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18. Anschlusssache

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Jacinthe trat in Paul Delaneys komplett verglastes Büro, um ein Post-it mit der Nachricht »Schau bei mir vorbei« an den Bildschirm seines Computers zu kleben. Der Raum, vom düsteren Grau des Tages nur schwach erhellt, war leer. Zumindest glaubte das Jacinthe, die fast der Schlag traf, als der Chef des Dezernats Kapitalverbrechen auf allen Vieren unter seinem Schreibtisch hervorgekrochen kam.

»Mann, Paul! Hast du mich erschreckt. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du in deinem Aquarium bist. Willst du, dass ich dich erschieße?«

Mit geschäftiger Miene befestigte er etwas am Boden, was Jacinthe nicht sehen konnte, und streckte ihr dann die Hand hin, ohne sich umzudrehen. Sein von Aknenarben zerfurchtes Gesicht triefte vor Schweiß.

»Tag, Jacinthe. Reich mir mal den Schraubenzieher. Er liegt gleich da, neben der Maus.«

Sie legte ihn in seine offene Hand.

»Kannst du mir sagen, was du da unten treibst?«

Delaney tauchte wieder unter den Tisch ab.

»Ich mache die Verkabelung neu. Alles läuft auf demselben Stromkreis. Die Scheißsicherung springt jedes Mal raus, wenn ich den Ventilator einschalte.«

Jacinthe starrte ihn an, so wie man einen Raucher anstarren würde, der sich in einer Kinderkrippe eine Zigarette ansteckte.

»Lass sofort die Finger davon. Du bist kein Elektriker!«

»Wer das angeschlossen hat, war garantiert auch keiner. Wolltest du mit mir reden?«

»Ich habe die Analyseergebnisse gekriegt.«

Victors Vermutungen hatten sich bestätigt. Anhand der Einschusslöcher in Lefebvres Wohnung hatten die Ballistiker mittels Triangulation die Flugbahn des Projektils berechnet und waren zu dem Ergebnis gelangt, dass der Schuss vom Hügel aus abgefeuert worden war.

Angeführt von Jacinthe, Loïc und Nadja hatten die Techniker von der Spurensicherung das Scharfschützennest ausfindig gemacht. Es lag an einem steilen Hang des Mont Royal, und zwar in einem bewaldeten, schwer zugänglichen Abschnitt jenseits der Spazierwege. Polizisten und Hundeführer hatten die Umgebung gründlich durchkämmt.

Wieder drang Delaneys Stimme gedämpft unter dem Tisch hervor.

»Und der Inuksuk?«

Abgesehen von Stiefelabdrücken, von denen sie Abgüsse gemacht hatten, um den Hersteller zu ermitteln, war das Nest vor ihrem Eintreffen gründlich saubergemacht worden: keine Patronenhülse auf dem Boden, keine Spucke, kein Kaugummi, keine Zigarettenkippe, nichts, was DNA-Spuren hätte enthalten können, auch keine Speise- oder Getränkereste.

Nichts bis auf ein Objekt, das die Schützen offenbar ganz bewusst zurückgelassen hatten, damit die Ermittler es fanden: einen Haufen blauer, ins Violette spielender Steine.

Jacinthe zog ein Notizbuch aus ihrer Cargohose und blätterte darin.

»Bei den Steinen handelt es sich um Lapislazuli. Eine Art Mineral, das zu Schmuck verarbeitet wird. Die wichtigsten Minen liegen in Afghanistan. Im Mittelalter hat man ihn zermahlen und mit Milch getrunken. Anscheinend zur Stärkung der Glieder und um den Geist vor Angst und Neid zu schützen.«

Mit skeptischem Blick schaute sie von ihren Notizen auf.

»Kein Wunder, dass sie damals nicht sehr alt geworden sind.«

Der Dezernatschef tauchte wieder auf.

»Aber die Steinfigur«, sagte er nachdenklich, »der Inuksuk selbst, der ist doch sicher symbolisch gemeint.«

»Jedenfalls eher, als wenn sie Legosteine hinterlassen hätten, das ist mal sicher. Glaubst du, der Täter ist Indianer oder Inuit?«

»Was weiß ich! Für die hat es bestimmt etwas zu bedeuten, nur was? Soweit ich weiß, haben die Inuit mit solchen Inuksuit Karibus angelockt, bevor sie zu ihrem kulturellen Symbol wurden.«

Jacinthe steckte die Nase wieder in ihre Notizen.

»Und die Lage eines Dorfes oder ihr Territorium markiert.«

Delaney machte eine Pause und überlegte.

»Aber warum dazu ausgerechnet Steine benutzen, die von woanders herkommen? Was verbindet die Inuit mit Afghanistan?«

»Vielleicht ist es nur eine Art Totem … ein Ehrenmal für die Toten.«

»Die Mörder sollen den Inuksuk im Gedenken an Lefebvre zurückgelassen haben?«

Delaney sah Jacinthe zweifelnd an. Sie zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß, was du jetzt sagen willst: Ich rede wie Victor Lessard, stimmt’s?«

»Hast du seit der Beerdigung noch mal mit ihm gesprochen?«

»Mit Lessard? Warum sollte ich?«

Nicht so leicht hinters Licht zu führen, schüttelte er den Kopf und fummelte weiter an den Kabeln herum.

»Weil er dein Freund ist und du dir Sorgen um ihn machst, Jacinthe.«

»Lessard mein Freund? Da bist du auf dem Holzweg.«

Sie vernahm Schritte aus dem Ermittlerraum und drehte sich um.

»He, Kid, was gibt’s?«

Loïc Blouin-Dubois betrat den Raum. Er trug ein schwarzes, mit dem Konterfei Humphrey Bogarts bedrucktes T-Shirt, das seine tätowierten Arme entblößte, und band sich, einen Zettel zwischen den Lippen, gerade die langen blonden Haare zu einem Pferdeschwanz.

Jacinthe nahm ihm den Zettel ab, sodass er weiter auf seinem Kaugummi kauen konnte.

»Was ist das?«

»Das Labor bestätigt, was wir schon wussten: Die Kugel, die wir in Lefebvres Wohnung gefunden haben, hat das Kaliber .50.«

Sie seufzte und legte sich die flache Hand auf die graumelierten Haare.

»Und wir haben noch keinen Treffer in den nationalen ballistischen Datenbanken?«

Loïc verneinte. Delaneys Stimme drang unter dem Tisch hervor.

»Die Typen werden uns in Atem halten. Das sind Profis.«

Selbst wenn es gelingen sollte, eine Übereinstimmung zu finden, war es angesichts der Professionalität der Schützen wenig wahrscheinlich, dass sie ihnen auf die Spur kamen.

Doch wenn Jacinthe in all den Jahren, die sie zusammen mit Victor ermittelt hatte, etwas gelernt hatte, dann, dass man nie eine Spur vernachlässigen durfte, so dünn sie auch sein mochte.

Sie schob die Daumen in den Gürtel und zog ihre Cargohose hoch.

»Und was ist mit Lefebvres Handy? Haben sie es schon entsperrt?«

Loïc schüttelte den Kopf. Der Kaugummi beulte seine Backe aus.

»Wir treten auf der Stelle … Übrigens, in der Halle hat eine Journalistin auf dich gewartet.«

»Schwarze Haare, grüne Augen, feurige Lippen?«

Der junge Ermittler staunte.

»Ich weiß, wer sie ist. Virginie Tousignant.«

»Bitte Fernandez, schon mal mit ihr anzufangen. Ich komme, sobald ich hier mit Paul fertig bin.«

»Ich habe sie in den Konferenzraum geführt. Nadja ist noch nicht da.«

Jacinthe blickte auf ihre klobige Taucheruhr.

»Hmm … kaum anderthalb Monate im Dezernat und schon zu spät kommen … ts, ts, ts …«

Sie hatte beim Lästern gegrinst. Sie zwinkerte Loïc zu.

»Nicht übel, die kleine Virginie, was?«

Loïc pflichtete ihr mit einem verdutzten Nicken bei.

»Sie hat kaum Notiz von mir genommen.«

Jacinthe hieb ihm mit ihrer Pranke auf die Schulter, dass er meinte, in den Boden zu sinken.

»Nicht dein Fehler, Kid. Das liegt nur daran, dass du nicht Victor Lessard bist.«

Wieder meldete sich Delaneys Stimme aus den Tiefen unter dem Schreibtisch.

»Dafür, dass Lessard nicht dein Freund ist, beschäftigt er deine Gedanken aber ganz schön.«

Er tauchte wieder auf und wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Nur so nebenbei: Wenn ich merke, dass du einen Ermittler, der den Dienst quittiert hat, in einen neuen Fall miteinbezogen hast, gibt’s Ärger. Haben wir uns verstanden?«

Jacinthe verdrehte die Augen.

»Ja, Chef.«

Delaney kroch wieder unter das Möbel. Jacinthe grinste Loïc zu.

»He, nur so nebenbei: Man sieht deine Poritze, liebster Paul.«

Delaney tastete nach seinem oberen Gesäßansatz und stellte fest, dass die Hose ihn durchaus vollständig bedeckte.

»Und wie kannst du hier überhaupt arbeiten? Man sieht ja nichts!«

»Kein Licht machen. Die Sicherung ist noch drin.«

Delaneys Appell kam zu spät. Jacinthe hatte den Schalter bereits umgelegt. Die Deckenleuchte brutzelte, versprühte einen Funkenregen und erlosch.

Ein Brüllen brach unter dem Schreibtisch hervor, während sie vom Schauplatz des Verbrechens flüchtete.

»Jacinthe Taillon!«

Ein Feixen auf den Lippen, durchmaß sie ohne Hast den Raum der Ermittler.

»Ups … Tut mir leid, Chef.«

Und während sie auf den Konferenzraum zusteuerte, ahnte sie mehr, als dass sie es hörte, wie Delaney ihr einen Schwall von Verwünschungen hinterherschleuderte.

Sie kam an der Plexiglastafel vorbei, an der die Ermittler gewöhnlich die wichtigsten Fakten der laufenden Untersuchung zusammentrugen. Jetzt hingen dort Fotos vom Tatort, vom Scharfschützennest auf dem Hügel und dem Inuksuk, den man dort entdeckt hatte.

Außerdem hatte Jacinthe ein Foto von Emma angebracht, der Tochter Guillaume Lefebvres. Um alle daran zu erinnern, für wen sie ihre Arbeit machten und wofür. Um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sie hätte es nie zugegeben, nicht einmal unter Zwang, doch zwischen Emma und ihr hatte sich ein stummes Zwiegespräch entsponnen. So stellte sie sich jeden Morgen, bevor die Kollegen kamen, vor das Bild des Mädchens und versicherte ihm, dass sie es nicht vergessen würden. Sie beide, sagte sie, stünden auf derselben Seite, und zwar auf der Seite der Menschen, die niemals kapitulierten, auch nicht vor den Ausgeburten eines kranken Hirns.

Virginie stand, als Jacinthe den Konferenzraum betrat. Sie hatte die Haare zu einem Knoten gebunden, trug ein Outfit, das schick und lässig zugleich war, und wirkte angespannt. Die Ermittlerin brauchte nicht nach dem Grund ihres Besuches zu fragen.

»Ich bin da vielleicht auf etwas gestoßen.«

»Okay, Schätzchen, schieß los, ich bin ganz Ohr.«

»Wenn ich vorher keinen Kaffee bekomme, werde ich dich beißen.«

Jacinthe hob die Augenbrauen und erwiderte in laszivem Ton:

»Tu dir keinen Zwang an.«

In die Fluten der Dunkelheit

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