Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 26

20. Das Gewicht jeder Sekunde

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Das Restaurant war leer. Victor wusste, dass jetzt, vor Beginn des Mittagsgeschäfts, die Küche noch geschlossen war, und dennoch verwunderte es ihn, dass der Kellner nicht da war. Er folgte dem von Tischen mit rot-weiß karierten Tischtüchern gesäumten Gang und gelangte an eine schicke Theke, über der in einem Glasregal Flaschen mit Hochprozentigem standen, die sich in einer Spiegelwand spiegelten.

Der hintere Bereich des Gastraums war zweigeteilt. Links ging es in einen breiten Korridor, der zur Küche führte, rechts zu den Toiletten, wie ein Schild an der Trennwand verriet: Tualet.

Victor ließ sich von der Stimme Komarovs führen, die gedämpft an sein Ohr drang. Dieser redete in einer Sprache, von der er annahm, dass es Russisch war. Er spitzte die Ohren, als er sich der Tür näherte. Den Sinn der Worte verstand er zwar nicht, doch am Ton merkte er, dass Komarov auf seinen Gesprächspartner wütend war. Er dachte an die Nachricht, die der Russe draußen am Tisch erhalten hatte.

Komarov verstummte, und für einen kurzen Moment fragte sich Victor, ob ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hatte. Dann erschütterte ein dumpfer Schlag die Trennwand. Offensichtlich nahm das Telefonat einen Verlauf, der dem Russen missfiel, und er hatte seinen Ärger darüber an der nächstbesten Wand ausgelassen.

Dann begann der alte Freund seines Vaters zu brüllen. Victor hörte ihn klar und deutlich.

»Ne moschjet byt! Eto ty jemu skasal! (…) Ne bylo wybora u tebja, skotina? On nitschewo ne snajet! (…) Schto?! Skolko u menja wremeni?!« – »Das gibt’s doch nicht! Du hast es ihm gesagt! (…) Was Besseres ist dir nicht eingefallen, du Arschloch?! Er weiß gar nichts! (…) Was?! Wie viel Zeit habe ich noch?!«

Um nicht dabei ertappt zu werden, wie er an Türen lauschte, machte Victor, dass er zum Ausgang kam. Draußen blendete ihn das Licht. Die Augen mit der Hand beschirmend, kehrte er auf seinem Platz zurück und wartete, wobei er die Tür im Auge behielt.

Komarov glänzte weiter durch Abwesenheit. Victor wollte gerade wieder aufstehen, um nach ihm zu sehen, als plötzlich die Tür des Restaurants aufschwang, der Russe herausstürzte und, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, mit einer für sein Alter verblüffenden Schnelligkeit und Agilität zur Treppe stürmte.

Victor brauchte nur eine Sekunde, um zu entschlüsseln, was er im Gesicht des Russen las. Es war nicht Angst, sondern schiere Panik. Dann schien das Tageslicht ins Flackern zu geraten und in sich zusammenzufallen.

Wie aus dem Nichts kam ein schwarzer Van angerast, bremste mit quietschenden Reifen vor dem Lokal und stellte sich diagonal zur Straße, sodass er den Verkehr blockierte.

Noch bevor der Wagen ganz zum Stehen kam, ging die zur Terrasse weisende Seitentür auf, und drei Männer in Kampfanzügen sprangen heraus, mit Helmen, Sturmhauben, schusssicheren Westen und Maschinenpistolen. Im nächsten Moment brach ein infernalischer Lärm los. Mit kühler Routine nahmen sie alles unter Beschuss, was sich vor ihnen in Augenhöhe befand.

Der Geschosshagel traf Komarov in vollem Lauf, als er die Treppe hinunterrannte. Stummes Entsetzen verzerrte sein Gesicht. Sein von Kugeln durchsiebter Körper taumelte einen Moment lang wie ein betrunkener Tänzer und stürzte dann auf den Gehweg, wo er leblos und mit verdrehten Gliedern liegen blieb.

Und während das Blut des Russen in Strömen floss, richtete die Todesschwadron das Feuer auf die Fassade des Restaurants bis hinüber zur Terrasse. Blumentöpfe und Fensterscheiben zerbarsten, Glas-, Holz- und Steinsplitter flogen nach allen Seiten.

In unserem heutigen Leben vergeht die Zeit wie im Flug, bordet über und verwandelt die Menschen in hirnlose Automaten, die blindlings umherrennen, ohne zu wissen, wohin, und weniger an der einzuschlagenden Richtung interessiert sind als vielmehr daran, einfach weiterzurennen.

Doch manchmal tritt ein Ereignis ein – in der Regel ein Drama oder eine Tragödie –, das uns das Gewicht jeder Sekunde bewusst macht und eine Zwischenwelt schafft, in der sich die Raumzeit ausdehnt und die Zeit plötzlich im Schneckentempo dahinkriecht, in der sich jede Millisekunde wie ein Tropfen dehnt, der vom Wasserhahn fällt.

Und während dieses endlos langen Wimperschlags, wenn unser Leben in einem dunklen, modrigen Wartezimmer, dem wir um jeden Preis zu entrinnen trachten, in der Schwebe hängt, träumen wir davon, zur Herde zurückzukehren und den Wettlauf nach Nirgendwo wiederaufzunehmen.

In dieser Millisekunde, in der die Zeit stehen geblieben war, hatte eine Frau angefangen zu schreien und wild zu gestikulieren, um einen Jugendlichen zu warnen, der, Kopfhörer auf den Ohren und in seine Musik vertieft, mitten in die Schießerei hineinlief.

Ein Mann war wie erstarrt stehen geblieben und hatte seine Einkaufstüten auf den Asphalt fallen lassen. Dann machte die Zeit wieder von ihrem Recht Gebrauch, und das Karussell drehte sich weiter: Überall begannen die Menschen zu rennen, um Zuflucht zu suchen.

Victors Körper hatte instinktiv reagiert, noch bevor sein Verstand die Situation erfasste, und einen Hechtsprung nach links gemacht. Jetzt kauerte er hinter einem Tisch, den er umgeworfen hatte und als Deckung nutzte, und versuchte das Zittern, das ihn befallen hatte, unter Kontrolle zu bringen.

Er musste sich schleunigst in Sicherheit bringen. Wenn er hier blieb, würde er in den nächsten Sekunden sterben. Doch es war ihm unmöglich, über die Terrasse ins Restaurant zu rennen, ohne getroffen zu werden. Er sah die Geschosse gegen den Eingang prasseln.

Seine nächste Aktion konnte seine letzte sei, aber er wollte nicht abtreten, ohne alles versucht zu haben. Obwohl er wusste, dass sein Bein ihn behindern würde – er war vor Jahren während einer Ermittlung angeschossen worden –, machte er sich bereit, über die Holzbrüstung der Terrasse zu springen. Er hoffte, unverletzt den Durchgang zu erreichen, der das Restaurant vom Nachbarhaus trennte.

Ihm blieb nur die eine Option: Flucht.

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