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6. Erdkrümmung und andere Parameter

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Anfangs erschien ihr die Theorie fraglich. Da sie jedoch dazu neigte, in den Ereignissen stets das Resultat einer gewissen praktischen Logik zu sehen, zermarterte sich Jacinthe weiter das Hirn und versuchte der von Victor angesprochenen Möglichkeit ein Körnchen Wahrscheinlichkeit abzugewinnen.

»Entschuldige, aber anderthalb Kilometer, das ist doch echt weit.«

Er stand reglos bei Lefebvres Leiche. Obwohl ihn der Anblick anwiderte und er am liebsten auf den Korridor geflüchtet wäre, zurück an die frische Luft, zwang er sich hinzusehen, um die ganze Sinnlosigkeit dieses zerstörten Lebens zu ermessen.

»Den Rekord für den weitesten Schuss hält ein kanadischer Soldat: dreitausendvierhundertfünfzig Meter, auf einen IS-Kämpfer. Die Kugel flog zehn Sekunden, bevor sie ihr Ziel traf.«

Jacinthe stöhnte.

»Okay, aber ab einer bestimmten Entfernung sinken doch die Chancen. Es dürfte nicht sehr viele Leute geben, die in der Lage sind, ein bewegliches Ziel aus über einem Kilometer Entfernung zu treffen. Mit dem Wind und so.«

»Das ist wirklich eine Wissenschaft für sich. Man muss mehrere Parameter berücksichtigen: Temperatur, Luftdruck, Schwerkraft, Erdkrümmung, Standort der Zielperson, die Eigenschaften von Waffe und Munition …«

Jacinthe verzog scheinheilig das Gesicht.

»Genau das meine ich doch, wenn ich ›und so‹ sage.«

Er grinste.

»Ich verstehe! Das ist, als ob du ›und so weiter‹ gesagt hättest.«

Sie schwankte zwischen Belustigung und Verärgerung.

»Jedenfalls sind mir Parameter und Rekorde egal. Mich interessiert nur unser Mörder.«

Victor lehnte sich gegen die Glaswand und blickte zu der Masse von Bäumen auf dem Mont Royal.

»Wir reden hier nicht von nur einem Schützen, sondern von einem Team. Denn um aus dieser Entfernung ein bewegliches Ziel durch eine Glasscheibe zu treffen, brauchst du einen Beobachter, der dich mit den Parametern füttert.«

Jacinthe trat neben ihn und sah ihn ungläubig an.

»Moment mal, Lessard. Wenn da ein Beobachter dabei war, dann handelt es sich nicht nur um einen Mord, sondern um ein Mordkomplott. Ist dir das klar?«

Victor fuhr sich mit der Hand durchs dichte Haar.

»Moment, nur damit wir uns richtig verstehen. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, dass das Sniper-Nest auf dem Mont Royal war. Ich sage nur, dass es keine sechsunddreißig anderen Möglichkeiten gibt.«

»Du sagst aber auch, dass wir bei einer solchen Entfernung nicht nach Leuten wie meinen Onkel Gérard und seinen Schwager suchen, die sonntagmorgens Rehe jagen.«

Eine Antwort darauf erübrigte sich. Sie überlegten eine Weile.

»One shot, one kill. Die Arbeit eines Profis … Meinst du, das sind ehemalige Soldaten?«

Victor zuckte gereizt mit den Schultern.

»Nicht unbedingt. Zunächst einmal gilt es die Stelle zu finden, wo sie im Hinterhalt gelegen haben. Ist sie über einen Kilometer entfernt, bekommst du eine Vorstellung davon, wen du suchst und was für eine Ausrüstung er benutzt hat.«

Jacinthe ließ diese Auskunft sacken, dann fing sie an, auf ihrem Handy zu tippen.

»Wir werden trotzdem nicht drum herumkommen, in unseren Akten zu wühlen und eine Liste vorbestrafter Soldaten und Veteranen zu erstellen. Mit einem Schwerpunkt auf Scharfschützen.«

Victor machte, seine Worte sorgfältig abwägend, einen weitergehenden Vorschlag.

»Dasselbe solltest du mit den Scharfschützen von Polizei und Gendarmerie machen.«

Jacinthe hob den Kopf und nickte, obwohl ihr die Vorstellung nicht sonderlich behagte.

»Aber warum Lefebvre auf diese Weise umbringen? Normalerweise versuchst du doch, so nahe wie möglich an dein Opfer heranzukommen, oder?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, sprach sie weiter.

»Schließlich war er Journalist und kein Gangsterboss, der von Leibwächtern beschützt wird. Warum ihm nicht auf einem Parkplatz in Laval eine Kugel in den Kopf jagen?«

Die Stimme, mit der Victor antwortete, klang wie ein sanftes Pusten in die Glut.

»Weil sie es konnten …«

Sie sah ihn an, bemüht, die Tragweite seiner Antwort zu ermessen.

»Willst du damit sagen, dass …«

»Das war kein gewöhnlicher Mord. Das war eine Machtdemonstration. Ihr werdet euch mit Lefebvres Arbeit befassen müssen. Womit hat er sich zuletzt beschäftigt?«

Sie wusste, dass er recht hatte, und dennoch sträubte sich etwas in ihr dagegen. Sie zog die Schultern hoch und wartete ab.

Er fuhr fort.

»Und wenn ihr seinen Computer nicht findet, kann das bedeuten, dass ihn jemand mitgenommen hat.«

»Vor dem Mord?«

Jacinthe stutzte, dann begriff sie.

»Oder jemand, der alles gesehen hat …«

Sie tauschten einen langen Blick. Es war klar, was aus einer solchen Hypothese zu folgern war: Wenn jemand den Mord an Lefebvre mitangesehen hatte, dann war er jetzt in Gefahr.

In die Fluten der Dunkelheit

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