darauf eingegangen.

Drei Tage vor Teds Tod hatte Nadja, als sie ihn mit Victor im Pflegeheim besuchte, mehrere Minuten allein an seinem Krankenbett gesessen. Zwischen zwei Hustenanfällen hatte der alte Mann ihr anvertraut, was er Victor zu offenbaren beabsichtigte. »Du musst ihn im Auge behalten. Ich habe Angst, dass er Dummheiten macht.«

Nadja scheute sich, Victor davon zu erzählen und ihm zu sagen, dass sie versprochen hatte, auf ihn aufzupassen. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände.

»Wenn du jemals Hilfe brauchst …«

Er stellte seine Tasse aufs Fensterbrett und nahm sie in die Arme.

»Ich weiß. Danke.«

In einem Ton, der frei war von jedem Vorwurf, flüsterte sie ihm ins Ohr:

»Das Blut an deinem Hemd war nicht von einer Kundin, die sich an einem zerbrochenen Glas geschnitten hatte. Warum hast du mir nicht die Wahrheit gesagt? Warum hast du mir nicht von dem Mann erzählt, der sich im Casino umbringen wollte?«

Victor löste sich aus der Umarmung, ging zum Kühlschrank und öffnete ihn.

»Nach dem Mord an Lefebvre und Teds Tod erschien mir das nicht mehr wichtig.«

Er nahm eine Packung Grapefruitsaft heraus. Nadja ging ihm langsam nach.

»Du hast einem Mann das Leben gerettet, Victor. Noch dazu auf heldenhafte Weise. Warum muss ich das bei der Beerdigung von deinem Chef erfahren? War es dir nicht wichtig genug, um es mir zu sagen?«

Mit zerknirschter Miene setzte er den Saftkarton an die Lippen und trank einen Schluck. Nadja sah ihn zärtlich und mitfühlend an.

»Mir ist klar, dass jeder von uns seine Geheimnisse hat, aber das, worüber Ted mit dir gesprochen hat, bevor er gestorben ist …«

Victor starrte zu Boden. Er hätte sich ihr gerne geöffnet, doch er konnte nicht.

»Ich weiß, dass dir sein Tod sehr nahegeht. Ich weiß, dass er die letzte Verbindung zu deiner Vergangenheit war. Ich bin da, wenn du mich brauchst.«

»Lassen wir die Vergangenheit ruhen, Nadja. Ich habe keine Lust, darüber zu reden.«

Er bereute seine Worte, kaum dass er sie ausgesprochen hatte. Doch Nadja ließ sich nicht beirren.

»Ja, aber manchmal ist es besser zu reden, Victor. Es befreit, es tut gut.«

Er musste daran denken, was Ted gesagt hatte, bevor er auf den Mann zu sprechen kam, den er ausfindig gemacht hatte.

»Du fühlst dich für alles schuldig, Victor … Du weißt, warum, aber du hast das nie in Ordnung gebracht. Eines Tages wirst du nicht mehr darum herumkommen, dir den Tod deiner Mutter und deiner Brüder zu verzeihen. Dir zu verzeihen, dass du nicht da warst. Dich zu öffnen … dazu bereit zu sein, darüber zu sprechen.«

Victors Herz krampft sich zusammen.

»Manchmal habe ich Angst vor der Neigung zur Gewalt, die ich von meinem Vater geerbt habe.«

»Du hast immer rechtzeitig die Kurve gekriegt, Victor … Du hast immer gegen deine Dämonen angekämpft. Und trotz allem, was geschehen ist, ist aus dir ein besonderer Mensch geworden.«

Ted bekommt einen Hustenanfall, doch er spricht weiter.

»Du darfst nicht denken, dass eure gemeinsame Zeit vor der Tragödie nicht zählt. Du warst ein Kind, das geliebt wurde. Das ist ein Teil von dir. Du hast das Recht, darauf aufzubauen und glücklich zu sein.«

Victor bekommt feuchte Augen.

»Warum hat er nicht auch mich umgebracht? Warum war ich nicht zu Hause? Bin ich nur wegen eines Zufalls am Leben?«

Ted erwidert mit kaum hörbarer Stimme:

»Mit der Zeit bin ich zu der Einsicht gelangt, dass es kein Zufall gewesen ist.«

Die tröstenden Worte seiner Geliebten holten Victor in die Gegenwart zurück. Er schenkte sich noch einen Kaffee ein und setzte sich auf einen Hocker.

»Du wirst dich nicht ewig davor drücken können. Irgendwann wirst du tief in dich eintauchen müssen. In deine frühesten Erinnerungen. Ich weiß, dass es Dinge gibt, die du nicht wiedersehen willst. Aber nur dort wirst du den Schlüssel finden.«

Verdutzt murmelte Victor:

»Den Schlüssel wofür?«

Nadja strich über seinen Dreitagebart.

»Den Schlüssel, der dir helfen wird, mit dem Geschehenen deinen Frieden zu machen, es hinter dir zu lassen.«

»Glaubst du wirklich, dass es diesen Schlüssel gibt?«

»Es muss ihn geben, Victor. Sonst wirst du dich dein Leben lang für etwas schuldig fühlen, für das du nichts kannst.«

Sie zögerte, dann wagte sie einen Vorschlag.

»Ich habe mir gedacht, wir können zu dem Haus deiner Kindheit fahren. Vielleicht wirst du dich dort an Dinge erinnern, die dir helfen, ihn zu finden, besagten Schlüssel.«

Victor schüttelte den Kopf. Es kam für ihn nicht infrage, an den Schauplatz der Tragödie zurückzukehren. Nadja legte ihre Hand auf seine.

»Ich muss jetzt los. Wir hören später voneinander.«

Victor stand auf, beugte sich zu ihrem Hals hinab und drückte ihr dort einen Kuss auf. Er sog ihr Parfum ein, diesen Duft, der sein Verlangen weckte und seine Ängste besänftigte.

Auch wenn er es nicht fertigbrachte, sich in Bezug auf den Tod seiner Eltern zu öffnen, so hatte er doch eine Gewissheit: Er liebte diese Frau mehr als sein Leben und konnte sich ohne sie an seiner Seite nicht vorstellen. Ihr Gesicht war das, was er auch weiterhin morgens als Erstes sehen wollte.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, drehte sich Nadja um und lächelte ihn im Morgenlicht an, mit diesem Lächeln, das die Welt aus den Angeln hob und der harten Realität einen Sinn verlieh.

In die Fluten der Dunkelheit

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