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11. Die Linie Orange

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Zweiundfünfzig Minuten nach dem Mord

Messiah hastet durch die zahlreichen Gänge von Montréals Untergrundstadt. Ohne das Tempo zu drosseln, behält er das Display seines Telefons im Blick, auf dem mit Unterbrechungen das GPS-Signal aufleuchtet, und sucht gleichzeitig mit den Augen das Innere der Läden ab, mustert im Vorbeigehen die Gesichter, lauert auf verdächtiges Verhalten, Anzeichen ungewöhnlicher Nervosität, allzu bemühte oder übertriebene Bewegungen, die ihm die Chance eröffnen, sein Opfer auszumachen.

Er hat weder ein Bild noch eine Beschreibung der Person, hinter der er her ist, aber das spielt keine Rolle. Seiner Beobachtungsgabe entgeht nicht das kleinste Detail, und sein Instinkt lässt ihn selten im Stich. Er wird die gesuchte Person erkennen, wenn er sie vor sich hat.

Sein Ohrhörer knistert in dem Moment, als er die Tore zur Metro durchschreitet.

»Noch immer kein Signal?«

Black Dog rollt mit dem Pick-up langsam auf eine Kreuzung zu und sucht die Straßen mit den Augen nach einem Anhaltspunkt oder Hinweis ab. Messiah antwortet mit einem schroffen Nein, als sein Telefon plötzlich einen Ton von sich gibt. Er blickt auf das Display und bemerkt, dass das GPS-Signal wieder leuchtet.

»Er ist ganz in der Nähe!«

Messiah legt einen Zahn zu, hütet sich aber, in Laufschritt zu fallen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Mit dem Ziel, in der Menge auf dem Metrobahnsteig unterzutauchen, setzt sich die junge Frau auf die Bank, die am weitesten von der Treppe entfernt ist. Neben ihr stehen drei Omas mit Einkaufstrolleys und schwatzen.

Nervös legt sie sich Lefebvres Laptop auf die Knie und sieht nach, wie weit der Download gediehen ist: noch über zwölf Minuten. Eine Computerstimme aus dem Bahnsteiglautsprecher meldet die Einstellung des Schienenverkehrs auf der Linie Orange wegen eines Unfalls.

Die Frau wirft einen Blick auf die elektronische Anzeigetafel. Die Ankunftszeit des nächsten Zuges ist verschwunden. Angst befällt sie, ihre Gedanken überschlagen sich. Um sie herum pulsiert das Leben Montréals und seiner Bewohner, doch sie kommt sich vor wie in einer Welt fernab der Realität, als hätte es sie unter die letzten Spukgestalten einer Geisterstadt verschlagen. Sie hat das Gefühl, dass alle sie beobachten, dass alle Bescheid wissen und dass in wenigen Sekunden der Mörder auftauchen und sie niederschießen wird.

Um sich darin zu bestärken, trotz der Gefahr weiterzumachen, liest sie sich zum wiederholten Male die letzten E-Mails durch die Lefebvre kurz vor seinem Tod mit den Mördern ausgetauscht hat.

NEWWORLD: WENN DU REDEST, TÖTEN WIR DEINE TOCHTER, DANN DEINE MUTTER.

GLEF: VERSTANDEN. WAS WOLLT IHR NOCH?

NEWWORLD: DEN BEWEIS, DASS DU ALLE KOPIEN VERNICHTET HAST.

GLEF: HABT IHR DOCH NACHGEPRÜFT! ICH HABE ALLES GELÖSCHT!

NEWWORLD: ES GIBT NOCH EINE KOPIE, DIE WIR NICHT LÖSCHEN KÖNNEN …

Guillaume Lefebvre hatte diese Worte gerade gelesen, als seine Brust explodierte und die letzte Kopie zerstört wurde. Die, die in seinem Gedächtnis gespeichert war.

Die junge Frau ballt die Fäuste, bleich vor Empörung und unterdrückter Wut. Dann beginnt sie am Laptop eine Nachricht zu tippen. Und während die Stimme aus dem Lautsprecher die Wiederaufnahme des Fahrbetriebs meldet, ist in der Ferne ein Dröhnen zu vernehmen, das immer lauter wird. Sie stößt einen Seufzer der Erleichterung aus: Gleich wird der Triebwagen der Metro mit seinen glühenden Augen aus dem Tunnel auftauchen.

Messiah steigt die Stufen hinunter und tritt ein paar Schritte auf den Bahnsteig hinaus. Er ist dem Ziel nahe, er spürte es tief in seinem Inneren, in seinen Eingeweiden. Die Augen noch hinter der Sonnenbrille verborgen, sucht er die dicht gedrängte Menge der Fahrgäste ab, trifft eine Auswahl, macht mögliche Kandidaten ausfindig, sondert die anderen aus. Dann legt er die Stirn in Falten: Ganz hinten am Bahnsteig gegenüber ist eine dunkelhäutige, junge Frau in sein Blickfeld geraten. Etwas abseits tippt sie auf einem Laptop, der auf ihren Knien liegt. Messiah eilt in Richtung Treppe, um über die Überführung auf die andere Seite zu gelangen.

Mit trotziger Miene schickt die Frau die Nachricht ab, die sie getippt hat. Im selben Moment ist der Download abgeschlossen. Sie steckt die externe Festplatte aus und wirft sie in ihren Rucksack. Dann schiebt sie den Laptop unauffällig unter die Bank.

Und plötzlich ist der Moment da, vor dem sie sich gefürchtet hat. Als hätte ihr das Gewicht des Blicks, der auf sie fiel, seine Anwesenheit verraten, bemerkt sie aus dem Augenwinkel einen Mann in Shorts und Sportjacke, der die Treppe am anderen Ende des Bahnsteigs herunterkommt und sie dabei unverwandt anstarrt.

Sie zieht den Kopf ein und stülpt sich wieder die Kapuze über. Sie weiß, dass er Bescheid weiß. Sie steht auf, ergreift den Rucksack und schlüpft zwischen die anderen Fahrgäste, um sich vor ihm zu verbergen. Die Menge, die wegen der Unterbrechung des Fahrbetriebs noch dichter geworden ist, drängt sich an der orange gestrichelten Linie. Räder quietschen auf den Gleisen. Die ersten Wagen kommen auf ihre Höhe.

Der Zug bremst mit ohrenbetäubendem Kreischen, wird langsamer und bleibt stehen. Die Türen gehen auf. In mehreren Wellen steigen Leute aus. Sobald sie im Zug sitzt, wagt sie einen Blick zu dem Mann. Er ist noch auf der Treppe und versucht sich durch die Menge zu zwängen, die ins Freie strebt.

Ihre Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Bis zum letzten Moment fürchtet sie, dass er noch rechtzeitig einen Wagen erreicht. Es kommt ihr wie eine Ewigkeit vor. Dann endlich schließen die Türen, und der Zug setzt sich in Bewegung.

Messiah sieht ein, dass seinen Bemühungen aussichtslos sind, und bleibt mitten im Menschenstrom stehen.

Der Zug nimmt Fahrt auf, und der Wagen, in den sich die Frau geflüchtet hat, rollt an ihm vorbei. Sie möchte das Gesicht abwenden, doch ihr Blick wird von seinem magisch angezogen. Bevor der Wagen vorbei ist, macht er mit dem Handy ein Foto von ihr. Dann verschwindet der Zug im Tunnel. Messiah geht zu der Bank, auf der die Frau gesessen hat, bückt sich und zieht den Laptop darunter hervor.

In dem Wagen, der in voller Fahrt durch den Bauch der Erde rast, saugt sie gierig Luft in ihre Lunge wie eine Ertrinkende, die in letzter Sekunde an die Wasseroberfläche gelangt ist. Trotzdem dauert es noch mehrere Stationen, bis die Angst, die in ihren Eingeweiden wühlt, langsam nachlässt.

Den Laptop unter dem Arm, eilt Messiah zur Treppe zurück und die Stufen hinauf. Als er oben ins helle Tageslicht tritt, knackt es in seinem Ohrhörer.

Black Dogs Stimme meldet sich.

»Wir haben eine E-Mail von Lefebvres Computer bekommen. Sie lautet: Es gibt noch eine Kopie, und ich werde sie vor dir finden, du Arschloch.«

Messiah lädt das Foto der Frau auf seinem Telefon hoch und betrachtet es lange mit undurchdringlicher Miene. Dann kopiert er es in eine Liste von Personen, die er zu einer Gruppe namens Todesliste zusammengefasst hat.

In die Fluten der Dunkelheit

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