Читать книгу In die Fluten der Dunkelheit - Martin Michaud - Страница 18

13. Der Gang durch die letzte Tür

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Victor blieb wie erstarrt vor der Tür stehen, außerstande, sie zu öffnen. Er fürchtete sich davor einzutreten und mit der Vergänglichkeit konfrontiert zu werden, mit der Zeit, die verrinnt und die man aufzuhalten versucht. Vor allem aber wollte er sich nicht mit dem Schicksal des Mannes abfinden, den er so geliebt hatte und der für ihn seine wahre Vaterfigur war.

Sein Vater hatte seine Mutter und seine beiden Brüder getötet und sich anschließend selbst das Leben genommen. Victor war später als gewöhnlich nach Hause gekommen und deshalb knapp dem Blutbad entgangen. Ted war als erster Polizist am Schauplatz der Familientragödie eingetroffen und hatte sich nach der grausigen Entdeckung seiner angenommen. Daraus war ein untrennbares Band zwischen ihnen entstanden.

Ted war sein Mentor geworden, als er seine ersten Schritte auf der Polizeischule machte. Und als Victor zum Ermittler befördert wurde, hatten sie im Dezernat Kapitalverbrechen als Partner zusammengearbeitet, bis Ted in den Ruhestand ging.

Mit klopfendem Herzen und zitternder Hand griff Victor nach dem Türknopf. Teds Gesundheitszustand hatte sich plötzlich verschlechtert. Albert, sein Lebensgefährte seit dreißig Jahren, hatte Victor angerufen, nachdem Virginie gegangen war.

Victor hatte es zunächst abgelehnt, sich von Nadja begleiten zu lassen, doch mit einem Feingefühl, das sonst gar nicht ihre Art war, hatte Jacinthe die Frage entschieden.

»Ihr könnt unseren Wagen nehmen, mein Bester.«

Seine Geliebte hatte am Steuer gesessen und unterwegs kein Wort gesprochen, ihre Hand aber auf seine gelegt, und das hatte ihn getröstet, während sie mit heulender Sirene über rote Ampeln fuhren.

Nach der Ankunft im Pflegeheim war Nadja bei Albert in einem der kleinen Schlafräume geblieben, die Angehörigen zur Verfügung standen. Albert hatte sich bereits von Ted verabschiedet, der ihm das Versprechen abgenommen hatte, seinen letzten Stunden nicht beizuwohnen, da er ihm anders in Erinnerung bleiben wollte.

Schon seit Wochen wechselten sie sich an seinem Krankenbett ab. Und wenn es Victor auch nicht wahrhaben wollte: Ted hatte sich der Ziellinie so weit genähert, dass das Ende diesmal unabwendbar war.

Er holte tief Luft, drehte den Türgriff und versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Er brachte nur eine Grimasse zustande, die sofort erstarb, als er eingetreten war.

Teds hinfälliger Körper lag, zu schwach und zu abgemagert, in einem zu weißen Bett. Die Lichter der Stadt schimmerten durch die Vorhänge und warfen formlose Schatten an die Wände des Zimmers. Das Rauschen des Verkehrs auf dem Boulevard René-Lévesque und die Sirenen der Krankenwagen, die sich einen Weg durch die Blechlawine bahnten, drangen leise von unten herauf.

Auch Montréal starb mit jedem Tag mehr, ging unter der erdrückenden Last der Bauarbeiten, die es eigentlich wiedererstehen lassen sollten, zusehends in die Knie.

Victor näherte sich Ted und sank auf den abgenutzten Stuhl, der neben dem Bett stand. Er tastete unter der Decke nach Teds Hand.

Der alte Mann schlug in dem Augenblick die Augen auf, als Victor seine eiskalten Finger drückte. Ted räusperte sich.

»Ich muss … ich muss … mit dir sprechen …«

Seine Stimme klang so heiser, als hätte er seit Jahren kein Wort mehr gesprochen.

Victor lächelte beruhigend.

»Ruh dich aus. Wir reden später.«

Der alte Mann schüttelte den Kopf und sah ihn aus fiebrigen Augen fest an.

»Nein, ich muss … ich muss jetzt mit dir sprechen … Ich hätte es … schon … längst tun sollen.«

Er holte fast nach jedem Wort Luft. Victor machte eine beschwichtigende Geste, doch Ted wurde immer erregter.

»Es … es betrifft deinen … Vater. Henri …«

Victor schüttelte den Kopf. Sie hatten nie über ihn gesprochen oder so gut wie nie. Wozu Erinnerungen aufrühren, über die sich die Zeit gelegt hatte? Und warum jetzt? Wieder bat er Ted, seine Kräfte zu schonen, doch der warf ihm einen solchen Blick zu, dass er verstummte.

Dann erzählte ihm Ted mit zitternder Stimme, was ihm auf der Seele lag, wobei es schien, als müsste er sich jedes Wort unter unsäglichen Qualen abringen. Victor tupfte ihm mit einem Handtuch die schweißbedeckte Stirn ab, ohne ihn zu unterbrechen.

Als Ted fertig war, verharrte er einen Moment schweigend und röchelte.

»Ich hoffe, du bist mir nicht böse, mein Junge. Sei auf der Hut …«

Er richtete sich im Bett auf und stieß einen langen Seufzer aus. Und in der Sekunde, die sein Kopf brauchte, um ins Kissen zurückzusinken, glaubte Victor zu sehen, wie das Leben aus den vor Erstaunen geweiteten Augen wich.

Mit hängendem Kopf blieb er neben dem Toten sitzen und stemmte sich gegen den dumpfen Schmerz, der sein Inneres zusammenpresste.

Das war’s. Ted war tot. Und selbst wenn der alte Mann gewusst hatte, dass der Tod nah war, so hatte er ihn mindestens einen Augenblick früher geholt, als er erwartet hatte.

Mit den Fingern schloss Victor dem Toten die Augen.

»Ich liebe dich, Papa.«

Er hatte diese Worte wie eine Hommage gesprochen. Es war das erste Mal, dass er ihn so nannte, und es sollte das letzte Mal sein. Worte waren zwischen ihnen immer überflüssig gewesen. Ted hatte auch so gewusst, was er Victor bedeutete.

Victor stand auf, trat ans Fenster und zog die Vorhänge halb auf. Fußgänger schlenderten auf der Straße vorüber, Telefone in der Hand, als hinge das Schicksal der Welt davon ab. Sein Hals schnürte sich zu, seine Augen verschleierten sich, und eine Sekunde lang dachte er, ihm würden Tränen kommen.

Nadja lief Victor entgegen, als er auf den Flur trat. Er nickte ihr zu. Sie drückte ihn an sich. Doch er war, die Augen weit offen, mit den Gedanken woanders. Er hörte noch einmal das Geständnis, das ihm Ted Minuten zuvor gemacht hatte.

»Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, weil ich nicht das Recht hatte, die Wunde wieder aufzureißen. Es musste von dir ausgehen … Doch als du neulich abends deinen Vater erwähnt hast, ist mir klar geworden, dass ich nicht länger schweigen darf. Ich habe keine andere Wahl: Ich muss ehrlich zu dir sein, ich muss dir die Wahrheit sagen.«

Jedes Wort, das Ted unter übermenschlicher Anstrengung hervorbrachte, hatte Victor förmlich durchbohrt.

»Vor längerer Zeit habe ich mir noch einmal die Akte über die Familientragödie vorgenommen. Ich weiß, ich hätte mit dir darüber reden müssen. Aber wann hätte ich das tun sollen? Als du fünfzehn Jahre alt warst? Achtzehn? Es gab nie den richtigen Moment. Du warst dabei, ein neues Leben zu beginnen. Und später, als du angefangen hast darüber hinwegzukommen, habe ich mir gedacht, dass es besser für dich wäre, das Vergangene ruhen zu lassen.«

Ted hatte noch einmal Atem geschöpft, bevor er die bedeutungsvollen Worte ausgesprochen hatte.

»Vor einigen Jahren habe ich jemanden ausfindig gemacht, der deinen Vater gekannt hat, Victor. Aber er hat es abgelehnt, mit mir zu sprechen. Ich besaß bei der Polizei keinen offiziellen Status mehr …«

Er hatte mit sarkastischer Miene an seinem sterbenden Körper hinabgesehen.

»Aber vielleicht mit dir, wenn du es versuchst …«

Victor hatte ihm die Hand gehalten und geholfen, sich aufzusetzen.

»Ich hoffe, du bist mir nicht böse, mein Junge. Sei auf der Hut …«

Bevor er seinen letzten Atemzug tat, hatte Ted ihn ein letztes Mal gewarnt. Und er würde nie erfahren, wovor. »Sei auf der Hut …«

Victor legte Nadja den Arm um die Schultern. Sie gingen schweigend in das Zimmer, in dem Albert wartete. Als Victor ihn sah, in sich zusammengesunken, das Gesicht tränenüberströmt, wurde der Schmerz unerträglich, und auch seine Augen füllten sich endlich mit Tränen.

In die Fluten der Dunkelheit

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